Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de
202 gedichte - Dirk Uwe Hansen

202 gedichte

Sonderausgabe

(Autor)

Buch
320 Seiten | Ausstattung: Buch & Softcover
2022
gutleut verlag
978-3-948107-42-0 (ISBN)
CHF 119,95 inkl. MwSt
Ein gemeinsamer langer Spaziergang an der Küste in einer Symposiumspause 2015 markiert den Anfang einer engen Zusammenarbeit zwischen Autor, Künstler und Verleger, zwischen Dirk Uwe Hansen und Michael Wagener.
Seitdem sind die Bände wolkenformate (2016), sonne geschlossener wimpern mond (2018), aussichtsplattform | welten.9 | darsolarpolar (2020) und sirenenecho (2022) erschienen: 202 gedichte und zahlreiche Bilder. Ergänzt wird die Sonderausgabe 202 gedichte mit einem Text von Dirk Uwe Hansen zu den Büchern, neuen Gedichten und Bildern.

Musenhain und Klippenbrüter



Mir waren die Sirenen immer näher als die Musen. Vielleicht ist das so ein Gefühl von Solidarität mit den Verliererinnen der von Siegern geschriebenen Geschichte — und es spricht ja wohl nicht gegen sie, dass Odysseus, der alte Opportunist, sich nicht auf sie einlassen wollte, und Orpheus so laut schreien musste, dass auf der kleinen Argo nur noch seine Stimme zu hören war, und auch nicht, dass die Musen sich seit Aptera wortwörtlich mit ihren, der Sirenen, Federn schmücken können. Vielleicht ist es auch eine Frage der Herkunft, der liebliche Musenhain schien mir unwirklicher als der raue Strand der Sirenen, die ich mir immer noch als eine Art Halbmöwen denke, nicht solche niedlichen Fischbrötchenräuber, eher Sturmvögel und Klippenbrüter, die tagelang für sich allein über dem Meer schweben können. Die brauchen uns nicht, die singen nicht für die Ohren und schon gar nicht durch die Münder von Menschen, und wir können höchstens versuchen, uns einen Reim auf ihren Gesang zu machen. Der Rest ist ja doch nur misslaunige Zugabe, ihr Vergnügen an verwesenden Seemannskörpergliedern ebenso wie die Sirenen als Verkörperung gefährlicher sexueller Verlockungen; wer solche Ängste hat, dem können weder Musen noch Sirenen helfen.

Und Hilfe brauchte ich, als ich mir in den Kopf gesetzt hatte, einen autobiographischen Zyklus von Gedichten zu schreiben. Sag mir, Sirene, was...? Wen, wenn nicht die allwissenden Sirenen sollte ich um Hilfe anrufen — ἴδμεν δ' ὅσσα γένηται ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ (wir wissen alles, was geschieht, auf der viele ernährenden Erde), so sagen sie selbst von sich; und so hatte ich dann tatsächlich einen Moment der Dichterweihe (falls ich mir dieses Pathos hier mal erlauben darf): Die Sirenen fingen an, Orte und Fetzen von Erinnerungen, die mir dafür im Kopf herumgespukt hatten, zu kommentieren, so, dass ich nicht anders konnte, als zu versuchen, mir darauf einen Reim zu machen. Was folgte, waren einige Wochen rauschhafter Arbeit, bis aus den in meinem Hirn klingenden Fragmenten und Kommentaren zu Fragmenten achtzehn Gedichte in einem gelben Heft geworden waren. Und es wundert mich inzwischen nicht mehr, dass ich Michael Wagener ausgerechnet auf einem Spaziergang an der Ostsee von dem Zyklus erzählt habe, Anfang einer beglückenden Zusammenarbeit mit dem gutleut verlag, weil sein tiefes Verständnis für Texte und mehr noch seine schonungslose Kritik auf dem Weg vom rauschhaft beseelt Geschriebenem zu druckbaren Texten ganz unverzichtbar war, und seine Bebilderungen gleich noch Wege zu neuen Texten wiesen.

Alles wissen die Sirenen, aber an ihrem Strand liegt die Wirklichkeit in Fragmenten und Fetzen bereit; Fragmente und Fetzen, die nicht aufhören, mich aufzufordern, mir einen Reim auf sie zu machen. Was ich mit kindlicher Feude mache, mit Strandgut, Wolkenbildern, halbvergessenen Orten, Buchstaben, die ich in braunen, schwarzen, orangefarbenen Heften sammeln muss und ... Und immer wieder sind unter den Fraktalen von Welt, denen ich versuche eine neue Sprache zu geben, zufällig übriggebliebene Stückchen griechischer Literatur, die Fragmente der Gedichte Sapphos, in denen schwer oder gar nicht mehr zu verstehende Bruchstücke von Versen und Worten mit ihren verführerischen Rhythmen zusammen neue Bilder ergeben, oder die verstümmelten Reste archaischer Kosmogonien wurden zu solchen Sirenenrufen und Herausforderungen.

Und — wieder so ein seltsam märchenhaftes Geschehen — nach ein paar Jahren, in denen ich am Strand der Sirenen solche Fragmente aufgelesen, in Heften zu Gruppen sortiert und dann zu Gedichten gemacht habe (die dann wieder mit Bildern von Michael zum Leben erweckt wurden), fanden sich unter den Bruchstücken hartnäckig wie Zikadenrufe im Ohr schnarrende Bruchstücke meiner ersten Begegnung mit den Sirenen, die wieder zu neuen Texten werden wollten, ein Echo dessen, womit alles angefangen hatte.

Ich musste also ein neues Heft kaufen …


Dirk Uwe Hansen, Greifswald im Herbst 2022

dirk uwe hansen, dichter, übersetzer, altphilologe, geboren 1963 in eckernförde, studierte klassische philologie an den universitäten hamburg und köln. seit 1995 ist er wissenschaftlicher mitarbeiter an der universität greifswald. seine dissertation das attizistische lexikon des moeris. quellenkritische untersuchung und edition erschien 1998 im verlag de gruyter berlin. aus dem altgriechischen übersetzte er lukians schrift über den tod des peregrinos und die theognidea (beide erschienen darmstadt 2005). seit 2011 erscheint im hiersemann verlag stuttgart die deutsche übersetzung der anthologia graeca (übersetzt von jens gerlach, dirk uwe hansen, christoph kugelmeier, peter von möllendorff, kyriakos savvidis, herausgegeben von dirk uwe hansen). aus dem neugriechischen übersetzte er phoebe giannisis gedichtband homerika (erschienen bei reinecke und voß 2016). gemeinsam mit dem griechischen dichter und übersetzer jorgos kartakis übersetzt er neugriechische lyrik für die reihe edition metáfrasi im verlag reinecke & voß. 2014 gab er gemeinsam mit michael gratz die anthologie muse, die zehnte. antworten auf sappho von mytilene (freiraum verlag greifswald) heraus. seit 2008 veröffentlicht er gedichte in zeitschriften und anthologien (u. a. konzepte, silbende_kunst, der greif, jahrbuch der lyrik, sachen mit wörtern). 2011 erschien sirenen, 2012 sappho – scherben – skizzen (beide im udo degener verlag) und 2013 zwischen unge/sehnen orten im verlag silbende_kunst köln. im gutleut verlag bisher erschienen sind die bände: wolkenformate (2016), sonne geschlossener wimpern mond (2018), aussichtsplattporm | darsolarpolar | welten.9 – zusammen mit michael wagener – (2020), sirenenecho (2022) sowie die alle vier bände umfassende kassettenausgabe 202 gedichte (2022).

michael wagener, künstler, gestalter, verleger sowie autor und kurator, geboren 1966 in morsbach/sieg, studierte philosophie, kunstgeschichte und germanistik an der frankfurter goethe-universität und im anschluss bilderhauerei und fotografie an der hochschule für gestaltung in offenbach am main. er lebt und arbeitet in frankfurt am main. seit 1992 zahlreiche ausstellungen im in- und ausland. u. a. war er stipendiat der studienstiftung des deutschen volkes, erhielt 2002 das munch-stipendium für oslo / norwegen und 2003 das venedig-stipendium im deutschen studien-zentrum in venedig / italien. 1997 gründete er (bis 1999 in zusammenarbeit mit florian lumeau) den gutleut 15 ausstellungsraum in frankfurt am main, wo seitdem zahlreiche ausstellungen internationaler künstler, konzerte, lesungen und performances stattfinden. zunächst begleitend und dann als eigenständiges projekt folgend entstand 2002 der gutleut verlag, in dessen programm er als herausgeber und gestalter unterschiedliche bild-text-konzepte entwickelt und diese neu auslotet. in diesem rahmen erschien u. a. als erste publikation und ausgezeichnet von der stiftung buchkunst sein band taschenatlas / taschenkosmos – eine buchförmige skizze seines projekts neuer atlas. ergänzend hierzu folgten bisher – neben weiteren ausstellungsprojekten – die bücher dauerlandschaft | the remixes – volume one (2010), dauerlandschaft | the lyrics– volume one (2014), dauerlandschaft | the graphic remixes – volume one (2014) und dauerlandschaft | album (2014), allesamt erschienen im gutleut verlag, frankfurt am main. ferner die kartografie der vögel, deutscher wetterdienst, offenbach am main (2011), grenzlinien (2013) sowie hiermit und in zusammenarbeit mit dirk uwe hansen aussichtsplattform | welten.9 | darsolarpolar (2019), nichts | manifest und poeme (2022) alle wiederum im gutleut verlag, frankfurt am main.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie reihe sonderausgaben ; 10
Illustrationen Michael Wagener
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Maße 140 x 195 mm
Gewicht 660 g
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Kunst / Musik / Theater
Schlagworte Computerkunst • Fotografie • Gedichte • Kunst • Lyrik • Mythologie
ISBN-10 3-948107-42-4 / 3948107424
ISBN-13 978-3-948107-42-0 / 9783948107420
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich
Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten

von Dirk von Petersdorff

Buch | Hardcover (2023)
C.H.Beck (Verlag)
CHF 41,90
Texte über Menschlichkeit

von Leah Weigand

Buch | Hardcover (2024)
Knaur HC (Verlag)
CHF 27,90