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Neue Heimat 1404 (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
TULIPAN VERLAG
978-3-641-32937-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Neue Heimat 1404 -  Frauke Angel
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Enna tickt ein bisschen anders. Im Moment vor allem anders als ihre Mutter Stella, mit der sie halsüberkopf aus dem gutbürgerlichen Stadtviertel in den 14. Stock einer Hochhaussiedlung umzieht. Während die erschöpfte Stella die neue Wohngegend als Ghetto bezeichnet, wittert Enna ihre Chance: Auf einen aufregenden Neuanfang, auf neue Freunde! Doch als gleich in der ersten Woche Ennas nagelneues Rad aus dem Fahrradraum geklaut wird, scheinen Stellas Vorurteile bestätigt und Enna sieht ihr neues Leben in Gefahr. Sie beschließt, den Dieb auf eigene Faust zu schnappen. Und sie bleibt mit ihrem Vorhaben nicht lange alleine: Mit Vivien, Firuz und den Zwillingen Jack und Joy, die alle im selben Turm wohnen, gründet sie eine Bande, die sie nach der Hochhaussiedlung 'Neue Heimat' nennen - und gemeinsam machen sie sich auf die turbulente Spurensuche.

Frauke Angel ist Schauspielerin und arbeitete zwanzig Jahre an deutschen Bühnen, bevor sie 2017 ihr Kinderbuchdebüt gab. Seitdem schreibt sie für Kinder, Jugendliche und manchmal auch für den Rest der Familie.

Vergissmeinnicht


Der Kellner erinnert mich an den Typi, der letztes Jahr Oma Uschis Urne ins Grab abgeseilt hat. Er trägt einen schwarzen Anzug über dem weißen Hemd mit schwarzer Fliege und steht so aufrecht und unbeweglich hinter der gläsernen Kuchenvitrine, dass man glauben könnte, er sei tot. Was er – wie ich schon weiß – nicht ist, denn er hat uns vor zehn Minuten Kaffee und Kakao an den Tisch gebracht. Während Mama mit dem Löffel in ihrer Kaffeetasse rührt und es schafft, in immer gleichen Abständen ein leises, aber nerviges Pling! hervorzuzaubern, fixiere ich seine Augen und zähle. Bei 35 muss der Kellner endlich blinzeln und ich gähnen. Es ist Samstagmorgen kurz nach neun, ich bin müde und hab nicht die geringste Ahnung, warum wir hier sind, denn beerdigt wird bei uns, soweit ich weiß, heute niemand und einziehen werden wir hier wohl kaum.

»Magst du ein Stück Kuchen zum Frühstück, Enna?«, fragt Mama plötzlich, ohne die Rührerei zu unterbrechen, denn sie hat meinen Blick zur Vitrine bemerkt. Eigentlich habe ich noch keinen richtigen Hunger, aber dann höre ich mich plötzlich »Torte« sagen. Mama dreht sich um und winkt nach dem Kellner, der sich unerwartet schnell von seinem Platz hinter der Vitrine löst und im aufrechten Stechschritt durch das Café auf unseren Tisch zusteuert. Ich zähle sechzehn Schritte, bis der Totengräber bei uns ist und die Bestellung entgegennimmt.

»Meine Tochter hätte gerne ein Stück Torte«, sagt Mama, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, den Samstag mit einem Stück Torte zu beginnen.

»Schokoladentorte«, ergänze ich, doch das reicht dem Kellner nicht aus.

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen, um Ihre Auswahl zu treffen«, sagt er mechanisch und ich bereue die Bestellung sofort. Es irritiert mich, wenn Leute mich siezen. Was nicht oft passiert, denn ich bin zwölf. Und der Totengräber ist höchstens 25. Trotzdem erhebe ich mich und laufe hinter ihm her zur Vitrine, 27 Schritte sind es bei mir.

Eins, zwei, drei. Ich zeige auf den Kuchen, der als einziger überhaupt nach Schokolade aussieht, und dann beobachte ich, wie der Kellner überraschend langsam ein Stück davon abschneidet und es äußerst akkurat auf einen Teller schiebt. Ich warte darauf, dass er mir den Teller über die Vitrine reicht, doch er scheint mich nicht mal zu bemerken, jedenfalls guckt er mich nicht eine Sekunde an. Stattdessen läuft er mit meiner Torte in der Hand um die Vitrine herum und im Stechschritt exakt denselben Weg zu unserem Tisch zurück, wo er den Teller an meinem Platz abstellt, um gleich darauf auf seinen Posten hinter der Vitrine zurückzukehren, wobei ich ihm ausweichen muss, denn er ändert seine Route nicht einen Millimeter.

Und deshalb muss ich an Papa denken. Oder vielmehr an die Zombieserie, die er gesuchtet hat, bevor er richtig krank wurde, und die ich eigentlich nicht mitgucken durfte, weil die ab achtzehn ist. Was ich aber trotzdem einmal gemacht habe, als Papa vor dem Laptop eingepennt ist, und was zu einem krassen Streit zwischen Mama und Papa geführt hat. Den ich zwar auch gruselig fand, aber lange nicht so gruselig wie das Zombielächeln, mit dem die beiden ab dann wie ferngesteuert durch unsere Wohnung und aneinander vorbeigelaufen sind.

Plötzlich habe ich gar keinen Hunger mehr. Der Kellner lächelt zwar nicht wie Zombiepapa, trotzdem läuft hier der falsche Film. Denn Mama ist heute wirklich überaus freundlich. Viel zu freundlich, als dass es mit dem frühen Aufstehen am Wochenende zusammenpassen kann. Mama ist ein Morgenmuffel. Ein mega Morgenmuffel. Vor zehn darf man sie eigentlich überhaupt nicht ansprechen. Oder wenn man es tut, zumindest keine Antwort erwarten. Mama schmiert sogar meine Schulbrote am Abend zuvor, damit sie morgens nicht mit mir über den Belag reden muss. Wirklich wahr. Wenn ich morgens Redebedarf habe, dann unterhalte ich mich mit der Frau im Radio, meinen Zimmerpflanzen oder mit mir selbst. Das war schon immer so und darf es von mir aus auch bleiben. Ich hab damit kein Problem. Das krieg ich erst, wenn meine Gedanken sich bei den Selbstgesprächen verhaken und ich von dem Tripp nicht mehr runterkomme. Und das passiert genau jetzt. Ich starre auf die Torte und stelle mir vor, dass die Zombies längst die Weltherrschaft übernommen haben und in den Körpern der Menschen wohnen, die ich liebe. Diese Zombies werden von KI gesteuert. Deshalb haben sie immer gute Laune und niemals Bauchschmerzen, egal wie viel Torte sie zum Frühstück verdrücken. Sie bekommen auch keinen Durchfall, sie kacken Glückswürste, die nach Frühlingswiese duften und die auf Toiletten, begleitet von lieblichem Vogelgezwitscher lautlos eingesogen werden, ohne dass jemand die Klospülung drücken muss. Was einerseits gut ist, weil ich das Geräusch von Klospülungen hasse. Und andererseits schlecht, denn ich bin offensichtlich keiner dieser Zombies. Ich habe Bauschmerzen. Und das ganz ohne Torte.

Inzwischen dröhnt in meinem Kopf das mechanische Pling! von Mamas Kaffeelöffel, mit dem sie noch immer in ihrer Tasse rührt, wobei es da gar nichts zu rühren gibt. Mama trinkt ihren Kaffee schwarz und ohne Zucker. Warum nur sitzen wir im Nirgendwo der Stadt in einem Friedhofscafé und bestellen Torte zum Frühstück, wenn wir um zehn eine Wohnungsbesichtigung haben? Warum hat Mama sich am Samstag geschminkt, Rock und Pumps angezogen, obwohl wir mit den Rädern hergefahren sind? Warum trägt sie eine Handtasche, anstatt des Rucksacks, den sie beim Radfahren immer aufhat? Hat man mehr Chancen auf eine schicke Wohnung, wenn man selbst aussieht wie eine Immobilienmaklerin? Oder ist diese Frau neben mir vielleicht gar nicht meine Mutter, sondern ein Zombie?

Bevor ich komplett abdrifte, seufzt die Frau plötzlich so schwer, dass ich meine Gedanken augenblicklich zur Seite schieben kann, denn dieses Geräusch kenne ich. Und es gehört eindeutig zu meiner Mutter. Nicht seit ich denken kann, aber doch seit einigen Wochen. Genau genommen seit Papa weg ist und wir auf Wohnungssuche sind. Wobei ich inzwischen weiß, dass es mehr mit der Wohnung als mit Papa zu tun hat, auch wenn Mama beides irgendwie Sorgen bereitet. Doch mit der Trennung von Papa kommt sie besser klar, als mit dem Gedanken, bald mit mir unter der Brücke schlafen zu müssen. Das jedenfalls hat sie am Telefon zu Cleopatra gesagt und auch, dass sie niemals gedacht hätte, wie schwer es ist, als Solo-Frau mit Kind eine schöne, bezahlbare Wohnung zu finden und die dann auch noch zu bekommen. Cleo hat Mama angeboten, dass wir – wenn alle Stricke reißen – auch erst mal zu ihr nach Hamburg ziehen können, wo sie ganz alleine in einer riesigen Wohnung lebt, die auch noch ihr gehört, sodass wir für den Anfang nicht mal Miete zahlen müssten. Aber Mama meinte, das ginge leider nicht, weil ich hier in der Stadt meine Schule, meine Freund:innen und meine Therapeutin habe und sie wenigstens für ein paar Verlässlichkeiten in meinem Leben sorgen müsse, damit ich nicht noch mehr Störungen entwickele.

Am liebsten wäre ich in ihr Telefonat mit genauso einer Störung reingegrätscht, um klarzustellen, dass ich gar nichts dagegen habe, woanders noch mal neu anzufangen. Am liebsten mit Freund:innen und ohne Therapeutin. Aber dann hätte Mama gewusst, dass ich sie belausche, und das wäre besonders unklug, weil ich momentan fast alle meine Informationen aus ihren Telefonaten mit Cleo beziehe. Mama ist nämlich der Meinung, jedes Kind habe das unbedingte Recht auf eine glückliche Kindheit, ganz egal was für ein Massaker seine Zombieeltern gerade veranstalten. Und auch wie diese glückliche Kindheit aussieht, weiß Mama ganz genau, und sie gibt sich allergrößte Mühe, damit es mir außer an Papa in dieser Kindheit an nichts fehlt. Weshalb ich ihr den Gefallen tue und jetzt Schokoladentorte esse, obwohl mir schon nach dem zweiten Bissen schlecht von der Buttercreme wird.

Ich schiebe den Kuchenteller in die Mitte des Tisches und versuch es mit »Superlecker, die Torte, probier mal«.

Und es klappt! Morgenmuffel-Mama hört tatsächlich auf, in ihrer Tasse zu rühren. Stattdessen hackt sie den Löffel entschlossen in die Torte und beginnt zu schaufeln. Kurz kriege ich Angst um ihr Make-up, aber dann muss ich grinsen, denn mit der Schoki um den Lippenstiftmund sieht sie eigentlich schon fast wieder so aus, wie ich meine Mutter kenne und wie ich sie am liebsten mag.

»Okay, Enna«, sagt Mama dann, »es ist so: Ich will dir eine Wohnung zeigen. Hier. Also gleich hier. Gegenüber auf der anderen Straßenseite. Hast du … hast du zufällig das Haus gesehen?«

Ich versuche einen Blick durch das Fenster hinter Mama zu werfen, aber ich sehe nichts außer Autos und eine Straßenbahn, die genau jetzt vor dem Café hält und mir den Blick versperrt. Also schüttele ich den Kopf.

»Na ja«, fährt Mama fort, »sie ist jedenfalls bezahlbar, frisch renoviert, ab sofort frei und wir könnten sie kriegen. Ich … ich hab sie nämlich schon besichtigt. Sie ist allerdings nicht ganz das, was ich gesucht habe.« Mama zerlegt jetzt das Stück Torte in Einzelteile, die sie auf dem Teller hin- und herschiebt. »Sie ist eigentlich gar nichts von dem, was ich gesucht habe«, seufzt Mama schließlich, und es dauert ein bisschen, bis ich kapiere, dass sie nicht die Torte, sondern die Wohnung meint. »Sie ist … also das Haus ist … speziell und eher was für den Übergang. Und wenn du sagst, es geht gar nicht, dann machen wir das auch nicht, okay, Enna? Du entscheidest! Und ich … ich finde noch was anderes, ja? Mach dir keine Sorgen. Hörst du? Keine Sorgen! Wir kriegen das hin.«

Mama lässt den Löffel sinken und guckt mich eindringlich an. Dann streicht...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Illustrationen Stephanie Brittnacher
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte 2024 • ab 10 • ab 11 • Bande • eBooks • Gang • Kennenlernen • Kinderbuch • Kinderbücher • Kinderkrimi • Multikulti • Neuerscheinung • Umzug • Zusammenhalt
ISBN-10 3-641-32937-X / 364132937X
ISBN-13 978-3-641-32937-2 / 9783641329372
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