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Das Lied des Nebelhorns (eBook)

Eine Klang- und Kulturgeschichte
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
336 Seiten
mareverlag
978-3-86648-803-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Lied des Nebelhorns -  Jennifer Lucy Allan
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Ein dröhnendes, einsames Geräusch, das in die Weiten des Meeres hinaushallt: Als Jennifer Lucy Allan zum ersten Mal bewusst das kolossale Gebrüll des Nebelhorns hört, ist dies der Beginn einer Obsession und einer Reise tief in die Geschichte eines Klangs, der die Identität von Küstenlandschaften auf der ganzen Welt von Schottland bis San Francisco geprägt hat. Der unvergleichliche Sound des Nebelhorns erzählt von Schiffswracks und Leuchtturmwärtern, von der Industrialisierung und von fantasievollen Beschallungssystemen für Küsten-Raves. In diesem mitreißenden, so poetischen wie sachlich fundierten Buch verknüpft die Autorin ihr musikalisches Expertinnenwissen mit ihrer persönlichen Faszination für das Nebelhorn als Maschine, als Instrument und als Symbol einer vergangenen Ära.

Jennifer Lucy Allan ist Autorin, Journalistin und Radiomoderatorin und hat ihre Doktorarbeit über Nebelhörner verfasst. Seit mehr als zehn Jahren schreibt sie über Underground- und experimentelle Musik, u.a. für The Guardian, The Quietus und The Wire. Für BBC Radio 4 schrieb und präsentierte sie den Beitrag »Life, Death and The Foghorn«. Außerdem leitet sie das Archiv-Plattenlabel Arc Light Editions. »Das Lied des Nebelhorns« ist ihr erstes Buch.

Jennifer Lucy Allan ist Autorin, Journalistin und Radiomoderatorin und hat ihre Doktorarbeit über Nebelhörner verfasst. Seit mehr als zehn Jahren schreibt sie über Underground- und experimentelle Musik, u.a. für The Guardian, The Quietus und The Wire. Für BBC Radio 4 schrieb und präsentierte sie den Beitrag »Life, Death and The Foghorn«. Außerdem leitet sie das Archiv-Plattenlabel Arc Light Editions. »Das Lied des Nebelhorns« ist ihr erstes Buch.

Prolog


22. Juni 2013

Dann setzt das Nebelhorn ein.

Sein unvermittelter und furchterregender Zwischenruf dringt aus zwei rechteckigen schwarzen Mäulern, ein ungeheurer metallischer Aufschrei, der ohrenbetäubend laut ist. Er flutet meine Ohren und erschüttert meine Eingeweide. Ich bin überwältigt. Ich erstarre. Unter den Ärmeln stellen sich auf meinen Armen kleinste Härchen auf. Der klagende Trompetenstoß erstirbt in einem unwirschen Grunzen, das mich aus meiner Schockstarre reißt. Es folgt eine endlose Sekunde allumfassender und vollständiger Stille, bis die mich umstehende Menge in jenes aufgekratzte Lachen verfällt, das für Momente des ehrfürchtigen Schauderns reserviert ist. Was wir erleben, ist aurale Auslöschung.

Im Juni 2013 fuhr ich gemeinsam mit Freunden von London in den Nordosten Englands, um das Foghorn Requiem zu verfolgen, eine gigantische Aufführung unter freiem Himmel, an der drei Blechbläserensembles mit insgesamt 65 Musikern beteiligt waren, die auf den Klippen am Leuchtturm von Souter Point in South Shields Aufstellung bezogen hatten. Verstärkung erhielten sie durch eine bunt gemischte Flottille aus mehr als fünfzig Schiffen, die auf der Nordsee dümpelten, darunter eine Fähre und Fischerboote, Segel- und Rettungsboote, Jachten mit einem und mit zwei Masten sowie Schlepper. Das Zentrum bildete das allmächtige Nebelhorn von Souter Point, das aus einer Menschenmenge heraus ertönte und seine Stimme über die Köpfe der Bläser hinweg zu den Schiffen und von dort weiter bis zum Horizont erklingen ließ, eine Stimme, für die komprimierte Luft aus von einem massigen Dieselmotor betriebenen Lungenflügeln gepresst wurde.

Es war ein sonniger und windiger Tag, der das Publikum unter einem blauen Himmel frösteln ließ. Das hatte sich rund um den weiß getünchten Leuchtturm und das angrenzende Gebäude aufgestellt, auf dem das Nebelhorn stand – quadratisch wie ein Transformatorenhäuschen, trug es zwei übergroße Schalltrichter, die wie klaffende schwarze Schlünde aussahen, die sich zu schmalen Hälsen verschlankten. Eltern, die ihren Nachwuchs auf den Schultern trugen, Menschen in leuchtender Regenkleidung, die Thermoskannen mit Tee kreisen ließen, Pärchen mit Hunden, Großeltern auf Campingstühlen, Kinder, die auf dem Mäuerchen hockten, das den Leuchtturm umgab, und Menschen wie ich, mit Jeans und dünner Jacke für den kaum elf Grad warmen Sommertag in South Shields gänzlich unpassend gekleidet, warteten zitternd und vom Wind zerzaust darauf, dass die Vorstellung begann.

Als die Blechbläser Aufstellung nahmen, verstummten die Menschen. Die ehrfürchtige Stille wurde durch einen einzelnen klaren und hohen Ton durchschnitten, der von einem Trompeter auf dem Dach des Leuchtturms stammte. Dann setzten die anderen Instrumente ein, und die düstere Phrase wurde von einer leichten Brise ergriffen und aufs Meer hinausgetragen. Die Schiffe und Boote antworteten darauf im Gleichklang und abgestimmt auf die Töne der Bläser, als sei es ein Echo, das die unendliche Weite der Umgebung zurückwarf. Ihr jeweiliger Beitrag traf versetzt und im charakteristischen Tonfall ein, die Fähre laut und näselnd, die kleinen Schiffe weinerlich und gequält. Das Zwiegespräch zwischen Blech und Booten, Erdverhaftetem und Maritimem, erfüllte die blaugraue Wasserfläche von den Klippen, auf denen wir standen, bis zum weit entfernten Horizont, eine schwermütige Unterredung, als hätten die beiden dazugehörigen Industrien – der Maschinen- und der Schiffsbau – Stimmen bekommen, um erörtern zu können, wessen Unglück das größere sei.

Dann, in die Wehklage hinein, begann das Nebelhorn zu brüllen, ein Klang, der Nebel und schlechtem Wetter trotzen und zwanzig Meilen weit hinaus auf See dringen soll. Über die Köpfe des Publikums hinweg brüllte es ein zweites Mal. Meine Ohren wurden gesandstrahlt, und das mit einer Macht und Gewalt, die die Bläser und Schiffe nahezu verstummen und ihren eben noch kolossalen Klang wie eine Maus neben einem Elefanten wirken ließ. Mit jedem Ton, der aus dem Nebelhorn kam, stieg meine Erregung, fühlte ich mich lebendiger. Seine Gestalt verliehen ihm die Klippen und das Meer – vom ersten verhaltenen Aufbegehren bis hin zu jenem infernalischen Lärm, der eine ungeheure emotionale Wucht annahm, als er über die Landschaft strich.

Das Ende des Requiems kündigte sich an, als die letzte Luft dem Druckbehälter entwich und der Ton mit nachlassendem Druck auch seine Härte verlor. Er geriet zu einem Summen, stimmte mit brüchiger Stimme eine Totenklage an, und als auch dafür die Kraft nicht mehr reichte, blieb ein Stammeln und Röcheln, bis der letzte Atemzug zischend entwich wie die Luft aus einem undichten Ballon.

Als es wieder still war, stand ich starr und verfroren da. In meiner Kehle steckte ein Kloß, meine Augen wurden feucht. Ich sah mich um und erblickte in den Gesichtern Tränen und glasige Blicke. Etwas hatte uns verlassen, und wir waren allein. In seinem letzten Atemzug hatte das Nebelhorn nicht nur von seinem eigenen Tod berichtet, sondern vom Tod einer ganzen Branche, einer Industrie und allem, was sie einst ausgemacht hatte. Der Klang des Nebelhorns war die Musik zu diesem Tod, und diese Musik wollte mir etwas sagen – das aber auf eine Weise, mit der ich nicht vertraut war.

Ein paar Jahre zuvor arbeitete ich für ein Musikmagazin, das sich mit Underground und experimenteller Musik befasste, und erhielt den Auftrag, ein Album zu besprechen, dem ich den unverhofften Beginn meiner Leidenschaft für Nebelhörner verdanke. Die Platte heißt Audience of One und stammt von dem australischen Perkussionisten und Komponisten Oren Ambarchi. Auf ihr sind ein zischelndes Becken und nervöse Streicher zu hören, die wie Wind, der über eine Takelage streicht, und das Dümpeln großer Schiffsrümpfe klingen. In diese Mischung bricht ohne Vorwarnung der vibrierende Aufschrei eines Blechblasinstrumentes ein, eines Waldhorns, das hier tiefer und sonorer erklingt, als wir es gewohnt sind. Als ich es zum ersten Mal hörte, stellte ich mir einen Hafen vor und verglich den Klang in meiner Besprechung instinktiv mit dem eines Nebelhorns. Dann aber besann ich mich und begann, den Vergleich zu hinterfragen: Was genau ist ein Nebelhorn, und wie klingt es?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, verabschiedete ich mich von der Musikjournalistin, die ich gewesen war, und nahm eine neue Identität an: die der vom Nebelhorn Besessenen, der Historikerin des Klanges und der Zielscheibe des Spotts vieler Freunde (»Ein Buch über Nebelhörner …?«). Und ich entdeckte etwas, das ungleich größer war als das Waldhorn auf besagtem Album, ein Horn, das dazu bestimmt war, sich mit den Weltmeeren und dem Wetter zu messen, ein Horn, das furzen und seufzen konnte, brüllen und heulen, das lauter war als irgendetwas sonst an der Küste und voluminös genug, um den Tod niederzubrüllen.

Im Laufe der Jahre haben sich viele Musikerinnen und Musiker der Lautstärke ihrer Musik gerühmt, viele haben mich mit Klangerlebnissen angelockt, die den Brustkorb in Schwingungen versetzten. Die Spanne reicht von Dub über Doom Metal und Noise bis Hardcore, dargeboten über Soundsysteme, die wie Teile von Flugzeugturbinen aussahen und in höhlengleichen Räumen standen, die vor allem wegen ihrer Akustik ausgewählt worden waren. Diese vibrierenden Ekstasen, bei denen der Klang körperlich wurde und der Lärm mich verstummen ließ, habe ich seit jeher geliebt. Ich stamme aus dem ländlichen Nordwesten Englands, weit von jeder Küste entfernt, aber das Nebelhorn war gewaltiger und aufregender als jede Band, die ich gehört, jede Party, die ich durchgetanzt, und jeder Lautsprecherturm, den ich gesehen hatte – ein Soundsystem, das das Meer beschallen soll und deshalb eine Lautstärke erreicht, die für die endlosen Ozeane angemessen ist. Nun hatte es mich in den Bann geschlagen, und zwar mit Haut und Haaren.

Auf der Suche nach Nebelhörnern trieb ich mich stundenlang auf YouTube herum, sichtete Fotos und suchte verstaubte Archivseiten auf, die langatmige Texte in veralteten HTML-Dokumenten präsentierten. Ich fand Aufnahmen vom Innenleben der Nebelhörner, das in kuppelförmigen Betonhüllen oder gedrungenen Backsteinbauten steckte. Riesige Schalltrichter ragten surreal aus Löchern in den Wänden hervor oder thronten auf Dächern, die unter der Last einzustürzen drohten. Ich scrollte mich durch Bilder von quadratischen Hörnern und ihren glockenförmigen Mündern, von Trichtern, die sich in Form eines Schwanenhalses dem Horizont entgegenstreckten. Ich spürte das einzige Buch auf, das je über Nebelhörner geschrieben wurde. Es stammt von dem Historiker und Dozenten Alan Renton, dessen Tonaufnahmen von Nebelhörnern in der British Library aufbewahrt werden. Ja, ich trat sogar der Vereinigung der Leuchtturmwärter bei, einem Zusammenschluss von aktiven und ehemaligen Leuchtturmwärtern und anderen Enthusiasten, die sich der Pflege dieses kulturellen Erbes verschrieben...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2022
Übersetzer Rudolf Mast
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik Musikgeschichte
Schlagworte Abgesang • Ambientmusik • Instrument • Klang • Klanggeschichte • Küste • Küstenlandschaft • Leuchtturm • Musikgeschichte • Nebelhorn • Radar • Schiffbruch • Sirene • Sound
ISBN-10 3-86648-803-3 / 3866488033
ISBN-13 978-3-86648-803-8 / 9783866488038
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