Studio Culture (eBook)
232 Seiten
DÜSSELDORF UNIVERSITY PRESS (Verlag)
978-3-11-103717-2 (ISBN)
Innerhalb einer akustisch konfigurierten Architektur sind Audiotechnologien im Tonstudio zu einem komplexen Medienverbund verschaltet und bilden die apparative Struktur eines sound-ästhetischen Dispositivs. Maßgeblich in der Popkultur hat sich hier eine Fetischisierung des Soundmaterials und damit gleichzeitig auch der Apparate selbst entwickelt. Ästhetische Idealvorstellungen richten sich so auf ein (sonisches) Objektbegehren, das in Verbindung mit der Raumlogik der Produktionsorte oft eine eigene Semantik erzeugt. Ziel dieser Untersuchung ist es daher, das Tonstudio als einen durch die Struktur des Mediendispositivs bedingten Aktionsraum und Repräsentation einer klangkulturellen Ordnung zu verstehen. Dabei wird speziell nach Räumen gefragt, die das Studio als Tonfabrik und damit auch etablierte Machtarchitektur zu überwinden versuchen. Daran lässt sich eine zunehmende Demokratisierung erkennen, die mit der Eroberung des Produktionsraums und der Selbstermächtigung über den Sound des eigenen Werkes durch den Musiker zusammenfällt. Dementsprechend löst sich die Architektur des Tonstudios von einer Ästhetik der Industriegesellschaft ab und erscheint nunmehr im Zeichen einer durch Flexibilität markierten neoliberalen Ökonomisierung.
Tomy Brautschek, Institut für Medien- und Kulturwissenschaft, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Deutschland.
1 Studiomusik ist Medienmusik – eine Einleitung
„Der Mensch, das Original, ist vergessen. Der Mechanismus der Wiedergabe hat ihn ausgelöscht und stellt eigene Bedingungen. Wie entkommt man diesem Unsinn“ (Schnabel, zit. nach Gauß 2009, S. 190), fragte der Konzertpianist Artur Schnabel in Auseinandersetzung mit seinen Einspielungen der Beethoven-Sonaten, die er ab 1932 für das Unternehmen His Master’s Voice anfertigte (ebd., S. 189). Das Verfahren der Schallaufnahme und die technische Reproduktion sind für den Instrumentalisten einst zu einer Belastungsprobe geworden. Rigoros erfasste eine akustische Medienmaschine jede vermeintliche Schwachstelle in Schnabels Spiel, zeichnete sie auf und wiederholte die bemängelten Klavierpassagen beliebig oft. Infolgedessen überkamen den Musiker Selbstzweifel. Schließlich mutierte der Anspruch an sein künstlerisches Selbst im Medium der Tonaufnahme zum Optimierungsdruck, an dem er zu scheitern drohte. Der Produktionsort wurde dabei von den medialen Voraussetzungen des Reproduktionsmechanismus bestimmt, dem er zu entkommen erhoffte.
Mit der Erfindung des Phonographen durch Thomas Alva Edison im Jahre 1877 kann die Musikgeschichte als eine ihrer technischen (Re-)Produktionsmedien gelesen werden. Schallspeicher- und Wiedergabeapparate bedingen neue Formen der Klangerzeugung und binden zunehmend musikalische an medientechnische Praktiken. Die Audioaufnahme bildet zugleich die mediale Voraussetzung einer neuen Hör- und Klangkultur, da sie Musik mobilisiert und so ihre singuläre Aufführungslogik überwindet. Das Konzertereignis dringt über Tonträger in den privaten Wohnraum ein, etabliert neue Rezeptions- und Produktionsweisen und führt so zu einer neuen kulturellen Ordnung. Mit dieser medialen Zäsur entstehen gleichzeitig neue Fabrikationsstätten, denen entlang einer technologischen Entwicklungsgeschichte jeweils spezifische Raumkonzepte vorausgehen. Diese Einrichtungen zur Speicherung und Bearbeitung von Schallereignissen können sowohl als kulturindustrielle Fertigungsanlagen dienen als auch Orte einer subversiven Klangavantgarde darstellen. Damit erzeugt das Tonstudio ein Spannungsfeld, das vor allem konstitutiv für die Soundästhetik der Popkultur wird.
Im Aufnahmeverfahren der Beethoven-Sonaten mit Artur Schnabel erscheint das Tonstudio nun als der Repräsentationsraum einer existentiellen Künstlerkrise. Damit wird ein Erfahrungsmuster reflektiert, das, so die hier vertretene These, unmittelbar mit dem Setting, also der räumlichen und technischen Konfiguration zusammenhängt. Das Studio wirkt hier im Zeichen eines technologischen Determinismus und eröffnet einen Machtraum, in dem der Künstler als Unterwerfungsfigur operiert. Die Medienmaschine fordert dabei seine Anpassung an die Gesetzmäßigkeiten seiner Funktionalität ein. Nicht mehr der Musiker selbst ist der Souverän auf der Darbietungsfläche, sondern der Apparat und mit ihm seine raumakustisch vom Aufnahmebereich isolierten Operateure: die (Elektro-)Ingenieure und Produzenten. Damit scheint sich eine Hierarchieebene über die Raumordnung herzustellen, die wesentlich von der Medientechnik und der Akustik strukturiert wird. Das Studio lässt sich demnach auch als Machtarchitektur verstehen, die subjektive Autonomie und Dependenz gleichermaßen symbolisiert, wie sie diese auch hervorbringt. So werden etwa in den Kontrollräumen vor den Abhöranlagen interne Kommunikationsprozesse gesteuert, denen der Künstler vollständig ausgeliefert ist. Die Mikrophone, die wie akustische Brenngläser jede Regung einfangen, verstärken entsprechend ihrer Medienfunktion diese Machtverhältnisse.
Natürlich ist die Geschichte der Tonstudiokultur nicht ausschließlich eine von Herrschaftspraktiken und hierarchisierten Systemen, die Künstlersubjekte in Selbstzweifel stürzen. Dies zeigt etwa die folgende Inszenierung einer Erfolgsgeschichte aus der Blickposition der Tonregie: In der Halbzeitshow des Super Bowl in Los Angeles performten am 13. Februar 2022 die Rapper Snoop Dogg, 50 Cent, Kendrick Lamar, Eminem sowie die Sängerin Mary J. Blidge unter der Direktive des Starproduzenten Dr. Dre. Ein Teil des Bühnenbilds ist dabei als Studioraum gestaltet, wo Dr. Dre vor einem mehrere Meter langen Mischpult und zwei Monitorboxen posiert. Sein Blick richtet sich auf einen mit Akustikmodulen ausgestatteten Aufnahmeraum. Während der Live-Performance verdreht und verschiebt er die Regelzustände der Konsole. Die Apparatur steht auf dem Dach einer Häuserkulisse nach dem Vorbild des amerikanischen Vorortes Compton.
Der Auftritt ist eine biographische Inszenierung und symbolisiert den Aufstieg des André Romelle Young (alias Dr. Dre) und seiner Protegés. Young, der Mitte der 1980er Jahre in Compton noch sein Schlafzimmer als Klanglabor nutzte und Soundsamples mit synthetischen Beats unterlegte (Howard 2004, S. 278), ist nun ‚ganz oben‘ (auf dem Dach) angekommen. Der Auftritt, der auch als ein Statement für Diversität und als ein Protest gegen Rassismus gedeutet werden kann, repräsentiert aber zugleich den Siegeszug des Tonstudios in der Musikgeschichte.
Im kulturhistorischen Direktvergleich trennen beide hier eingeführte Studioszenerien offenkundig ganze Welten. Zwischen ihnen liegen rund 90 Jahre Medienkulturgeschichte und damit auch ein gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozess. In der Musik stellt der Mediengebrauch mittlerweile eine kulturimmanente Praktik dar. Tonaufnahmefunktionen gehören heute zum Standardsetup mobiler Endgeräte, und Musikproduktionen werden über eine entsprechende Software auch für den Laien intuitiv handhabbar. So wird etwa durch Audiosampling – eine Kulturtechnik, die konstitutiv für Dr. Dres ästhetisches Klangkonzept ist – Originalität auch in einem ganz anderen Kontext verhandelt, als es bei Artur Schnabel noch der Fall war. Hierbei geht es nicht um Klangtreue,1 sondern um Urheberrechte und kreative Eigenleistungen. Es geht auch nicht darum, das instrumentale Spiel den medialen Anforderungen des Apparates unterzuordnen, sondern die Apparatur selbst als Gestaltungsmittel zu interpretieren, um sich etwa klangliches Fremdmaterial fragmentarisch anzueignen und soundästhetisch zu rekombinieren. So lässt sich die Entwicklungsgeschichte der Tonstudiokultur in dieser Gegenüberstellung als eine Fluchtlinie aus der „Folterkammer“ (Gauß 2009, S. 189) lesen, die Artur Schnabel seinerzeit in die Künstlerkrise stürzte. Dr. Dre hingegen deutet das Studio als Instrument,2 während Sampling eine seiner Kompositionstechniken darstellt. Vor dem Hintergrund des Super Bowl-Auftritts wirkt dies wie eine Ermächtigungsgeste und repräsentiert sowohl den globalen Aufstieg der Hip-Hop-Kultur wie auch die Produktionspraktiken des Tonstudios als eigenständige Kunstform.
Dies ist natürlich keine Individualleistung einer populären Kultur, sondern verdankt sich auch der Experimentierfreude von Vertretern der klassischen Musik. Der berühmte Bach-Interpret Glenn Gould verkörpert z. B. solch eine Figur mit einer besonders ausgeprägten Studioaffinität. Mitte der 1960er Jahre kehrte Gould, wie auch die Beatles, dem Konzertwesen den Rücken, um sich vollständig der Studioarbeit zu widmen. Dabei nutzte er aktiv die medientechnischen Systeme, wie das Tonband, Mikrophone oder das Mischpult, als Werkzeuge zur Realisierung seiner Klangvisionen. Dabei werden Goulds Bestrebungen stets von ästhetischen Eroberungskämpfen angetrieben, denn er sieht den Künstler „sabotiert durch einen unterwürfigen Umgang mit dem Mikro, der uns bestenfalls ein halbes Ohr vom Gipfel der Götter zugesteht“ (Gould 1992, S. 133). Er personifiziert dadurch einen im Tonstudio emanzipierten Musikertypus und nimmt sich selbst als „Techniker-Künstler“ (ebd., S. 150) oder auch „Cutter-Interpreten“ (ebd., S. 151) wahr. Innerhalb der Tonaufnahmekomposition begreift Gould die akustischen Speicher- und Übertragungsmedien als Klangkonfiguratoren und erkennt ihr ästhetisches Potential, worüber auch (nur) er (allein) verfügen will:
„Autokratie“ also, als Beschreibung des Kompositionsprozesses im elektronischen Zeitalter, mag einfach die Möglichkeit andeuten, daß der Komponist in gewissem Maße in jedes Verfahren einbezogen wird, durch das seine Intention in Klang ausgedrückt wird. (Ebd., S. 150)
In diesem selbstbestimmten Umgang mit der Tontechnik erkennt Gould wesentlich auch den architektonischen Raum als produktives Element der Tonaufnahme. So sieht er durch die „analytische Kapazität der Mikrophone“ (ebd., S. 134) ein Stück weit die „akustischen Beschränkungen des Konzertsaals“ (ebd.) überwunden. Mit der Medientechnik macht sich Gould die Raumakustik künstlerisch zu eigen, indem er z. B. mit den Positionen der Mikrophone spielt und in der Nachbearbeitung unterschiedliche Hörperspektiven vermischt. Durch die Übertragungsmedien der Mikrophonie können Klavieranschläge somit gleichzeitig aus der Nähe und der Tiefe des Raums abgehört werden. Es entstehen akustische Paradoxien, die zum ästhetischen Mittel der Produktion werden. Während der musikalischen Darbietung stehen die ‚Medienohren‘ immer in einem individuellen Resonanzverhältnis mit der Architektur und der Schallquelle. Die erzeugten Nachhallzeiten des von den Raumflächen reflektierten Schalls liefern dabei präzise akustische Informationen über die architektonische Beschaffenheit. Helga de la Motte-Haber versteht in diesem Zusammenhang auch den „Raum als ein Medium […], das eine Botschaft enthält“ (De la Motte-Haber 2014, S. 47—62.) Im Tonstudio...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Musik |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Technik | |
ISBN-10 | 3-11-103717-7 / 3111037177 |
ISBN-13 | 978-3-11-103717-2 / 9783111037172 |
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