Ich aber spreche von Mir, dem vergänglichen Ich
Dielmann, Axel (Verlag)
978-3-86638-431-6 (ISBN)
Norbert Abels ist Kulturwissenschaftler, Dramaturg, Publizist, Dozent, Musiker. Seit 1985 Gastdramaturg an zahlreichen internationalen Bühnen u.a. von 2003 bis 2011 bei den Bayreuther Festspielen. Von 1997 bis 2020 Chefdramaturg der Oper Frankfurt; verschiedene Zusammenarbeiten, so mit dem Kabuki-Theater Tokio. Als Professor unterrichtet er an der Folkwang Universität der Künste, als Dozent für Weltliteratur am mediacampus frankfurt sowie Kultur- und Theatergeschichte an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main sowie an der Goethe-Universität Frankfurt. Zahlreiche Bücher zur Kultur-, Literatur-, Schauspiel- und Musiktheatergeschichte. Seit 2006 ist Norbert Abels Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste.
Die hier erstmals publizierten Vorträge zum Ich-Begriff und zur Sprachskepsis hielt ich, jeweils modifiziert, im Rahmen von Ringvorlesungen und kulturgeschichtlichen Kollegien. Sie fanden in den zurückliegenden Jahren an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Frankfurt am Main (HFMDK), der Folkwang Universität der Künste in Essen und stark gekürzt im Wintersemester 2023/24 in der kunstwissenschaftlichen Fakultät der TU Dortmund statt. Ihre für ein philosophisch interessiertes, aber vorrangig interdisziplinär ausgerichtetes Auditorium gerichtete Diktion habe ich mit einigen Ausnahmen auch für den Druck beibehalten. Den ersten Impuls zur Beschäftigung mit Nietzsches Sprachkritik verdanke ich meinen akademischen Lehrern Norbert Altenhofer und Alfred Schmidt. Die Entdeckung der Ich-Kritik Machs vollzog sich in der Zeit der unvergessenen Gespräche mit meinem Kollegen Klaus Günther und – ebenso unvergessen – meinen Zusammenkünften mit Margarete Mitscherlich. – Ohne die bemerkenswerte Insistenz meines Verlegers Axel Dielmann wäre dieses Mach-Werk ungedruckt geblieben.
I. Vortrag (Anfang) 1904 veröffentlichte der österreichische Kritiker und Literat Hermann Bahr eine auch heute noch denkwürdige Schrift. Sie trug den Titel Dialog vom Tragischen und enthielt ein Kapitel mit der Überschrift Das unrettbare Ich. Bahr zitierte darin eine Daseinsformel des von ihm bewunderten Philosophen, Physikers und Sinnesphysiologen Ernst Mach, der sich eher als Naturforscher denn als Philosoph empfand. Dessen antimetaphysische und im besten Sinne populärwissenschaftliche Untersuchung Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen wurde 1886 erstmals publiziert. Die Wirkung dieses viele Auflagen erlangenden Buches auf die Zeitgenossen war ungeheuer und darin durchaus vergleichbar mit Otto Weiningers Geschlecht und Charakter oder Sigmund Freuds epochaler Traumdeutung. Vor allem den von der impressionistischen Ästhetik inspirierten Autoren des als Jung-Wien bezeichneten Kreises, darunter Richard Beer-Hofmann, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg, Felix Salten, Leopold von Andrian und Hugo von Hofmannsthal, geriet Machs Buch zur philosophischen Flankierung ihrer eigenen künstlerischen Intentionen. Intentionen allesamt, die der Behauptung absoluter Werte und absoluter Wahrheiten zutiefst misstrauten. Die Rezeption der ebenso systemfeindlichen Philosophie Nietzsches, seine genealogische, aller metaphysischen und ahistorischen Wertesetzung zersetzendende Methode, begleitete gleichfalls den Beginn dieser ästhetischen Moderne und der ihnen folgenden Avantgardebewegungen. Nietzsches Perspektivismus, seine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen steht der Mach’schen Philosophie der Empfindungskomplexe in mancherlei Beziehung sehr nahe. Bei Bahr wird dieser gemeinsame genealogische Ansatz in die heraklitische Variante Alles ist in ewiger Verwandlung – πάντα ῥεῖ – gefasst. Das Ding an sich gibt es, so Machs und Bahrs Ansatz, schlechterdings nicht. Es gibt nichts, was zurückbliebe, entfernte man die Farben, Töne, Wärmen und dergleichen von ihm. Von Bahr stammt auch die Idee einer Brücke zwischen dem Mach’schen Empiriokritizismus und dem in allen Kunstformen der Epoche auftretenden Impressionismus. Menschen, welchen der Zweifel an ewigen Wahrheiten nie gekommen sei, wären, so Bahr, unmöglich dazu befähigt, jene Kunst des festgehaltenen und flüchtigen Augenblicks nachzuvollziehen. Es gibt für den vom dialektischen Materialismus heftig kritisierten Empiriokritizismus keine richtigen oder falschen Meldungen der Sinne. Es gibt einzig jene unablässige Transformation des Seienden, die in der modernen Kognitionsforschung meist unter dem Titel Repräsentationen firmieren. Es existiert ebenso wenig hinter den wie auch immer trügerischen Erscheinungen kein Fluchtpunkt, der als transzendenter solider Kern dieser Erscheinungen und Empfindungen fungieren könnte. Arthur Schnitzlers später auch von Joyce adaptierte neue Technik des inneren Monologs, die gleichsam unbearbeitete Darstellung des Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstromes aus der Perspektive des die Welt erlebenden Menschen, gehört in gleicher Weise in den Raum solchen Sinnesperspektivismus. Längst haben die Hirn- und Bewusstseinsforschungen, ebenso die Cognitive Neuroscience neben David Hume auch Ernst Mach als Vater ihrer eigenen Analysen unserer Sinnessysteme entdeckt: Hier wird Bewusstsein als transitorische Innerlichkeit in der Zeit verstanden. Alles, was wir auch immer durchleben, geschieht innerhalb eines Jetzt. Dieses Jetzt als gegenwärtiger Augenblick, der schon in seinem Vollzug zur Vergangenheit wird, besitzt als Substrat keine unveränderliche Instanz, kein konsistentes Ich. Der Begriff eines Subjekts, zumal eines absoluten und autonomen, ist für Mach nichts als eine notwendig erscheinende denkökonomische Konstruktion. Nach Ernst Machs Elemententheorie sind uns von den Körpern Sinnesinhalte, von ihnen ausgelöste Empfindungen, gegeben. Die Außenwelt, welche die psychisch-physische Konzeption als klare Demarkationslinie zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr aufrechterhalten will, und das fragile Ich sind durch eine unbegrenzte Zirkulation und Infiltration von Farben, Tönen, Wärmen, Räumen und Drücken in unaufhörlicher Korrespondenz miteinander. Dass dennoch die Annahme von andauernden Dingen statuiert wird, liegt lediglich an dem Bedürfnis nach Kategorisierung bestimmter Elementengruppen. Sie ist notwendig, damit „in dem Gewoge der Empfindungen die Summen der bleibenden Glieder gegenüber den veränderlichen, namentlich wenn wir auf die Stetigkeit des Übergangs achten, immer so groß ist, dass sie uns zur Anerkennung des Körpers als desselben genügend erscheint“. (1) Die Annahme einer Außenwelt, einer Dingwelt resultiert aus dem gleichen denkökonomischen Grund wie die Statuierung eines Naturgesetzes oder die Unterstellung eines autonomen Ichs. Die gesamte materielle Welt wird aufgelöst in Elemente, die ihrer sinnlich-psychischen Herkunft wegen auch mit gleicher Bedeutung als Empfindungen bzw. Empfindungskomplexe zu verstehen sind. Erkenntnisziel wäre es – im gleichsam phänomenologischen Sinn –, „die Erforschung der Verbindung, des Zusammenhanges, der gegenseitigen Abhängigkeit dieser gleichartigen Elemente aller Gebiete als die einzige Aufgabe der Wissenschaft anzusehen“. (2) Dies ist Mach zufolge jene, die endgültige Entfernung des „anachronistischen” Dualismus zwischen Subjekt und Objekt aufhebende Theorie eines einheitlichen monistischen Baus. Konsequent in seiner Weitreichigkeit radikalisiert, navigiert diese Vorstellung in den Raum des Solipsismus und damit in die Gewissheit, dass die Welt nur meine Vorstellung sein kann. Mach hat sich in seiner Elemententheorie mehrfach auf Hume bezogen, dessen Treatise of human understanding zu dem Schluss gelangte, dass alles, was uns jemals bewusst sein kann, Perzeptionen (perceptions) sind und dass es keinen einzigen Eindruck geben kann, der Konstanz und Identität in sich zu bergen vermag, denn die Wahrnehmungen folgen einander im zeitlichen Fluss und existieren niemals simultan. Alles wahrgenommene Außen ist ein Konstrukt der Wahrnehmung, das Ich nichts anderes als ein transitorisches Perzeptionsbündel. Mach übernimmt, bisweilen explizit auf Hume verweisend, diese Grundannahme und flankiert sie mit den mannigfaltigsten sinnesphysiologischen Analysen. Das Seiende ist exklusiv als Empfindung zu denken, welcher nichts Empfindungsloses mehr zu Grunde liegt. Richard Avenarius, neben Mach der zweite maßgebliche Repräsentant des empiriokritizistischen und psychophysischen Monismus, worin alle Erkenntnisakte genuin psychologische Akte sind und der Weltinhalt auf subjektiven Vorstellungen fußt, bekräftigt diese Annahme gleichfalls. Einzig Sinneserfahrungen ist das Wirklichkeitsattribut zuzuerkennen. Denkinhalte erklärt Avenarius zu Scheinbegriffen, denen anstelle einer nicht existierenden Wahrheit nur ein provisorischer Nützlichkeitswert eignet. Die Hypostasierungen aller Fiktionen einer grundlegenden Substanz wurzeln nicht zuletzt in den denkökonomischen Implikationen der Sprachentwickelung, nicht aber in einem real außer uns befindlichen Raum. Es zeigt auch der Ich-Begriff eine nur noch fiktionalisierende Konzession an die Allgemeinsprache an. Zwischen dem Ich und dem Ding herrscht keine Differenz, beide Instanzen erweisen sich als Elementenkomplexe. Das Ich ist eine logische Konsequenz der Elimination des Metaphysischen, es ist nur ein Wort. – Die cartesianische Inthronisation dieses Ich als ein gleichsam souveränes Subjekt von Gedanken fällt damit dem metaphysischen Illusionismus anheim. Descartes substanzdualistische Setzung von geistiger res cogitans und materieller res extensa – substantia cogitans versus substantia corporea –, sein Wahrheitsbeweis aus dem bloßen Deduktionsschluss, Sinnestäuschungen erkennen zu können, kann in einer empirisch ausgerichteten Sinnesphysiologie keine Geltung mehr beanspruchen. Sie ist, wie Ernst Cassirer es einmal auf den Punkt brachte, der strikte Gegenpol der psychophysischen Erkenntnismethode Ernst Machs, der das Suchen nach letzten Erklärungsgründen entschieden ablehne und vielmehr die exakte Beschreibung des Phänomens betreibe.
I. Vortrag (Anfang)1904 veroffentlichte der osterreichische Kritiker und Literat Hermann Bahr eine auch heute noch denkwürdige Schrift. Sie trug den Titel Dialog vom Tragischen und enthielt ein Kapitel mit der Uberschrift Das unrettbare Ich. Bahr zitierte darin eine Daseinsformel des von ihm bewunderten Philosophen, Physikers und Sinnesphysiologen Ernst Mach, der sich eher als Naturforscher denn als Philosoph empfand. Dessen antimetaphysische und im besten Sinne popularwissenschaftliche Untersuchung Die Analyse der Empfindungen und das Verhaltnis des Physischen zum Psychischen wurde 1886 erstmals publiziert. Die Wirkung dieses viele Auflagen erlangenden Buches auf die Zeitgenossen war ungeheuer und darin durchaus vergleichbar mit Otto Weiningers Geschlecht und Charakter oder Sigmund Freuds epochaler Traumdeutung.Vor allem den von der impressionistischen Ästhetik inspirierten Autoren des als Jung-Wien bezeichneten Kreises, darunter Richard Beer-Hofmann, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg, Felix Salten, Leopold von Andrian und Hugo von Hofmannsthal, geriet Machs Buch zur philosophischen Flankierung ihrer eigenen künstlerischen Intentionen. Intentionen allesamt, die der Behauptung absoluter Werte und absoluter Wahrheiten zutiefst misstrauten. Die Rezeption der ebenso systemfeindlichen Philosophie Nietzsches, seine genealogische, aller metaphysischen und ahistorischen Wertesetzung zersetzendende Methode, begleitete gleichfalls den Beginn dieser asthetischen Moderne und der ihnen folgenden Avantgardebewegungen. Nietzsches Perspektivismus, seine Chemie der moralischen, religiosen, asthetischen Vorstellungen und Empfindungen steht der Mach'schen Philosophie der Empfindungskomplexe in mancherlei Beziehung sehr nahe. Bei Bahr wird dieser gemeinsame genealogische Ansatz in die heraklitische Variante Alles ist in ewiger Verwandlung - pi ni - gefasst.Das Ding an sich gibt es, so Machs und Bahrs Ansatz, schlechterdings nicht. Es gibt nichts, was zurückbliebe, entfernte man die Farben, Tone, Warmen und dergleichen von ihm.Von Bahr stammt auch die Idee einer Brücke zwischen dem Mach'schen Empiriokritizismus und dem in allen Kunstformen der Epoche auftretenden Impressionismus. Menschen, welchen der Zweifel an ewigen Wahrheiten nie gekommen sei, waren, so Bahr, unmoglich dazu befahigt, jene Kunst des festgehaltenen und flüchtigen Augenblicks nachzuvollziehen. Es gibt für den vom dialektischen Materialismus heftig kritisierten Empiriokritizismus keine richtigen oder falschen Meldungen der Sinne. Es gibt einzig jene unablassige Transformation des Seienden, die in der modernen Kognitionsforschung meist unter dem Titel Reprasentationen firmieren. Es existiert ebenso wenig hinter den wie auch immer trügerischen Erscheinungen kein Fluchtpunkt, der als transzendenter solider Kern dieser Erscheinungen und Empfindungen fungieren konnte. Arthur Schnitzlers spater auch von Joyce adaptierte neue Technik des inneren Monologs, die gleichsam unbearbeitete Darstellung des Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstromes aus der Perspektive des die Welt erlebenden Menschen, gehort in gleicher Weise in den Raum solchen Sinnesperspektivismus.Langst haben die Hirn- und Bewusstseinsforschungen, ebenso die Cognitive Neuroscience neben David Hume auch Ernst Mach als Vater ihrer eigenen Analysen unserer Sinnessysteme entdeckt: Hier wird Bewusstsein als transitorische Innerlichkeit in der Zeit verstanden. Alles, was wir auch immer durchleben, geschieht innerhalb eines Jetzt. Dieses Jetzt als gegenwartiger Augenblick, der schon in seinem Vollzug zur Vergangenheit wird, besitzt als Substrat keine unveranderliche Instanz, kein konsistentes Ich. Der Begriff eines Subjekts, zumal eines absoluten und autonomen, ist für Mach nichts als eine notwendig erscheinende denkokonomische Konstruktion. Nach Ernst Machs Elemententheorie sind uns von den Korpern Sinnesinhalte, von ihnen ausgeloste Empfindungen, gegeben. Die Außenwelt, welche die psychisch-physische Konzeption als klare
Erscheinungsdatum | 23.07.2024 |
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Zusatzinfo | Portraits von Nietzsche und Mach |
Verlagsort | Frankfurt am Main - Niederrad |
Sprache | deutsch |
Maße | 135 x 220 mm |
Gewicht | 120 g |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Kunst / Musik / Theater ► Allgemeines / Lexika | |
Schlagworte | Alfred Schmidt • Apologetik • Apperzeption • Bewusstseinsinhalte • Buddenbrooks • Einverleibung • Entfremdungsmechanismen • Erkenntnisgegenstand • Ernst Mach • Friedrich Nietzsche • Georg v. Wergenthin • Hegel • Hochschule für Musik und darstellende Kunst Frankfurt am Main (HFMDK) • Hofmannsthal • Jung-Wien • Jürgen Habermas • klassischen Physik • Koinzidenz • Kontinuum • Kultur • kunstwissenschaftlichen Fakultät der TU Dortmund • Lebensphilosophie • Lord Chandos Brief • Malte Laurids Brigge • Max Stirner • Metaphysik • Monismus • Naturwissenschaft • Niels Lyhne • Norbert Altenhofer • Personlichkeit • Persönlichkeit • Perspektivismus • Phänomenalismus • Quantentheorie • Richard Beer-Hofmann • Schopenhauer • Schuldbewusstsein • Solipsismus • Theorem der Unrettbarkeit des Ich • Traumdeutung • Treibhausatmosphare • Treibhausatmosphäre • Unzeitgemaße Betrachtungen • Unzeitgemäße Betrachtungen • Virginia Woolf • Weltordnung • wertekritischen Perspektivismus |
ISBN-10 | 3-86638-431-9 / 3866384319 |
ISBN-13 | 978-3-86638-431-6 / 9783866384316 |
Zustand | Neuware |
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