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Die Heldin reist (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2022 | 3. Auflage
240 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61264-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Heldin reist -  Doris Dörrie
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Der Held muss in die weite Welt hinaus und Abenteuer erleben, um ein Held zu werden - und eine Geschichte zu haben. Und was ist mit der Heldin? Doris Dörrie erzählt von drei Reisen - nach San Francisco, nach Japan und nach Marokko - und davon, als Frau in der Welt unterwegs zu sein. Sich dem Ungewissen, Fremden auszusetzen heißt immer auch, den eigenen Ängsten, Abhängigkeiten, Verlusten ins Auge zu sehen. Und dabei zur Heldin der eigenen Geschichte zu werden.

Doris Dörrie, geboren in Hannover, studierte Theater und Schauspiel in Kalifornien und in New York, entschloss sich dann aber, lieber Regie zu führen. Parallel zu ihrer Filmarbeit (u. a. ?Männer?, ?Mitten ins Herz?, ?Kirschblüten - Hanami?) veröffentlichte sie Kurzgeschichten, Romane, ein Buch über das Schreiben (?Leben, schreiben, atmen?) und Kinderbücher. Sie leitet den Lehrstuhl ?Creative Writing? an der Filmhochschule München und gibt immer wieder Schreibworkshops. Sie lebt in München.

1985 werde ich mit meinem ersten Spielfilm auf das Internationale Filmfestival in Tokio eingeladen. Ich bin zum ersten Mal in Japan, vor Aufregung kann ich nicht schlafen. Ich habe noch nichts vom Land gesehen, fühle mich noch gar nicht wirklich in der Fremde, denn in der Dunkelheit bin ich vom Flughafen direkt ins Hotel gefahren worden. Ein wenig fremd sind nur die weißen Handschuhe des Taxifahrers, der Linksverkehr, das kleine Glöckchen, das Tempoüberschreitungen ankündigt, die leise Höf‌lichkeit der Frauen an der Hotelrezeption. Der Tisch hat kurze Beine und die Stühle gar keine, in der Minibar steht Asahi-Bier, auf der Frühstückskarte habe ich das japanische Frühstück angekreuzt und draußen an die Tür gehängt.

Meine Vorstellung von diesem Land ist von alten Schwarz-Weiß-Filmen von Ozu, Mizoguchi und Kurosawa geprägt, ein einziges Mal war ich im einzigen japanischen Restaurant in München, dem Mifune, das dem Schauspieler Toshiro Mifune gehörte. Er spielte die Hauptrolle in dem Film Die sieben Samurai, einen verlotterten verrückten Samurai und Angeber, der im Verlauf der Geschichte immer mehr zum Helden wird. Ich erinnere mich an perfekte Bildkompositionen in Schneeweiß und Lackschwarz, an Schwertkämpfe, pittoreske Samurai-Rüstungen und Kriegsgeschrei. Kurosawa liebte amerikanische Western. Vor meinem Fenster blinken fremde Schriftzeichen in übergroßen Neonreklamen in allen Farben. Meine Gedanken irren umher und suchen meinen Körper, der sich noch in Europa zu befinden scheint. Ich trage einen yukata, einen sehr schönen, blau-weiß gestreif‌ten Baumwollkimono, der auf meinem Bett lag, setze mich ans Fenster und schaue auf das bunte Lichtermeer, bis es langsam verblasst. Der Zimmerkellner klopft und bringt nach einer abgezirkelten Verbeugung, die ich prompt nachzuahmen versuche, ein viereckiges schwarzes Tablett herein und stellt es auf den niedrigen Tisch. Auf dem Tablett befinden sich ungewohnte Speisen zum Frühstück: Fisch, Suppe, Reis, eingelegtes Gemüse, schmale Algenblattstreifen, eine Mandarinenspalte und grüner Tee. Alles in verschiedensten bunten Schälchen und Tellerchen, nichts passt zusammen und vereint sich dennoch zu einer verblüffend harmonischen Gesamtkomposition. Ich bemühe mich, so anmutig wie möglich auf den Knien vor dem niedrigen Tischchen zu sitzen, aber meine Beine sind zu lang, der yukata zu kurz, ich bin ein Fremdkörper in dieser Umgebung, ein fremder Körper, der nicht hineinpasst in das ästhetische Arrangement, keinen Eingang findet in die Komposition. Ich weiß noch nicht, dass dies die Grunderfahrung des gaijin ist, des Fremden, der von draußen kommt und nie ganz hinein darf in dieses Land.

 

Als Kind habe ich am liebsten einen gedeckten Tisch gezeichnet, mit Tellern, Tassen, Schüsselchen, Besteck, noch ohne die Menschen, die im nächsten Augenblick an ihm Platz nehmen werden. Die Stimmung ist still und gesammelt, Vorfreude und eine gewisse Anspannung liegen in der Luft. Ein gedeckter Tisch ist wie ein Versprechen, die Ankündigung einer Geschichte. Eine Geschichte schreiben ist wie einen Tisch decken.

Für diese Geschichte stelle ich einen chinesischen Teller auf den Tisch, eine Puppe, die Kopf und Arme bewegen kann, und lege ein scharfes Messer dazu. Unweigerlich wird man je nach Position der einzelnen Gegenstände Schlüsse ziehen und versuchen, ihre Bedeutung einzuschätzen. Die Puppe in der Mitte des Tisches bedeutet etwas anderes als das scharfe Messer in der Mitte. Die Puppe auf dem Messer etwas anderes als das Messer auf dem chinesischen Teller. Und was, wenn der Teller zerbrochen ist? Der Puppe ein Arm fehlt? Der Arm im Suppenteller schwimmt?

 

Ich decke den Tisch. Hole das Geschirr aus dem Schrank, blau-weißes, teilweise verfärbtes und muschelbewachsenes Porzellan. Es stammt von einem Schiff, das vor mehr als zweihundert Jahren vor Indonesien auf Grund lief und sank. Ich decke den Tisch für meine japanischen Freundinnen in München, wir wollen zusammen nabe essen. Nabe ist ein Eintopfgericht, das traditionell auf einem Campingkocher zubereitet wird, den man mitten auf den Tisch stellt. In Japan wurde es im Winter auch deshalb zu meinem Lieblingsgericht, weil ich mir in den eiskalten und schlecht isolierten Wohnungen wenigstens die Hände daran wärmen konnte. In einem fort jammerte ich und war damit die Einzige. Niemand sonst schien sich an der Kälte zu stören. In Japan heizt man sich selbst, wenn man friert. Man versucht gar nicht erst, die Umgebung zu verändern. Eine fast schockierende Umkehr meiner Sicht auf ärgerliche Umstände, die ich mir nie aneignen konnte. Mich einfach ergeben und nichts verändern außer mich selbst? Ich beschwerte mich weiter über die Kälte, bis von einem Tag auf den anderen der Sommer kam und ich mich über die brütende Hitze beklagte. Und wieder jammerte außer mir kein Mensch, sondern legte sich ein feuchtes Tuch um den Hals, lutschte salzige Umeboshi-Bonbons – und hielt durch. Ganbatte. Gib dein Bestes. Halt durch. Das sagt man bereits zu kleinen Kindern.

Als ich 2019 nach Japan fliege, weiß ich nicht, dass es für lange Zeit das letzte Mal sein wird und das Land sich wegen der Pandemie bald fast so rigoros abriegeln wird wie von 1630 bis 1853, als zur Abwehr gegen die Portugiesen keine Ausländer ins Land durf‌ten und auch niemand mehr raus.

Ich fliege fast jedes Jahr nach Japan und genieße bereits im Flugzeug, wie sich die Atmosphäre durch die japanischen Mitreisenden verwandelt und leiser, vorsichtiger, höf‌licher wird. Ich freue mich über das erste onigiri, einen in ein Algenblatt eingewickelten Reiskloß, der als Imbiss gereicht wird. Nach dem Essen wird das Licht gelöscht, wie Kinder werden wir zu Bett gebracht, nur noch der Monitor leuchtet blau in der Nacht. Auf seiner Anzeige bewegt sich ein weißes Flugzeug wie ein kleiner Papierflieger langsam über den Planeten. Jedes Mal wieder kann ich nicht fassen, dass in einem Stahlbehälter zehn Kilometer über der Erde zweihundert Menschen zusammen essen, schlafen, träumen. Weil ich es so ungeheuerlich finde, kann ich im Flugzeug nie schlafen. Ich hoffe, auf der richtigen Seite zu sitzen, um am Morgen vielleicht einen Blick auf den Fuji zu erhaschen. Nie bekomme ich genug von ihm. Er ist die Quintessenz eines Bergs. Wenn er sich zeigt, gibt er immer sein Bestes. Unwirklich. Überirdisch. Grandios.

 

In Tokio angekommen, kaufe ich noch im Flughafen den ersten Tee aus dem Automaten. Der Geruch von grünem Tee ist für mich der Geruch Japans. Zu Hause in Deutschland, wo ich fast nie Tee trinke, brauche ich nur daran zu riechen, um nach Japan versetzt zu werden. Beim Geldumtauschen amüsiere ich mich über das immer gleiche, mit größter Sorgfalt ausgeführte Ritual: Der erste Mann hinter dem Schalter füllt ein Formular aus, legt mein Geld auf einen Teller, den er einem zweiten Mann gibt, der nachzählt, bevor er den Teller einem Dritten weiterreicht, der mein Geld in eine Zählmaschine füttert. Ein Vierter tauscht es um in Yen und gibt es wieder dem Dritten, der es dem Zweiten gibt, der wieder nachzählt, es dann dem Ersten reicht, der mir das Geld auf dem Teller zurückgibt. Zum Abschluss darf ich mir aus einer kleinen Schale ein winziges Origami nehmen und wähle ein Herz, kokoro, wie der Titel des berühmten Romans von Natsume Soseki, einem meiner japanischen Lieblingsautoren, der in fast durchsichtigen Sätzen schrieb, die sich erst beim Lesen zu verfestigen scheinen. Nicht ganz greifbar, nicht begreifbar, nicht richtig zu fassen. Die Dinge existieren eher in der Luft als am Boden, man kann sie nicht dingfest machen, sie entziehen sich, sie schillern und verändern sich, nichts ist ganz eindeutig. Man sagt nicht Nein, sondern lieber tabun, vielleicht. Vielleicht fühle ich mich deshalb leichter in diesem Land, vielleicht aber auch nur, weil ich offensichtlich Außenseiterin bin. Ich muss nicht mitspielen. Darf nur beobachten.

Nach langer Zeit werde ich Tatsu wiedersehen. Wir haben uns vor sechs Jahren in Kyoto kennengelernt, im konbini, einem 24-Stunden-Supermarkt, den es an jeder Straßenecke gibt. Ich verleibe mir Japan durchs Shoppen ein oder zumindest durch das Betrachten all dessen, was es zu kaufen gibt. Weiße Polyester-Oberhemden und Krawatten für die salary men, lange Handschuhe für die Frauen, um Hände und Arme beim Fahrradfahren vor der Sonne zu schützen, parfümiertes Gel für nackte Frauenbeine, Strumpfhosen, Intimsprays mit Kirschblütenduft, Schreibbedarf, Mangas für jeden Geschmack, von Pornos bis zu Katzengeschichten, Bier und Sake im Glas, Mahlzeiten für die Mikrowelle, einzeln verpackte salzige Pflaumen, die besten Eiersandwiches der Welt, onigiri mit verschiedensten Füllungen, Regenschirme, Sonnenhüte, Schokolade, Reiscakes und Baumkuchen. Hundertfach haben sich Verkäufer und Verkäuferinnen in ihrer Uniform, schwarze Schürze über weißer Bluse, vor mir verbeugt, wenn sie mir Wechselgeld und Einkauf in einer Plastiktüte gaben, und ich habe gelernt, auf Japanisch zu sagen: Ich brauche keine Plastiktüte, danke. Worauf sie sie leicht verwirrt zurücknahmen, wegwarfen und sich wieder verbeugten. Manchmal verfluche ich diese fast roboterhafte Höf‌lichkeit, um sie kurz darauf als beispielhaft zu loben. Wie fast alle Japanreisenden bewundere ich die unvergleichliche japanische Ästhetik und kritisiere im...

Erscheint lt. Verlag 23.2.2022
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater
Schlagworte 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Abenteuer • Abhängigkeit • Alleinsein • Älterwerden • Angst • Annie • Assoziationen • Atmen • Aufbruch • Autobiografisch • Autofiktion • Beziehungen • Campbell • Campbell, Joseph • Chris • Cusk • Cusk, Rachel • Deutsche Literatur • Deutschland • Diskriminierung • Ditlevsen • Ditlevsen, Tove • Drache • Dramaturgie • Dunham • Dunham, Lena • Erinnerung • Ernaux • Ernaux, Annie • Essay • Feminismus • Film • Flugzeug • Frau • Frausein • Freundschaft • Geschichtenerzählen • Heldenreise • Heros • Heti • Heti, Sheila • Japan • Joseph • Kraus • Kraus, Chris • Kyoto • Leben • Leben, schreiben, atmen • Lena • Liebe • Marrakesch • Memoir • München • Mut • Mutterschaft • Non-fiction • Privilegien • Rachel • Rassismus • Regisseurin • Reisen • San Francisco • Schreiben • Schreibratgeber • Schreibschule • Sheila • Tokio • Tourismus • tove • Unabhängigkeit • Unterwegs • USA • weibliche Rollen • Weiblichkeit
ISBN-10 3-257-61264-8 / 3257612648
ISBN-13 978-3-257-61264-6 / 9783257612646
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