Tränen im Asia-Markt (eBook)
310 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2617-7 (ISBN)
Michelle Zauner wuchs als einziges Kind einer koreanischen Mutter und eines amerikanischen Vaters im Bundesstaat Oregon auf. Als Indie-Musikerin brachte sie unter dem Namen »Japanese Breakfast« 2016 ihr Debut-Album heraus. An den viralen Erfolg ihres New Yorker-Artikels, in dem sie den Tod ihrer Mutter verarbeitet, schließt Zauner nun mit ihrem ersten Buch, Tränen im Asia-Markt, an.
Michelle Zauner wuchs als einziges Kind einer koreanischen Mutter und eines amerikanischen Vaters im Bundesstaat Oregon auf. Als Indie-Musikerin brachte sie unter dem Namen "Japanese Breakfast" 2016 ihr Debut-Album heraus. An den viralen Erfolg ihres New Yorker-Artikels, in dem sie den Tod ihrer Mutter verarbeitet, schließt Zauner nun mit ihrem ersten Buch, Tränen im Asia-Markt, an.
1 Tränen im Asia-Markt
Seitdem meine Mutter gestorben ist, weine ich im Asia-Markt. Genauer gesagt im H Mart.
Der H Mart ist eine koreanisch-amerikanische Supermarktkette, die sich auf asiatische Lebensmittel spezialisiert hat. Das H steht für »Han Ah Reum«, eine koreanische Wendung, die sich in etwa mit »ein Arm voll Lebensmittel« übersetzen lässt. Im H Mart scharen sich allein in die USA gekommene junge Leute, um genau die Marke Instantnudeln aufzutreiben, die sie an zu Hause erinnert. Hier kaufen koreanische Familien Reiskuchen für Tteokguk ein, die Suppe, die an Neujahr serviert wird. Nur hier gibt es ein riesiges Fass voller geschälter Knoblauchzehen, denn nur hier weiß man, welche Unmengen an Knoblauch für das Essen aus der Heimat tatsächlich benötigt werden. H Mart bedeutet, aus dem einen Gang im normalen Supermarkt auszubrechen, der mit »Internationale Feinkost« beschriftet ist. Hier stellen sie keine Bohnen von Goya neben die Sriracha-Sauce. Stattdessen kann man mich bei den Kühlschränken voll Banchan-Beilagen finden, weinend, weil ich mich an die Eier in Sojasauce und die kalte Rettichsuppe meiner Mutter erinnere. Oder man sieht mich bei den Tiefkühltruhen mit einer Packung Dumplingteig in der Hand und in Gedanken bei all den Stunden, die Mom und ich am Küchentisch damit verbracht haben, Gehacktes vom Schwein und Schnittlauch in den dünnen Teig einzuwickeln. Oder wie ich bei den Trockenwaren schluchze und mich frage, ob ich überhaupt noch als Koreanerin durchgehe, wenn ich niemanden mehr anrufen kann, um zu fragen, welche Marke Seetang wir immer gekauft haben.
Als Tochter eines weißen Amerikaners und einer Koreanerin verließ ich mich auf meine Mutter, was den Zugang zu unserem koreanischen Erbe betraf. Obwohl sie mir nie das Kochen beigebracht hat (Koreanerinnen haben einen Hang dazu, Abmessungen abzulehnen und lediglich kryptische Anweisungen zu geben wie »gib so viel Sesamöl dazu, bis es schmeckt wie bei Mom«), hat sie mir doch ein sehr koreanisches Essverhalten beigebracht. Dazu gehört es, gutes Essen zu verehren, und der Hang dazu, gefühlsabhängig zu essen. Wir waren bei allem eigen: Kimchi musste genau richtig sauer sein, Samgyeopsal vollendet knusprig; Eintöpfe mussten kochend heiß sein, sonst waren sie praktisch ungenießbar. Das Konzept, Gerichte für die Woche vorzukochen, war ein Affront gegen unseren Lebensstil. Wir gingen unserem Verlangen täglich nach. Wenn wir drei Wochen lang Kimchi-Eintopf wollten, dann aßen wir drei Wochen lang Kimchi-Eintopf, bis uns ein neues Verlangen überkam.
Wir ließen uns von Jahreszeiten und Feiertagen leiten. Wenn der Frühling kam und es wärmer wurde, stellten wir draußen unseren Campingkocher auf und brieten frische Schweinebauchstreifen auf der Terrasse. An meinem Geburtstag aßen wir Miyeokguk – eine kräftige, nährstoffreiche Seetangsuppe, die Frauen nach der Entbindung empfohlen wird und die
man in Korea zu Ehren der Mutter traditionell an Geburtstagen isst.
Durch Essen drückte meine Mutter ihre Liebe aus. Egal, wie kritisch oder grausam sie mir mit ihrem ständigen Drängen und ihren erbitterten Erwartungen erschien – ich spürte stets, wie mir ihre Zuneigung aus den Lunchpaketen, die sie packte, und aus den Mahlzeiten, die sie genau nach meinen Vorlieben zubereitete, entgegenstieg. Ich spreche nur ein paar Brocken Koreanisch, aber im H Mart kommt es mir vor, als könnte ich es fließend. Ich streichle die Produkte und sage laut ihre Namen – Chamoe-Melonen, Danmuji. In meinem Einkaufswagen landen Snacks, auf deren glänzender Verpackung vertraute Zeichentrickfiguren auftauchen. Ich denke an damals, als Mom mir zeigte, wie man die kleine Plastikkarte, die in einer Tüte Jolly Pong steckt, zu einem Löffel faltet, mit dem ich mir dann den Karamell-Puffreis in den Mund schaufeln konnte, und wie der Reis dabei unweigerlich auf meinem T-Shirt landete und sich im ganzen Auto verteilte. Ich denke daran, wie Mom mir von den Süßigkeiten erzählte, die sie als Kind gegessen hatte, und wie ich versuchte, mir meine Mutter in meinem Alter vorzustellen. Ich wollte alles mögen, was sie mochte, wollte sie voll und ganz verkörpern.
Meine Trauer kommt in Wellen und wird in der Regel von etwas Willkürlichem ausgelöst. Ich kann davon erzählen, wie ich zusah, als meiner Mutter in der Badewanne die Haare ausfielen, ohne eine Miene zu verziehen, oder von den fünf Wochen berichten, die ich in Krankenhäusern übernachtet habe, aber wenn irgendein Kind im H Mart mit den Händen voll Ppeongtwigi-Tüten an mir vorbeirennt, breche ich zusammen. Die kleinen Frisbees aus Puffreis waren meine Kindheit, die glücklichere Zeit, als Mom noch da war und wir nach der Schule die styroporähnlichen Scheibchen knabberten, sie auseinanderbrachen, als würden wir Erdnüsse knacken, und sie dann auf der Zunge zergehen ließen wie Zucker.
Ich weine, wenn ich im Food-Court eine koreanische Großmutter sehe, die Nudelsuppe mit Meeresfrüchten isst und ihre Garnelenköpfe und Muschelschalen auf dem Metalldeckel neben der Reisschale ihrer Tochter ablegt. Das graue Haar kraus, die Wangenknochen hervorstehend wie zwei Pfirsiche, tätowierte Augenbrauen, deren Farbe rostet. Dann frage ich mich, wie meine Mutter mit siebzig ausgesehen hätte, ob auch sie schließlich die gleiche Dauerwelle getragen hätte wie alle anderen koreanischen Großmütter, als wäre es ein evolutionäres Merkmal. Ich stelle mir vor, wie wir, die Arme untergehakt, auf der Rolltreppe zum Food-Court stehen, ihre schmale Gestalt an meine gelehnt. Beide ganz in Schwarz gekleidet, »New-York-mäßig«, würde sie sagen, denn ihr Bild von New York entsprach noch immer der Ära, in der Frühstück bei Tiffany spielt. Sie würde die Chanel-Handtasche aus gestepptem Leder tragen, die sie sich ihr Leben lang gewünscht hatte, und nicht eine von den Imitaten, die sie irgendwo auf der Straße in Itaewon erstanden hatte. Ihre Hände und ihr Gesicht wären ein wenig klebrig von einer Antifaltencreme aus den Dauerwerbesendungen auf QVC. An den Füßen würde sie irgendwelche merkwürdigen hohen Sneakers mit Keilabsatz tragen, mit denen ich mich nicht anfreunden könnte. »Michelle, in Korea tragen alle Promis die.« Sie würde Fusseln von meinem Mantel zupfen und auf mir herumhacken – wie krumm ich stünde, dass ich neue Schuhe bräuchte, dass ich wirklich damit anfangen sollte, das Arganöl-Pflegeprodukt zu benutzen, das sie mir gekauft hatte –, aber wir wären zusammen.
Wenn ich ehrlich bin, ist da eine Menge Wut. Ich bin wütend auf diese alte koreanische Frau, die ich nicht einmal kenne, weil sie lebt, aber meine Mutter nicht, als hätte das Weiterleben dieser Fremden irgendetwas mit meinem Verlust zu tun. Weil jemand, der so alt ist wie meine Mutter, selbst noch eine Mutter haben kann. Warum sitzt sie hier und schlürft ihre scharfen Jjampong-Nudeln, aber meine Mutter nicht? Anderen Menschen muss es da gehen wie mir. Das Leben ist ungerecht, und gelegentlich hilft es, wenn ich auf irrationale Weise jemandem die Schuld dafür gebe.
Manchmal fühlt sich meine Trauer an, als hätte man mich in einem Zimmer ohne Türen allein gelassen. Jedes Mal, wenn ich mich daran erinnere, dass meine Mutter tot ist, kommt es mir vor, als würde ich gegen eine Wand prallen, die nicht nachgibt. Es gibt kein Entkommen, nur eine harte Oberfläche, gegen die ich immer wieder stoße und die mich an die unabänderliche Tatsache erinnert, dass ich meine Mutter niemals wiedersehen werde.
H Marts befinden sich üblicherweise am Stadtrand und bilden das Herzstück von Einkaufsstraßen mit asiatischen Schaufensterfronten und Restaurants, die immer besser sind als im Stadtzentrum. Die koreanischen Restaurants hier beladen die Tische so reichlich mit Banchan-Beilagen, dass man nicht anders kann, als eine endlose Runde horizontales Jenga mit zwölf Schälchen voller gebratener Anchovis, gefüllter Gurken und allem, was es sonst an Eingelegtem gibt, zu spielen. Nicht wie in dem traurigen Laden mit asiatischer Fusionsküche bei der Arbeit um die Ecke, wo sie Paprika ins Bibimbap tun und dich empört angucken, wenn du fragst, ob du noch ein paar welke Sojasprossen bekommen könntest. Hier gibt’s das richtige Zeug.
Du wirst merken, dass du auf dem richtigen Weg bist, denn Zeichen werden dich auf deiner Pilgerreise leiten. Die Schriftzüge an den Vordächern werden sich allmählich in Symbole verwandeln, die du vielleicht lesen kannst, vielleicht auch nicht. Ab hier werden meine Koreanischkenntnisse, die auf dem Niveau einer Grundschülerin stehen geblieben sind, auf die Probe gestellt – wie schnell kann ich die Vokale im Vorbeifahren aussprechen? Über sechs Jahre lang bin ich jeden Freitag zum Koreanischunterricht zur Hangul Hakkyo gegangen, und mehr habe ich nicht vorzuweisen. Ich kann die Schilder lesen, die auf Kirchen aufmerksam machen, auf einen Optiker, eine Bank. Noch ein paar Straßen weiter, und wir befinden uns mittendrin. Auf einmal sind wir in einem anderen Land. Alle hier sehen asiatisch aus, unterschiedliche Dialekte schwirren hin und her wie unsichtbare Telefonkabel, die einzigen englischen Begriffe sind »hot pot« und Namen von Spirituosenmarken, und selbst die sind vergraben...
Erscheint lt. Verlag | 18.10.2021 |
---|---|
Übersetzer | Corinna Rodewald |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Kunst / Musik / Theater ► Musik | |
Sachbuch/Ratgeber ► Essen / Trinken | |
Schlagworte | Essen und Trinken • Identität • Indiemusik • Japanese Breakfast • Kochen • Kochen, Essen und Trinken • koreanische Küche • Musik • Mutterliebe • New York Times Bestseller • Südkorea • USA • Verlust der Mutter |
ISBN-10 | 3-8437-2617-5 / 3843726175 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2617-7 / 9783843726177 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich