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Michael Diers -  Michael Diers

Michael Diers (eBook)

Gegen den Strich. Die Kunst und ihre politischen Formen

(Autor)

Michael Diers (Text von)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
248 Seiten
Hatje Cantz Verlag
978-3-7757-5440-8 (ISBN)
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Gegen den Strich. Die Kunst und ihre politischen Formen handelt von wegweisenden künstlerischen Projekten, die in den vergangenen Jahren aktuelle gesellschaftliche Themen aufgegriffen und dabei teils heftige Kontroversen ausgelöst haben - oder zumindest missverstanden worden sind. Ziel der Untersuchung in Form exemplarischer Analysen ist es, die verbleibenden Freiräume und Qualitäten der politischen Kunst der Gegenwart auszuloten, die mehr und mehr von Identitätspolitik, Cancel Culture und Zensur geprägt ist. In elf Kapiteln werden Werke von Lothar Baumgarten, Christoph Büchel, Sam Durant, Gelitin, David Hammons, Thomas Hirschhorn, Taring Padi, Wermke/Leinkauf, Mark Wallinger und dem Zentrum für Politische Schönheit diskutiert. Sie repräsentieren das breite Spektrum einer Kunst, die sich kritisch einmischt und sich nicht mit Selbstbezüglichkeit oder Dekoration zufriedengibt. Eine ebenso gründliche wie scharfsinnige Studie zur politischen Ikonografie der Gegenwart. MICHAEL DIERS gehört zu den profiliertesten deutschen Kunsthistorikern und Hochschullehrern. Als Autor und Herausgeber hat er umfangreich zur Geschichte und Theorie der Kunst und des Bildes sowie zur politischen Ikonografie publiziert. Er ist Mitherausgeber der Gesammelten Schriften Aby Warburgs.

Abdeckung
Halbtitelseite
Titelblatt
Inhalt
»KUNST POLITISCH MACHEN« – Ein Vorwort
DIE VITRINE – David Hammons, »Untitled (Hidden from view)« und Lothar Baumgarten, »Unsettled Objects« oder Show Case Studies
DER BALKON – Gelatin, »The B-Thing« oder Mit dem Kopf durch die Wand
DER ZAUN – Mark Wallinger, »State Britain« oder Im Bannkreis der Kunst
DIE BRÜCKE – Wermke/Leinkauf, »White American Flags« oder Kunstalarm in New York
DER BAU – Christoph Büchel, »The Mosque« oder Ein Bethaus für Gott (und die Kunst)
DER KÄFIG – Versuch über das Zentrum für Politische Schönheit und die eine oder andere Grenzüberschreitung
DAS GERÜST – Sam Durant, »Scaffold« oder Erinnerung an ein zerstörtes Kunstwerk
DIE MAUER – Christoph Büchel, »Prototypes« oder »Build it big, build it beautiful!«
DAS BOOT – Christoph Büchel, »Barca Nostra« oder Schiffbruch mit Zuschauern
DAS TRÜMMERFELD – Ruine (und Torso) bei Thomas Demand und Thomas Hirschhorn
DAS BANNER– Der Streit um das Tuchbild »People's Justice« von Taring Padi auf der »documenta fifteen«
Anmerkungen
Bildnachweis
Dank
Impressum

DIE VITRINE

David Hammons, »Untitled (Hidden from view)« und Lothar Baumgarten, »Unsettled Objects« oder Show Case Studies

»Outrageously magical things happen when you mess around with a symbol.«

— David Hammons im Gespräch mit Laura Hoptman1

I

Auf dem Weg zum Büro des Direktors der Galerie Hauser & Wirth in Los Angeles passierte der Besucher am Ende eines langen Flures auch eine hochschlanke Vitrine, die aus einem hellen Holzsockel und einem Plexiglassturz bestand und offensichtlich leer war [Abb. 1]. Auf die launig gemeinte Frage des Gastes, ob dem Haus vielleicht die Ausstellungsobjekte ausgegangen seien, entgegnete der Galeriechef leicht süffisant: »Da müssen Sie schon etwas genauer hinsehen. Gehen Sie bitte mal in die Knie oder beugen Sie sich einfach nach unten.« Gesagt, getan. Tatsächlich konnte man jetzt einen größeren Spalt zwischen dem unteren Ende des Holzsockels und dem Boden sehen und in dieser Aussparung ließen sich in der Schattenzone zwei ebenholzschwarze Füße einer offenbar afrikanischen Skulptur erkennen. »Sehen Sie, nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint«, meinte der Galerist und setzte erläuternd hinzu: »Es handelt sich um eine Arbeit von David Hammons, ein afroamerikanischer Künstler, den Sie vielleicht kennen. Der Titel der Skulptur lautet »Untitled (Hidden from view)«. Sie stammt aus dem Jahr 2002.«2 Ein wenig peinlich berührt versuchte der Besucher, die Scharte seiner Tollpatschigkeit auszuwetzen, indem er beflissen betonte, es handle sich um eine vorzügliche Arbeit, die mit der Erwartung des Betrachters spiele. Aus Enttäuschung werde in dialektischer Wendung Überraschung.3

Die geschilderte Begebenheit wäre unbedeutend, lenkte sie nicht unmittelbar auf einige aktuelle und grundlegende Fragen.4 Denn einerseits führt sie exemplarisch in ein Kunstwerk ein, das die übliche Vorstellung eines Ausstellungsgegenstandes düpiert und darüber hinaus den Betrachter in seinem geläufigen kennerschaftlichen Selbstverständnis irritiert, ja mehr noch provoziert, indem es ihn auf ebenso ernsthafte wie spielerische Weise mit Fragen jener zwei Kulturen konfrontiert, die hier im Clash miteinander liegen. Kurz gefasst ließe sich von dem Kontrast zwischen der sogenannten westlichen Hochkunst und der traditionellen afrikanischen (»Stammes«-)Kunst sprechen, zwei Begriffe, deren Differenz in den vergangenen Jahrzehnten im Zeichen des Postkolonialismus heftig diskutiert worden ist. Andererseits leitet das zitierte Gespräch zugleich zu der Frage über, inwiefern die bildende Kunst den intellektuellen und wissenschaftlichen Debatten vielfach nicht nur vorausläuft, sondern vor allem auch Positionen beisteuert, welche die gewohnten Diskurse bisweilen in ihren Ergebnissen übertreffen. Die Hammons-Skulptur steht beispielhaft für die Befragung oder, noch grundsätzlicher, auch für die Infragestellung eines (Museums-)Systems, das völlig heterogene Dinge in und durch seine Vitrinen ohne Ansehen ihrer historischen und kulturellen Spezifität gleichschaltet und durch die Einschließung in einen Schaukasten mit der Aura westlicher Kunst ausstattet. Auf diese Weise werden die Objekte ihrer Identität beraubt und oft genug verfremdet. Insofern ist durch die Zeige-Verweigerung der Umsturz-Skulptur »Hidden from view« eine ikonoklastische Geste inhärent.

1 David Hammons, Untitled (Hidden from view), 2002, Holzstatuette unter Vitrinensockel, 163,5 × 40,5 × 40,5 cm

David Hammons (geb. 1943) hat sich seit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn mit den Institutionen und Instanzen der bildenden Kunst kritisch auseinandergesetzt. Viele seiner frühen Werke sind verloren, weil sie in Form von Straßenaktionen stattgefunden oder als ephemere Installationen nichts Handgreifliches, zum Teil nicht einmal Bilddokumente hinterlassen haben. Erst spät, das heißt ab den 1990er Jahren, haben seine Arbeiten, darunter Skulpturen, Gemälde, Fotografien und Videos, allmählich den Weg in eine Galerie oder ins Museum gefunden. Entscheidend durch die Bürgerrechtsbewegung beeinflusst, werfen die Werke des Künstlers vielfach politische und soziale Fragen auf, nicht selten von humorvollen, ironischen oder auch sarkastischen Untertönen begleitet. Und folglich war auch der Eintritt in den White Cube und das Museum für Hammons nicht ohne Kritik der Institution mittels Kunst möglich. Diese Skepsis und Distanznahme zeichnet unausgesprochen auch »Hidden from view« aus. In einem Gespräch hat Hammons sich aber auch explizit, zum Beispiel über das Kunstpublikum (und damit zugleich über die zugehörigen Institutionen) und seine Zweifel daran ausgelassen: »The art audience is the worst audience in the world. It’s overly educated, it’s conservative, it’s put to criticism, not to understand and it never has any fun! Why should I spend my time playing to that audience? That’s like going into lion’s den. So I refuse to deal with that audience. I will play with the street audience. That audience is much more human, and their opinion is from the heart.«5 Fast eineinhalb Jahrzehnte später führt »Hidden from view« besagtes Publikum dann auch an der Nase herum, um ihm eine Lektion in Sachen Kunst und Kunstverständnis zu erteilen.

2 Hammons, Untitled (wie Abb. 1); die in der Skulptur weitgehend verborgene Holzstatuette

Mit relativ schlichten Mitteln, eigentlich nur mit einem Trick, stellt Hammons’ Skulptur einige gewohnte museale (Re-)Präsentationskonzepte kurzerhand auf den Kopf, richtiger, vom Kopf wieder auf die Füße, sprich auf den Boden kulturhistorisch heikler Tatsachen. Indem die afrikanische Skulptur der Gattung Airport Art oder Souvenirkunst [Abb. 2] ihren Platz in der Vitrine verlässt, um weitgehend im hohlen Bauch des Sockels zu verschwinden, wird sie dem Blick entzogen und vor den Betrachtern in Sicherheit gebracht. Zurück bleibt der leere Schaukasten, der sich nurmehr selbst ausstellt und dadurch seine Bestimmung verfehlt. Der üblicherweise leere Sockel hingegen wird gefüllt und zum Versteck für eine Skulptur, von der wir nicht mehr erfahren, als der Bodenschlitz und der zugehörige Schatten preisgeben. Doch dieser Spalt genügt bereits, um beim westlichen Betrachter die geläufigen Assoziationen in Bezug auf »afrikanische Plastik« ins Kraut schießen zu lassen – Kitsch oder Trödel. Aber dieser Aspekt steht nicht einmal im Zentrum der Installation. Sie zielt vielmehr ebenso grundsätzlich wie kritisch auf den Umgang des Westens mit der Kunst eines anderen, fremden Kontinents ab, das heißt auf deren ebenso unbedachte wie unbeholfene Aneignung und Zurschaustellung.6

Die Vitrine samt Sockel, mit deren Form, Funktion und Bedeutung Hammons spielt, ist bekanntlich ein altes Instrument und Medium der Aufbewahrung und des Herzeigens wertvoller, schützenswerter Gegenstände.7 Von der Kunst- und Wunderkammer der Frühen Neuzeit, wo sie im türverglasten Schrank ihren Vorläufer besitzt, wanderte sie schließlich technisch fortentwickelt als Pult-, Schrank- oder Standvitrine ins moderne Museum sowie in die Galerien und Privatsammlungen. Als Statusmöbel der Repräsentation nobilitiert sie bereits aus sich heraus jeglichen dort abgelegten Gegenstand.8 Das Material (Acryl-)Glas als substantieller Bestandteil eines Schaukastens verleiht den Objekten äußeren Glanz, suggeriert wie das Schaufenster eines Warenhauses Nähe und gewährleistet zugleich Distanz. Und auch die Fragilität des Materials gebietet bereits Vorsicht und Respekt. Eine unmittelbare Handhabe, sei es zur Prüfung, sei es als Akt der Wertschätzung, ist nicht möglich. Allein das Auge, nicht die Hand regiert im skopischen Reich der Vitrine.9

Im Fall von Hammons ist der gewöhnlich im Mittelpunkt stehende Gegenstand dem Blick entzogen. Das System Vitrine als Sichtschrank ist kaltgestellt, weil sich das Schauobjekt ins Verborgene und Dunkle geflüchtet oder gerettet hat. Dort jedoch fungiert die figürliche Plastik als eine Art Karyatide, welche die Vitrine auf ihren Schultern beziehungsweise auf dem Kopf balanciert. Indem der Vitrine aber auch ganz praktisch Beine gemacht werden, wird sie beinahe in eine anthropomorphe Figur verwandelt. Diese Metamorphose macht aus einem Möbel eine (Märchen-)Gestalt – eine Kiste auf nackten dunklen Füßen, die aus der Distanz betrachtet einem Automaten oder Roboter ähnelt. Der berühmte Schachautomat (»Schachtürke«) des Barons Wolfgang von Kempelen, in dessen Innerem sich ein kleinwüchsiger Mensch verbarg, um dort unerkannt die gebotenen Spielzüge auszuführen, könnte einem in den Sinn kommen.10

Doch David Hammons wird es weniger um die europäische Kunst- und Kulturgeschichte als vielmehr um eine ebenso ernsthafte wie gewitzte Auseinandersetzung mit dem Zusammenstoß zweier Welten gegangen sein – auf der einen Seite das hegemoniale System des Westens, das sich mit seinen eigenen Mythen einen kulturellen Reim auf den Kontinent Afrika macht, und auf der anderen Seite die durch den Kolonialismus gebeutelten und vielfach sträflich missverstandenen Kulturen der sogenannten Dritten Welt, die durch die christlich-politische Missionierung der Europäer heimgesucht und ausgebeutet worden sind. Hammons bündelt in seiner Skulptur anschaulich zahlreiche Fragen zum Thema Kolonialismus. Was zum Beispiel bedeutet es, wenn Objekte einer fremden Kultur der eigenen wie Trophäen einverleibt werden? Was heißt es, diese Gegenstände den angestammten Orten und Nutzern zu entziehen, sie ins Ausland zu transportieren und...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2023
Reihe/Serie Hatje Cantz Text
Mitarbeit Designer: Neil Holt
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Allgemeines / Lexika
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte David Hammons • HFBK • Hochschule für bildende Künste Hamburg • Humboldt-Universität zu Berlin • Mark Wallinger • Michael Diers • Politiische Kunst • Sam Durant • Zeitgenösische Kunst • Zentrum für politische Schönheit
ISBN-10 3-7757-5440-7 / 3775754407
ISBN-13 978-3-7757-5440-8 / 9783775754408
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