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Nackt in die DDR. Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat (eBook)

»Empathisch, kritisch, feinfühlig.« Lukas Rietzschel, Autor des SPIEGEL-Bestsellers »Raumfahrer«

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
400 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0558-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nackt in die DDR. Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat -  Aron Boks
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Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt?

Willi Sitte - Künstler, überzeugter Kommunist, Funktionär, Machtmensch. Er gilt als einer der einflussreichsten und umstrittensten Maler der DDR. Aron Boks ist sein Urgroßneffe und hat sich bisher kaum für seinen berühmten Verwandten interessiert. Bis bei einem Familientreffen plötzlich ein Gemälde auftaucht: Die Heilige Familie. Aron beginnt, Fragen zu stellen: Wer war Willi Sitte wirklich, was trieb ihn an?

Das Gemälde wird zum Ausgangspunkt seiner biografischen Recherche, die ihn mit Geschehnissen während und nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders mit den Jahren vor und nach der »Wende« konfrontiert. Irgendwann wird ihm klar, dass die Beschäftigung mit seiner Familie und der DDR auch zu einer Beschäftigung mit sich selbst wird. Aron sammelt, fragt nach und fügt Ereignisse zusammen, die Willi Sitte auf seinem Lebensweg prägten. Zu den Zeitzeugen, mit denen er spricht, gehören neben Ingrid Sitte auch Wolf Biermann, Gerhard Wolf und Volker Braun.

Für Aron, der die DDR selbst nicht mehr erlebt hat, zeigt sich der Maler Willi Sitte als Mensch in all seiner Zerrissenheit. Zwischen Ideologie und Idealismus, Ruhm, Macht, Kunst und Anerkennung. Eine Suche, die uns zu den wichtigsten Fragen der jüngsten Vergangenheit Deutschlands führt.


»Eine Spurensuche, bei der Aron Erinnerungen von Zeitzeugen und aktuelle Ereignisse dokumentarisch miteinander verwebt. Dabei herausgekommen ist seine ganz eigene Geschichte. Eine großartige Annäherung an ein Land, das es nicht mehr gibt, aber unsere Gegenwart weiterhin prägt.«

Alexander Kluge


»Es gibt viele Bücher Nachgeborener über die DDR, viele Bücher über die Suche nach diesem untergegangenen Land und der Frage danach, was das mit der eigenen Biografie zu tun hat. Aron Boks gelingt, was viele nur vortäuschen: Er hat ernsthaftes Interesse. Empathisch, kritisch, feinfühlig legt Aron Boks die Ambivalenzen offen, die sich ergeben, wenn man sich mit ?der DDR? beschäftigt. Chapeau!«

Lukas Rietzschel, Autor des Bestsellers Raumfahrer

»Dieses Buch ist der Versuch, in der Zeit und in einen Kopf zu reisen. Willi Sittes Kopf ist nicht bereisbar, und dass Aron Boks versucht, auch in das Herz zu reisen und in sein eigenes Herz, macht das Buch für mich zu einem allgemeingültigen Buch über Herzreisen. Alle diese Geschichten zusammen, über die DDR, Willi Sitte und die Kunst, sind großer Stoff, mit dem Aron Boks vorsichtig, klug und ehrlich umgeht.«

Kirsten Fuchs, Jugendliteratur-Preisträgerin und Autorin von Mädchenmeute



<p>ARON BOKS wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Autor, Slam Poet und Moderator in Berlin, Neukölln. 2019 erhielt er den Klopstock-Förderpreis für Neue Literatur. Seit 2021 schreibt er vor allem für die taz und die taz.FUTURZWEI-Kolumne »Stimme meiner Generation«.</p>

PROLOG


Meine Hand knallt gegen die Scheibe. Gleich geht’s los.

Im Schaufenster eines Souvenirladens meiner Heimatstadt ist deren Miniaturdarstellung der Altstadt zu sehen. Das Highlight bildet eine Minidampflock, die auf Knopfdruck an der Glasscheibe losfährt. Zumindest funktionierte das so, als ich ein Kind war und begeistert vor dieser Scheibe stand. Wieso bewegt sich jetzt nichts? Noch einmal knalle ich gegen den Knopf und noch einmal.

Ich verziehe das Gesicht. So war das alles nicht geplant. Seit Wochen kehre ich meiner Wohnung in Berlin den Rücken und verkrieche mich zwischen Fachwerk und Harzer Wald. Die Straßen hier sind menschenleer. In der von Laternenlicht beleuchteten Scheibe sehe ich mein Spiegelbild. Ich trage die weiße Tennismütze, die ich mir vor einiger Zeit gekauft habe, um wie ein echter Reporter auszusehen. Schließlich wollte ich eine Geschichte schreiben. Eine über Willi Sitte, den wohl »umstrittensten Maler der DDR« – Sozialist, Funktionär, Künstler und – mein Urgroßonkel.

Da ich aber weder ihn noch die DDR kennengelernt habe, schien ich genau der richtige Mann zu sein, um unvoreingenommen über ihn zu schreiben. Er war zwar mit mir verwandt, aber in meinem engeren Familienkreis wurde bisher so gut wie gar nicht über ihn gesprochen, und dafür hatte ich auch eine überzeugende Erklärung: Genauso wenig wie er wirklich mit mir und meiner Familie zu tun hatte, war dieses Ostdeutschland und DDR-Ding zwar irgendwie Teil meiner Familie, aber eben: kein Thema.

Nicht für uns. Die vierzig Jahre DDR waren eine glücklicherweise überwundene Zeit, und was passiert ist, ist Stoff für die Geschichtsbücher. Wir sind glückliche Einheitsdeutsche. Das hatte ich zumindest immer gedacht und anlässlich des hundertsten Geburtstags Willi Sittes, meines »unbekannten Verwandten«, unbekümmert angefangen, über diese fremde Berühmtheit zu lesen und selbst einen Artikel zu schreiben. »Er ist mir lange ein Rätsel geblieben«, hatte ich eine Journalistin ganz am Anfang meiner Recherchen wissen lassen, die mich über meine »Beschäftigung« mit Willi Sitte befragte. Ich hatte das gesagt, weil es eben gut und passend klang, und doch bestand dieses Rätsel für mich aus nur wenigen Fragen und, ehrlich gesagt, keinen Unklarheiten. Damals. Ich bezog mein Wissen aus den bisher erzählten Geschichten seines Lebens, aus Feuilletonartikeln mit meist sehr ähnlichem Tonfall – »Großer Künstler, schwierige Person«. Einer, der erst für die Freiheit der Kunst kämpfte und später zum Staatsmaler einer Diktatur wurde. Zwei Leben in einem Satz ohne Fragezeichen.

Ich sehe auf die historische Dampflock im Fenster und das Schloss im Bergwald. Die Aushängeschilder dieser Stadt. Auf einem Foto, das sich inzwischen auf meinem Arbeitsplatz befindet, steht Willi Sitte neben anderen Familienmitgliedern. Es hatte nicht lang gedauert, bis ich beim Verfolgen seines Lebensweges tief in die Geschichte meiner Familie eingetaucht war. Das war’s dann mit der »Draufsicht«.

Und nicht nur das. Je tiefer ich eintauchte, desto weniger Antworten, aber umso mehr Fragen fand ich. Wie auf einem unausgeschilderten Weg, bei dem man sich auf Ortskundige verlässt. Schließlich habe ich unzählige von ihnen interviewt. Menschen, die in der DDR gelebt und gewirkt haben. Aber immer, wenn ich geglaubt hatte, näher am Ziel zu sein, eröffnete jemand eine neue Abzweigung, und so ging das immer weiter. Ich fragte Künstler und Historiker nach der Richtung – ebenso Freunde Willi Sittes, stieß dann auf Feinde, die mich wieder in eine ganz andere Richtung führten, und landete in einer verrauchten Spelunke in Rom, an einem Strand an der Côte d’Azur und dann wieder in einem biederen Café in Halle an der Saale oder einem kerkerähnlichen Atelier im tiefsten Thüringen. Aber was für ein Ziel war das denn, das ich da anstrebte? Was für ein Rätsel hatte ich überhaupt versucht zu lösen – das eines Lebens?

Ich drücke noch einmal etwas sanfter den Knopf in der Scheibe. Es funktioniert nicht. Harter Reality-Check. Immer wenn ich früher hier vorbeispazierte, drückte ich wieder und wieder gegen diesen Knopf, und die Bahn fuhr jedes Mal in verlässlicher Langsamkeit ihre Runden. Über Google Reviews erfahre ich später, dass ich nicht der Einzige bin, der sich darüber wundert: »Ein Stern Abzug, weil die Modelleisenbahn nicht fuhr.«

Seit Wochen habe ich mich im Keller meiner Eltern einquartiert. Die Akten, Dokumente und ausgedruckten Zeitungsartikel mit Fotos und dazugehörigen roten Verbindungsfäden an der Wand erwecken entweder den Eindruck, ich würde ein kompliziertes Verbrechen lösen oder eine Ostalgie-Kneipe im Oberharz ausstatten wollen. Überall hängen Wimpel und Abzeichen mit Hammer und Zirkel mit schwarz-rot-goldenen Farben und das Händedruck-Logo der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Es ist der Nachlass meiner Familie. Dazu gesellen sich Mappen und Kladden aus den Kellern und Dachböden von Angehörigen der Familie, mit denen ich bis vor Kurzem noch nie gesprochen hatte. Plötzlich stand ich in ihren Wohnstuben, bekam Kaffee und fühlte mich manchmal wie ein Eindringling, wenn ich später im Stillen die Tagebücher und Dokumente ihrer Vorfahren las. Aber wieso? Es waren doch auch meine und vor allem: Willi Sittes Vorfahren.

Ich lernte dadurch meinen Urgroßvater und seine Geschwister kennen und wie eng ihr Leben mit dem Willi Sittes verknüpft war. Etwas, das mir vorher nicht bewusst war. Dadurch erfuhr ich von ihrer kommunistischen Prägung und ihrer späteren grundlegenden Überzeugung, aus dem antifaschistischen Gedanken heraus ein neues, gutes Land aufzubauen. Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Die Memoiren meines Urgroßvaters sind dermaßen heroisch und ohne jegliche Selbstzweifel geschrieben, dass ich seinen Stolz, Teil einer ehemals dissidentischen, antifaschistischen Aufbaugeneration zu sein, nicht etwa erst hineininterpretieren musste. Alle Brüder von Willi Sitte gingen mit einer selbstverliebten Sturköpfigkeit voran, mit der sie dann auch in ihrer Partei aneckten, innerhalb derer sie diese wahnsinnige und manchmal komisch zu lesende Überzeugung vertraten, allein die richtige Lösung für eine glorreiche nationale Zukunft zu haben. Nachdem der eine von der Wehrmacht desertiert war, begab sich der andere in den Widerstand, und alle bekannten sich zur Partei bei der Staatsgründung der DDR. Sie wollten »sich einbringen«, nahmen Parteiaufträge wahr, kassierten Strafen, Demütigungen, kämpften jahrelang gegen Windmühlen und besaßen doch diese tiefe Treue gegenüber einer »gemeinsamen Sache«, für die sie irgendwann mit Macht, Einfluss und Erfolg belohnt wurden – bis zum Ende der DDR.

Willi Sitte ist da keine Ausnahme. Einige seiner Bilder wurden in dieser Zeit verboten, andere in DDR-Schulbüchern gezeigt oder zu Motiven für Briefmarken, weil sie dafür genug parteiliches Potenzial hatten. Und irgendwann malte er durchgehend Bilder, die mich gleichzeitig befremden und beeindrucken – genau wie die Menschen, die ihre Entstehung mitverfolgt und erlebt haben, während er es bis an die Spitze der DDR-Kulturpolitik schaffte.

Und an allen Ecken der Geschichte dieses Landes taucht immer wieder sein Name auf. Wenn auch in ganz unterschiedlicher Lesart. Einmal wird er dargestellt als einer, der gegen die Enge von Walter Ulbrichts Kulturpolitik protestiert und mit Margot Honecker tanzt. Einer, der ständig Westkontakte unterhält, aber mit dem Mann, der der Mauer mitsamt dem Todesstreifen den Namen »antifaschistischer Schutzwall« verpasste, beim Halleschen FC 1 auf der Tribüne sitzt. Dann ist er einer, der jahrelang die Hölle durchmacht, um seinen künstlerischen Stil durchzusetzen – während seine Kollegen reihenweise in den Westen gehen –, um später selbst Regeln einer parteikonformen Kunstrichtung zu bestimmen und damit Karrieren zu beenden. An anderer Stelle wieder ist Willi Sitte jemand, der wegen staatsfeindlicher Tendenzen überwacht wird und später öffentlich Wolf Biermanns Ausbürgerung gutheißt. Hier einer, der mit aller Kraft versucht, den Sozialismus anzutreiben und sich in seinen Bildern immer verbissener in eine Utopie hineinmalt. Und dort einer, der mit dem Einsturz dieses Staates und wegen all dieser Tatsachen als »ambivalente Persönlichkeit« von der Bühne verschwindet.

Und pünktlich zu seinem Geburtstag hielt ich es für eine gute Idee, diese Bühne zu betreten, um Einblicke hinter die Kulissen zu bekommen. Natürlich habe ich mich dann gewundert, wie gespalten sich die Protagonisten gegenüberstanden, sich meiner aber annahmen. Schließlich war ich der Neue. Sie erzählten mir von dem alten Rebellen Willi Sitte, von dem kritischen Künstler, dem gutmütigen Lehrer, der die Kunst voranbringen wollte. Diese Personen vermeiden gern das Wort Politiker – dabei hatte Willi Sitte mit Leidenschaft alles dafür getan, um als solcher dazustehen.

Doch kaum hatten die Lobessänger auserzählt, nahm mich jemand an die Brust und sprach über die Ungerechtigkeit und, nicht zu vergessen, die Diktatur, an der Willi Sitte Zeit seines Lebens mitgewirkt hatte – oder etwa nicht?

Sie redeten und redeten, heiser von lang geführten Debatten, und irgendwann ging es darum, dass eben doch oder »nicht alles schlecht« war, und meist ging es schon nicht mehr um Willi Sitte, sondern um diese kurze Geschichte eines Landes, dessen Ende nun schon über drei Jahrzehnte zurückliegt und mit jedem weiteren Jahr neu erzählt wird. Ich bin immer weitergelaufen – geleitet von diesen Gesprächen, bis ich irgendwann einen eigenen Weg fand. Und nun sitze ich seit Wochen in dieser Kleinstadt im...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Bernhard Heisig • Burg Giebichenstein • Christa Wolf • DDR-Geschichte • DDR-Maler • Der geteilte Himmel • Deutsche Geschichte • Deutsche Kunstausstellung • Erich Honecker • Frank Ruddigkeit • Gerhard Wolf • Geschichte der DDR • Gisela Schirmer • Hendrik Bolz • Ingrid Sitte • Kinder von Hoy • Kunsthochschule Halle • lukas rietzschel • Lütten Klein • Matthias Brandt • Ostalgie • ostdeutsche Geschichte • Ostdeutschland • Raumfahrer • Raumpatrouille • Sarah Kirsch • SED • SED-Diktatur • Sittes Welt. Retrospektive in Halle • Staatsmaler der DDR • Steffen Mau • Wende • Wernigerode • Wiedervereinigung • Willi Sitte • Wolf Biermann • Wolfgang Böttcher
ISBN-10 3-7499-0558-4 / 3749905584
ISBN-13 978-3-7499-0558-4 / 9783749905584
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