Die Farben der Vergangenheit (eBook)
305 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-78062-2 (ISBN)
Peter Geimer ist Professor für Kunstgeschichte an der FU Berlin. Ab Herbst 2022 wird er das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris leiten. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Theorie und Geschichte der Fotografie, die visuelle Repräsentation von Geschichte und Wissenschaftsgeschichte.
1.Kapitel
Meissonier und das «Dagewesensein der Dinge»
1. Detail, Abfall, Spur
Im Mai 1898 berichtet der französische Schriftsteller Charles Yriarte von einer Begegnung mit dem Historienmaler Ernest Meissonier, die ihm aufgrund eines eigentümlichen Details in Erinnerung geblieben ist: «Eines Tages besuchte ich den Maler Heilbuth in Paris, als Meissonier hinzukam. Unter dem Arm trug er, wie ein Schneider, ein großes Bündel Stoff. Als ich meine Verwunderung darüber äußerte, gab Meissonier ruhig zur Antwort: ‹Das ist die Uniform von Marshall Ney. Sie passt nicht, und ich bringe sie zu Monsieur Sombret, meinem Schneider, um sie ändern zu lassen.› Aus der Ernsthaftigkeit dieser Antwort hätte man schließen können, dass der Marshall noch am Leben war und in Poissy auf den Maler wartete, um die begonnene Porträtsitzung fortzusetzen, sobald man die Uniform geändert hätte.»[1] Tatsächlich jedoch war der Marschall, dessen Uniform Meissonier zum Schneider trug, zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem halben Jahrhundert nicht mehr unter den Lebenden. Im Dezember 1815, dem Geburtsjahr des Künstlers, hatte man Ney, der Napoleon zuletzt noch in der Schlacht von Waterloo begleitet hatte, wegen Hochverrats verurteilt und im Jardin du Luxembourg erschossen. Meissoniers Interesse an der Uniform des Marshalls stand in Zusammenhang mit dem Gemälde, an dem er in jenen Jahren arbeitete – 1814, Der Feldzug in Frankreich (Abb. 1). Das Bild zeigt Napoleons Rückzug in Frankreich, nachdem die alliierten Gegner – Russland und Preußen – im März 1814 ihren Vormarsch in Richtung Paris fortsetzten und Napoleon nach der verlorenen Schlacht von Laon den Rückweg nach Soissons angetreten hatte. Eine Episode, die im historischen Rückblick als Vorzeichen der baldigen Abdankung des Kaisers erschien.
Abb.1
Ernest Meissonier, 1814, Der Feldzug in Frankreich,
1864, Paris, Musée d’Orsay
Dass Meissonier hier eine Militäraktion ins Bild setzte, die bereits ein halbes Jahrhundert zurücklag, war keineswegs ungewöhnlich. Seit dem Staatsstreich Louis Napoleons im Dezember 1851 erinnerte man gerne an die Erfolge Napoleons, um sich der eigenen Legitimation zu versichern. Längst war der Geburtstag des Kaisers wieder zum Nationalfeiertag erklärt worden, und Napoleon war fester Bestandteil der Ikonographie des Zweiten Kaiserreichs. An den Wänden des Kaisersaals im Pariser Rathaus etwa hatte Jean-Auguste-Dominique Ingres eine Apotheose Napoleons I. inszeniert und auf dem Thron, den der in einer Quadriga zum Himmel auffahrende Kaiser leer zurückgelassen hatte, die Inschrift angebracht: In nepote redivivus («Im Neffen ist er auferstanden»).
Bei Meissonier ist von einer solchen Glorifizierung wenig zu erkennen. Das Bild irritiert durch «das Fehlen von Akzenten, von Zeichen, Symbolen und starken Farben».[2] Mit versteinerter Miene, gefolgt von seinen Marschällen und Generälen, durchquert Napoleon das unwirtliche Gelände im Umland von Paris. Die vor dem grau verhangenen Himmel freigestellte Silhouette lässt ihn als einzige Person im Bild klar konturiert hervortreten. Braun, Grau und Schwarz bestimmen die Komposition, einzig von dem Pferd des Kaisers, das, wie der Kritiker Thoré bemerkt, wie mit Milch gemalt erscheint,[3] geht eine auffällige Helligkeit aus, die aus dem Körper des Tieres selbst zu kommen scheint. Hinter Napoleon reitet der bereits erwähnte Marshall Ney, eingehüllt in seinen braunen Mantel (von diesem wird noch die Rede sein), daneben die Generäle Louis Berthier und Antoine Drouot.
Von einem Historienbild, das den letzten Feldzug des Kaisers vor seiner Abdankung im April 1814 zeigt, hätte man einen höheren dramaturgischen Einsatz erwarten können. Meissonier reduziert das historische Ereignis auf das bloße Voranschreiten der Grande Armee im schmutzigen Schnee und in der Ödnis einer Landschaft, aus der alle Farbigkeit gewichen ist. Der Kaiser führt den Feldzug an, aber die Vorstellung eines historischen Ziels, auf das dieser triste Zug sich zubewegt, ist abhandengekommen. So verwundert es nicht, dass die Interpreten des lakonischen Bildes bis heute Schwierigkeiten haben, das dargestellte Geschehen überhaupt einem spezifischen Zeitpunkt der historischen Ereignisse zuzuordnen. Anders als die Konventionen der Historienmalerei es vorsahen, zeigt Meissonier keinen ‹fruchtbaren Augenblick›, kein exponiertes Ereignis, sondern ein «Bild der allgemeinen Situation Napoleons des I. im Jahr 1814 wie auf dem Frontispiz eines detaillierten Berichts».[4] Die Aufmerksamkeit des Betrachters – weder durch erzählerische Dramaturgie noch durch eine dynamische Bildkomposition in Anspruch genommen – verharrt bei den Oberflächen der Dinge. Meissonier ist hier einmal mehr seinem Ruf gerecht geworden, seine Kunst auf die Schilderung scheinbar nebensächlicher Details zu gründen. Ein im Schnee zurückgebliebener Helm (Abb. 2), der metallene Glanz eines Steigbügels, die hervortretenden Adern des weißen Pferdes oder die Falten im grauen Mantel des Kaisers werden mit der gleichen Aufmerksamkeit registriert wie die Physiognomie der historischen Akteure. Um die äußere Erscheinung Napoleons historisch korrekt wiedergeben zu können, hatte Meissonier den noch lebenden Kammerdiener des Kaisers in der Pariser Rue de Miromesnil aufgesucht, um sich genaue Informationen über die Garderobe Napoleons zu verschaffen. Nachdem er vom Kammerdiener erfahren hatte, dass Napoleon, um Zeit zu sparen, beim Anlegen des Mantels nicht, wie allgemein üblich, die Schulterklappen seiner Uniform abnahm, sondern den Mantel direkt über die Schulterklappen warf, korrigierte Meissonier die bereits ausgeführte Gestalt Napoleons.
Abb.2
1814, Der Feldzug in Frankreich, Detail
1807, Friedland, Meissoniers berühmtestes Historienbild (Abb. 3), scheint auf den ersten Blick eine sehr viel dramatischere Schilderung des Krieges zu geben. Bis zu seinem Verkauf an den amerikanischen Kunstsammler Alexander T. Stewart 1875 hatte Meissonier über vierzehn Jahre lang an dem Gemälde gearbeitet. Selbst nachdem es auf der Weltausstellung in Wien bereits zu sehen gewesen war, hielt Meissonier es zwei weitere Jahre in seinem Atelier zurück, um immer wieder einzelne Partien zu übermalen und auszubessern. Im Gegensatz zu 1814 ist hier ein äußerst spannungsgeladener Moment der Schlacht in Szene gesetzt. Bei genauerer Betrachtung vermittelt aber auch dieses Gemälde einen Eindruck von Statik und erzählerischem Stillstand. Drei Gruppen dominieren das Bild. Auf einer leichten Anhöhe erblickt man den Kaiser umgeben von seinen Generälen. Napoleon hat seinen Hut abgenommen und hält ihn seinen Soldaten zum Gruß in die Höhe. Wie um dieser Geste zu antworten, prescht im Vordergrund eine geschlossene Formation von Kürassieren mit erhobenen Säbeln vorwärts. Ihnen gegenüber erscheinen am linken Bildrand vier Offiziere in roter Uniform, die sich dem rasenden Zug der Kürassiere jedoch nicht einreihen, sondern ihren Weg aus der Tiefe heraus fortsetzen und sich gemächlich nach vorne bewegen. Meissonier hätte den erhobenen Hut des Kaisers zum kompositorischen und dramaturgischen Angelpunkt einer dynamischen Komposition machen können. Gemessen am beinahe karikaturhaft übersteigerten Pathos der Kürassiere wirkt die Geste des bewegungslos im Sattel sitzenden Kaisers jedoch eigentümlich statisch, geradezu apathisch, wie abgerückt vom Geschehen im Bildvordergrund: Der in die Höhe gehaltene Hut bildet einen schwarzen Pfeil, der aber keine Richtung vorgibt, sondern stumm in die Weite des ereignislosen Himmels zeigt. Nimmt man noch die Gruppe der Offiziere am linken Bildrand hinzu, zerfällt der kompositorische Gesamteindruck vollends. Sie wirken wie ein versprengter Trupp von Akteuren, der seinen Ort im Bild noch nicht gefunden hat. Eine militärstrategische Koordination des Ganzen ist nicht zu erkennen.
Abb.3
Ernest Meissonier, Friedland, 1861–75, New York, Metropolitan Museum of Art
So offenbart Friedland bei näherer Betrachtung ein unvermitteltes Nebeneinander von Statik und Bewegung, Stillstand und Plötzlichkeit. Ein Detail bringt diesen Gegensatz besonders anschaulich zum Vorschein. Die...
Erscheint lt. Verlag | 17.3.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Kunstgeschichte / Kunststile |
Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik | |
Schlagworte | Bilder • digitale Reanimation • Film • Fotografie • Geschichte • Historienbild • Historiengemälde • Kunstgeschichte • Malerei • Reenactment • Rekonstruktion • Vergangenheit • Visuell • visuelle Zeugnisse |
ISBN-10 | 3-406-78062-8 / 3406780628 |
ISBN-13 | 978-3-406-78062-2 / 9783406780622 |
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