Kapital und Ressentiment (eBook)
224 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76954-2 (ISBN)
Es zieht sich eine Spur der Zerstörung von der Herrschaft der Finanzmärkte über die neuen Netzgiganten bis hin zur dynamisierten Meinungsindustrie. Auf der Strecke bleiben dabei Demokratie, Freiheit und soziale Verantwortung. Joseph Vogl rekonstruiert in seiner brillanten Analyse, wie im digitalen Zeitalter ganz neue unternehmerische Machtformen entstanden sind, die unser vertrautes politisches Universum mit einer eigenen Bewertungslogik überschreiben und über nationale Grenzen hinweg immer massiver in die Entscheidungsprozesse von Regierungen, Gesellschaften und Volkswirtschaften eingreifen.
Drei Thesen zum gegenwärtigen Zeitalter enthält das neue Buch von Joseph Vogl, der seit seinem Bestseller 'Das Gespenst des Kapitals' zu den interessantesten Wortführern einer neuen Generation von Kapitalismuskritikern gehört. Erstens: Der Internet- und Plattformkapitalismus der Gegenwart (von Amazon bis Google) ist die jüngste Metamorphose eines Finanzregimes, das sich in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt und die Bewirtschaftung von Informationen als attraktive Quelle der Wertschöpfung erkannt hat. Zweitens: Diese Fusion von Finanzökonomie und Kommunikationstechnologien etabliert neue Paradigmen der Macht, deren Resultat fragmentierte Öffentlichkeiten, gesellschaftliche Schismen und Demokratieverlust sind. Drittens: Affektökonomien mit dem Treibstoff des Ressentiments stabilisieren die Dominanz dieses neuen Plattformkapitalismus auf Kosten des Gemeinwohls.
Joseph Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University. Sein letztes Buch "Der Souveränitätseffekt" war 2015 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert.
2. Kapitel
Informationsstandard – zur Episteme der Finanzökonomie
Die Voraussetzung solcher Wertschöpfung sowie die Dominanz des modernen Finanzregimes lassen sich allerdings nicht ohne die Symbiosen und Konvergenzen zwischen Finanzkapital und Informationstechnologien erklären. Von spätmittelalterlichen Kaufmannsbriefen bis zur Entstehung von Nachrichtenagenturen hat man die enge Verflechtung von Handelsgeschäften und Zeitungswesen dokumentiert, und insbesondere die Dynamik des Banken- und Börsenverkehrs hat sich stets in Abhängigkeit von medialen Infrastrukturen definiert. Der finanzökonomische Einsatz von Postreitern oder Brieftauben, von optischen oder elektromagnetischen Telegrafen war der Suche nach marginalen Vorsprüngen an Marktinformationen geschuldet und hat sich in der Überlagerung von Finanz- und Pressemetropolen sowie in der Neigung zu technologisch getriebener Beschleunigung manifestiert. Es waren vor allem Bankiers, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts neue Telegrafenlinien zwischen Finanzzentren finanzierten, deren Hauptnutzer wurden, bisweilen gegen Staatsmonopole opponierten, den Handel mit Geschäftsnachrichten forcierten, die Kanäle mit Wirtschafts- und Börsendaten beschickten und damit zwischen vierzig und sechzig Prozent des gesamten Telegrafenbetriebs belegten. Bis hin zur Verlegung von submarinen transatlantischen Glasfaserkabeln um die Jahrtausendwende waren es finanzökonomische Beschleunigungsbedürfnisse wie der Hochfrequenzhandel, welche den Ausbau globaler Netzwerke vorangetrieben haben.[1]
Dabei sind es wiederum die 1970er Jahre gewesen, in denen die Finanzmärkte durch einen konjunkturellen Zusammenschluss von Wirtschaftsinformation und Informationsökonomie expandieren konnten und privilegierte Schauplätze mobilisierten. Die Gründung der elektronischen Börse Nasdaq in New York etwa – um eines der prominentesten Beispiele zu nennen – geht zunächst auf die zwanziger Jahre zurück, die nicht nur zur Großen Depression, sondern auch zu neuen und aussichtsreichen Interessenvereinigungen wie der von Wertpapierhändlern führten. Die US-amerikanische National Association of Securities Dealers (NASD) befasste sich schon seit den dreißiger Jahren insbesondere mit jenen Aktien- und Kapitalgeschäften, die abseits vom Börsenparkett in amorphen Netzwerken und over-the-counter zwischen individuellen Investoren und Maklern abgewickelt wurden. 1971 und im Umkreis vom Ende des Abkommens von Bretton Woods hat die NSAD dann die National Association of Securities Dealers Automated Quotations, also die NASDAQ, einen automatischen Informationsdienst über Kursnotierungen für Effektenhändler gegründet. Was als elektronisches Anzeigesystem, als eine in Echtzeit operierende Nachrichtenagentur für einige Tausend Clubmitglieder begann und den Ruf eines ersten Computernetzwerks – zunächst noch über Telefonleitungen verknüpft – erhielt, hat sich dann zu einer Plattform entwickelt, auf der Maklerunternehmen elektronische Handelssysteme betrieben, online-Investitionen, direkte An- und Verkäufe von Aktien sowie seit den achtziger Jahren die automatische Erledigung von Aufträgen ermöglichten. Ein Arrangement von Preisinformationen hat sich zu einem automatisierten Maklersystem transformiert; Marktinformationen wurden nicht mehr bloß übertragen, sondern sogleich durch Kaufentscheidungen bewertet und modifiziert. Abgesehen davon, dass diese Ersetzung des traditionellen Parketthandels durch Großrechner Käufer und Verkäufer ohne personelle Zwischeninstanzen verschaltete und Transaktionskosten minimierte, trugen eine Lockerung von Börsengesetzen, die Absenkung von Zugangsschwellen für Einzelinvestoren und day traders, die Wucherung von privaten elektronischen Kommunikationsnetzwerken mit ca. 300.000 Terminals dazu bei, dass die Nasdaq, herkommend aus außerbörslichen Geschäften, zur Szene eines ebenso volatilen wie schnell anwachsenden Aktienmarkts wurde. Am Ende des Jahrtausends hat dies die Vision einer inklusiven, «für jedermann, überall auf der Welt und 24 Stunden am Tag»[2] zugänglichen Finanzmaschine genährt.
Die finanzökonomische Adoption informationstechnischer Modernisierung wurde durch gezielte Investitionen der Finanzindustrie in die IT-Branche ergänzt, und für besonderen Schwung sorgten dabei jene Börsengänge, die seit den achtziger Jahren vor allem von Technologie-, Medien- und Software-Unternehmen sowie von Internet-Start-ups betrieben wurden. Dabei wurden ‹neue Märkte› nicht bloß durch expandierende Firmen wie Netscape, Microsoft, Cisco, Intel oder Oracle, sondern auch durch die Allianz von Nasdaq-Premieren und so genanntem venture capital animiert. Die gelockerten Auflagen für eine Börsennotierung erleichterten beschleunigte Börsenstarts, die oft von barocken Werbekampagnen begleitet wurden. Sie stießen selbst bei Unternehmen, die bislang keinen Profit oder nur Verluste eingebracht hatten, zuweilen Kurssprünge von mehreren hundert Prozent pro Jahr an und trugen dazu bei, dass der Nasdaq-Index allein in den späten neunziger Jahren um achtzig Prozent, die Marktkapitalisierung um mehr als 350 Prozent ansteigen konnten. Bereits 1994 übertraf das Handelsvolumen von Nasdaq das der alten New Yorker Börse; und die Fusion von Nasdaq mit der u.a. auf Finanzprodukte spezialisierten American Stock Exchange im Jahr 1998 schuf zudem einen Zugang zum Handel mit Finanzderivaten und börsennotierten Investmentfonds. Wenn man am Beispiel von Nasdaq die Verfertigung eines «Markts aller Märkte» und des größten globalen «Liquiditätspools» erkennen mochte[3], dessen systemische Bedeutung sich auch im Krach vom April 2000 – mit der Vernichtung von zwei Billionen Dollar an Aktienwerten innerhalb einer Woche – manifestierte, so war dies einer effektiven Zusammenfügung von Kommunikationstechnologie, Finanz- und Informationsökonomie geschuldet. Die Nasdaq konnte damit zum Synonym für die Konjunktur und den Absturz einer New Economy werden.
Exemplarisch und praktisch lassen sich solche Verkettungen von Information und Finanz auch im Kreislauf von Unternehmensbeteiligungen demonstrieren. So stand etwa die Nachrichtenagentur Reuters – die Mitte des 19. Jahrhunderts als Dienstleister für Finanzinformationen gegründet wurde, dann ihr Angebot auf journalistischen Nachrichtenbedarf überhaupt ausweitete und zu einer der größten Agenturen weltweit geworden war – in den sechziger Jahren kurz vor dem Bankrott. Als aber nach dem Ende des Abkommens von Bretton Woods fluktuierende Währungskurse und diverse Finanzinstrumente breitere Spielräume für spekulative Geschäfte eröffneten, hat sich Reuters seit Anfang der siebziger Jahre mit neuer Bildschirmtechnik (Videomaster) und dem elektronischen Kommunikationssystem Reuters Monitor Money Rates wiederum auf Finanznachrichten über Devisen-, Wertpapier- und Geldmärkte spezialisiert, und nach dem Zugewinn von Subskribenten und hohen Profitsteigerungen wurde das Unternehmen im Jahr 1984 sowohl an die Londoner Börse wie an die New Yorker Nasdaq gebracht. Parallel dazu hatte bereits 1969 das elektronische Handelssystem Institutional Network Corporation (Instinet) seinen Betrieb aufgenommen und noch vor dem Start von Nasdaq einen dezentralen Handel mit Wertpapieren zwischen Banken, Investmentfonds und Versicherungen begonnen, der sich als Konkurrenz zu den traditionellen Börsengeschäften an der New York Stock Exchange verstand. Als wohl ältestes unter den electronic communications networks war es am Aufbau von Nasdaq beteiligt, koordinierte als Maklerfirma die Angebote und Nachfragen von Wertpapieren, wurde schließlich 1987 von Reuters gekauft, um dann mit stetig wachsendem Marktanteil 15 bis 25 Prozent des Handelsvolumens von Nasdaq abzuwickeln. Wie in vielen anderen, ähnlichen oder verwandten Fällen – etwa in der Übernahme des Aktienindex Dow Jones Industrial Average durch Rupert Murdochs News Corporation 2007 – konnte man auch darin ein Beispiel dafür sehen, auf welche Weise sich die Befestigung des Finanzregimes seit den siebziger Jahren der Verschaltung von Informations- und Finanzmärkten, einer Verschränkung von Medien- und Finanzunternehmen verdankte.[4]
Solche Konsortien sowie die Funktionsweise der Nasdaq, die man als erstes weltweites Netz, als Vorläufer des Internet sowie als prototypisches Plattformunternehmen auszeichnen wollte[5], haben nicht nur als Antrieb der Finanzialisierung funktioniert und für die notorische Ausweitung, Vervielfältigung und Beschleunigung von Finanzgeschäften gesorgt. Sie zeigen auch eine technische, ökonomische und strategische Wahlverwandtschaft zwischen Kommunikationsmedien und...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik |
Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Wirtschaft | |
Wirtschaft ► Allgemeines / Lexika | |
Wirtschaft ► Betriebswirtschaft / Management | |
Schlagworte | Analyse • Big Tech • Demokratie • Finanzmärkte • Freiheit • GAFAM • Joseph Vogl • Kapitalismuskritik • Kommunikationstechnologien • Soziale Verantwortung • Soziologie • Wirtschaft |
ISBN-10 | 3-406-76954-3 / 3406769543 |
ISBN-13 | 978-3-406-76954-2 / 9783406769542 |
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