Fable - Das Geheimnis der Mitternacht (Fable 2) (eBook)
352 Seiten
arsEdition GmbH (Verlag)
978-3-8458-5646-9 (ISBN)
Geboren und aufgewachsen in Texas, lebt Adrienne Young heute in den Blue Ridge Mountains in North Carolina. Sie ist eine Feinschmeckerin, deren große Liebe dem Reisen und der Geschichte gilt und die sich zu ihrer Kaffeesucht bekennt. Wenn sie nicht gerade schreibt, findet man sie auf ihrer Yogamatte, auf Antiquitätenmessen, auf denen sie alte Bücherschätze sucht, beim Abendessen mit einem Glas Wein oder in einem ihrer Lieblingsmuseen.
Kapitel 1
Das laute Geräusch eines Flaschenzugs, der auf das Deck knallte, riss mich aus meinen Gedanken, und plötzlich war die ausgewaschene Welt um mich herum wieder da. Schritte auf Holzplanken. Schatten auf dem Achterdeck. Das Knattern der Segel am Hauptmast.
Als ich in das gleißende Sonnenlicht schaute, zuckte ein stechender Schmerz durch meinen Kopf. Trotzdem fing ich an zu zählen. Die Luna verfügte über mindestens zwanzig Besatzungsmitglieder, wahrscheinlich sogar mehr, wenn man die Waterside-Streuner mitzählte. Außerdem befanden sich bestimmt noch ein oder zwei Leute unter Deck und in der Kapitänskajüte. Zola hatte ich nicht mehr gesehen, seit ich auf dem Schiff aufgewacht war. Die letzten Stunden waren unerträglich langsam verstrichen, die Sonne schlich über den westlichen Teil des Himmels.
Unter Deck schlug eine Tür zu, und ich biss die Zähne zusammen, was den Schmerz in meinem Kiefer weckte. Clove stapfte quer über das Deck zum Steuerrad. Seine rauen Hände umfassten die Speichen und er richtete den Blick auf den glühenden Horizont.
Ich hatte den Steuermann meines Vaters nicht mehr gesehen, seit er vor vier Jahren zusammen mit Saint ein kleines Ruderboot in das Flachwasser vor Jeval geschoben und mich allein auf der Insel zurückgelassen hatte. Doch ich hätte ihn überall wiedererkannt. Sein Gesicht tauchte in jeder meiner Erinnerungen auf. Erinnerungen an die Lark, an meine Eltern – er war immer da, selbst in den ältesten, verschwommensten Bruchstücken.
Clove hatte mich kein einziges Mal angeschaut, seit ich ihn entdeckt hatte, aber die Art und Weise, wie er das Kinn reckte und stets über meinen Kopf hinwegschaute, verriet mir, dass er genau wusste, wer ich war.
Zusammen mit meinen Eltern war er die einzige Familie, die ich je gehabt hatte, und er hatte mir in der Nacht, in der die Lark in der Sturmfalle versank, das Leben gerettet. Andererseits hatte er sich nicht einmal umgedreht, als er und mein Vater Jeval den Rücken kehrten. Und er war nie zurückgekommen, um mich zu holen. Als Saint mir bei meinem Besuch in Ceros erzählt hatte, dass Clove »weg« sei, hatte ich mir einen Haufen Knochen in den Tiefen des Engen Meeres vorgestellt. Doch hier war er – Steuermann der Luna.
Er musste spüren, dass ich ihn beobachtete, und vielleicht stiegen auch in ihm gerade Erinnerungen auf, die er mühsam verdrängt hatte. Sein Rücken war durchgedrückt und seine kühle Miene wirkte leicht maskenhaft. Aber er vermied es weiter, mich anzusehen, und ich wusste nicht, was das bedeutete – war er noch der Clove aus meinen Erinnerungen oder war er zu einem anderen Menschen geworden? Die Antwort auf diese Frage könnte über mein Leben entscheiden.
Ein Paar Stiefel blieb vor dem Mast stehen und ich schaute nach oben, in das Gesicht einer Frau, die ich bereits am Morgen gesehen hatte. Ihr kurzes, strohblondes Haar fiel ihr in die Stirn, als sie einen Eimer Wasser neben mir abstellte und ein Messer aus dem Gürtel zog.
Dann hockte sie sich hin. Ihre Klinge reflektierte das Sonnenlicht, als sie nach meinen Händen griff. Ich versuchte mich wegzudrehen, aber die Frau zog am Seil und setzte den kalten Stahl zwischen meinen wunden Handgelenken an. Sie schnitt mich los.
Ich hielt still und beobachtete das Geschehen um uns herum. Meine Gedanken rasten und ich zog unauffällig meine Füße unter meinen Körper. Noch ein Schnitt, und meine Hände waren frei. Ich streckte die zitternden Finger aus. Sobald die Frau wegschaute, holte ich tief Luft und sprang mit einem Satz nach vorne. Sie riss die Augen auf, als ich sie zu Boden stieß. Ihr Kopf schlug hart auf den Planken auf. Ich drückte ihren Körper gegen die Taurollen auf der Steuerbordseite und griff nach dem Messer.
Schwere Schritte eilten auf uns zu, doch eine tiefe Stimme sagte: »Halt! Soll sie sich doch austoben.«
Die Besatzung erstarrte mitten in der Bewegung, aber diese kurze Ablenkung hatte dafür ausgereicht, dass sich die Frau unter mir wegrollen und mir die Ferse ihres Stiefels in die Seite rammen konnte. Ich grunzte und krabbelte auf sie zu, bis ich ihr Handgelenk packen konnte. Obwohl sie um sich trat, gelang es mir, ihre Hand gegen die eiserne Kurbel des Ankerspills zu schlagen. Beim zweiten, härteren Versuch spürte ich die kleinen Knochen unter ihrer Haut brechen, und sie ließ das Messer los.
Ich kletterte über sie hinweg, krallte es mir und drehte mich gleichzeitig mit dem Rücken zur Reling. Mit zitternden Fingern streckte ich die Klinge vor mir aus. Um uns herum war nichts als Wasser zu sehen. Kein Land, so weit das Auge reichte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde sich meine Brust zusammenschnüren, mein Herz wurde ganz schwer.
»Bist du jetzt fertig?«, ertönte die Stimme erneut, und sämtliche Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Vor dem Durchgang unter Deck stand der Kapitän der Luna, die Hände in den Taschen, und wirkte keineswegs besorgt darüber, dass ich mit einem Messer in der Hand über einem seiner Besatzungsmitglieder stand.
Als Zola sich jetzt einen Weg durch die Menge bahnte, sprach aus seinem Blick die gleiche Belustigung wie schon im Wirtshaus in Ceros. Auf seinem Gesicht lag ein spöttisches Grinsen.
»Ich habe gesagt, dass du sie waschen sollst, Calla.« Er schaute auf die Frau zu meinen Füßen.
Sie starrte mich wütend an, die anschwellende Hand an die Brust gedrückt. Ich hatte sie vor versammelter Mannschaft gedemütigt.
Zola trat langsam vier Schritte vor. Dann zog er eine Hand aus der Tasche und streckte sie aus. Mit dem Kopf deutete er auf das Messer. Als ich mich nicht rührte, wurde sein Lächeln breiter. Kurz senkte sich eisiges Schweigen über das Schiff. Dann schnellte Zolas zweite Hand hervor und schloss sich um meine Kehle. Er presste mich gegen die Reling und drückte zu, bis ich keine Luft mehr bekam. Dabei bog er mich nach hinten, sodass ich mit dem Oberkörper über dem Wasser hing und sich meine Zehenspitzen von den Planken lösten. Ich suchte die Köpfe hinter ihm nach Cloves blondem Schopf ab, konnte ihn aber nicht entdecken. Kurz bevor ich über Bord gestürzt wäre, ließ ich das Messer los, das mit einem hellen Klirren auf das Deck fiel und außer Reichweite rutschte.
Calla nahm es an sich und schob es sich wieder in den Gürtel. Sofort ließ Zola mich los. Meine Füße prallten auf das Deck und ich sank keuchend in den Seilstapel.
»Wasch sie«, wiederholte er. Dann sah er mich noch ein letztes Mal an, drehte sich um und lief an den anderen vorbei zum Steuerrad. Dort stand auch Clove. Beide wirkten vollkommen gleichgültig.
Calla packte mich mit ihrer gesunden Hand am Arm und riss mich hoch. Dann schob sie mich in Richtung Bug, wo der Wassereimer weiterhin neben dem Fockmast stand. Die Besatzung kehrte wieder an die Arbeit zurück und Calla zog einen alten Lappen aus dem Gürtel.
»Zieh dich aus«, blaffte sie mit Blick auf meine Kleidung. »Jetzt.«
Mein Blick fiel auf die einfachen Matrosen, die hinter ihr ihren Aufgaben nachgingen. Ich drehte mich Richtung Reling und zog mir das Hemd über den Kopf. Calla hockte sich neben mich, tunkte den Lappen ins Wasser und rieb ihn über ein Stück Seife, bis es schäumte. Dann hielt sie ihn mir ungeduldig hin. Ich nahm ihn und schrubbte mir damit das getrocknete Blut von den Armen, ohne den Blicken der Besatzung Beachtung zu schenken. Das Wasser, das von meiner Haut auf die Planken tropfte, war rosa.
Die Berührung auf meiner Haut versetzte mich zurück in Wests Kajüte, zu seinem warmen Körper, der sich an meinen drückte. Hinter meinen Augen brannten Tränen, doch ich blinzelte sie weg und verdrängte die Erinnerung, bevor sie mich überwältigte. Der Geruch am Morgen, als ich in seinem Bett aufgewacht war. Der Anblick seines Gesichtes im grauen Licht und sein Atem auf meiner Haut.
Ich hob die Hand an die Kuhle unter meiner Kehle und dachte an den Ring, den ich vom Höker zurückgeholt hatte. Wests Ring.
Er war verschwunden.
West war allein in seiner Kajüte aufgewacht. Er hatte bestimmt am Bug gestanden und den Kai beobachtet, und als ich nicht wiederkam, war er vielleicht durch Dern gestreift und hatte mich gesucht.
Ich wusste nicht, ob irgendjemand mitbekommen hatte, dass man mich auf die Luna verschleppt hatte. Wenn ja, hatte diese Person sicherlich niemandem davon erzählt. West musste davon ausgehen, dass ich einfach meine Meinung geändert hatte. Dass ich irgendeinen Händler mit einem Schiff dafür bezahlt hatte, mich mit zurück nach Ceros zu nehmen. Aber in dem Fall hätte ich doch das Geld aus dem Verkauf des Schatzes von der Lark eingesteckt. Das überlegte ich zumindest, in dem Versuch, mich selbst zu beruhigen.
West würde mich suchen. Er würde mir folgen.
Andererseits war das vielleicht noch schlimmer. Ich hatte die dunkle Seite des Kapitäns der Marigold bereits erlebt, und sie war wirklich finster. Nichts als Flammen und Rauch.
Du kennst ihn nicht.
Die Worte, die Saint am Morgen im Wirtshaus geäußert hatte, gingen mir nicht aus dem Kopf.
Vielleicht würden West und die Mannschaft der...
Erscheint lt. Verlag | 24.10.2024 |
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Übersetzer | Elisabeth Schmalen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-8458-5646-7 / 3845856467 |
ISBN-13 | 978-3-8458-5646-9 / 9783845856469 |
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