Die Tiere der Nacht (eBook)
270 Seiten
Woow Books (Verlag)
978-3-03967-043-7 (ISBN)
Sarah Ann Juckes schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche. Ihr Jugendbuchdebüt Outside wurde für den Carnegie Medal Award 2020 nominiert und kam auf die Shortlist für den Mslexia's Children's Novel Award.Die Tiere der Nacht war im Januar 2023 Waterstones Buch des Monats. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin arbeitet Juckes als Dozentin für Kreatives Schreiben an der Universität Oxford.
Sarah Ann Juckes schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche. Ihr Jugendbuchdebüt Outside wurde für den Carnegie Medal Award 2020 nominiert und kam auf die Shortlist für den Mslexia's Children's Novel Award.Die Tiere der Nacht war im Januar 2023 Waterstones Buch des Monats. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin arbeitet Juckes als Dozentin für Kreatives Schreiben an der Universität Oxford.
3
Ich mag meine Lehrerin Miss Omar, nur nicht, wenn sie eine Ewigkeit braucht, um die Anwesenheit zu prüfen.
Die Heizung unter meinem Tisch bollert und macht mich schläfrig, obwohl der Schultag gerade erst begonnen hat. Und sonderlich lang war ich gestern Nacht auch nicht wach. Trotzdem lege ich meinen Oberkörper auf den Tisch, stütze mein Kinn auf meine Faust und starre aus dem Fenster.
Unser Klassenzimmer liegt auf einem Hügel, von dem ich bis zum Kriegsdenkmal und dem Kaulquappenteich hinunterschauen kann. Außerdem sehe ich das Klettergerüst und – auf der anderen Seite des Schulhofs – den Fußballplatz, wo ein paar Kinder aus der Dritten Sport haben. Aus der Entfernung wirken sie wie kleine Flöhe, die immer wieder auf und ab hüpfen.
Ich vermisse es, in der dritten Klasse zu sein. Denn das Einzige, worüber man sich mit acht Jahren Sorgen machen muss, ist, ob man beim Fußball ein Tor schießt oder ob der Vanillepudding beim Mittagessen eklige Klumpen hat. Damals war ich noch mit allen anderen aus meiner Klasse befreundet, und wir haben in der Pause zusammen Fangen gespielt oder uns nach der Schule gegenseitig besucht.
Doch jetzt kann ich niemanden mehr zu mir nach Hause einladen. Schließlich könnte eins der Kinder zu laut sein oder etwas Unüberlegtes sagen, wodurch sich Mums Symptome verschlimmern würden. Natürlich geht es mir trotzdem gut, denn es ist sowieso leichter, die Mittagspause allein zu verbringen. Dann kann ich nämlich meine Lieblingsbücher lesen und muss mir keine Ausreden ausdenken, warum bei Mum und mir die Dinge nicht mehr so sind wie früher.
Gerade, hier in der Klasse, werden meine Lider schwer, und ich schwitze in meinem warmen Schulpullover. Mein Rücken beginnt zu jucken.
Ich blinzle träge, doch kurz bevor ich die Augen ganz schließe, sehe ich etwas aufblitzen: einen regenbogenbunten Schwanz, der hinter der Winterkirsche neben dem Kaulquappenteich verschwindet.
Ich richte mich so ruckartig auf, dass ich dabei meine Federmappe vom Tisch fege. Miss Omar hält einen Moment inne. »Nora, könntest du bitte deine Stifte nicht durch die Gegend werfen?«
Hitze schießt mir ins Gesicht, und obwohl mir klar ist, dass ich eigentlich mein Mäppchen aufheben sollte, suche ich die Landschaft weiter nach meiner Geisterfüchsin ab. Ein paar andere Kinder, die mit mir am Tisch sitzen, haben gemerkt, was ich tue, und richten ihre Blicke ebenfalls nach draußen. Auch wenn sie nicht wissen, warum.
Und natürlich gucken bald nicht nur die Kinder an meinem Tisch, sondern auch alle anderen. Fast alle meine alten Freundinnen und Freunde rennen zum Fenster und suchen den tristen Morgen nach etwas ab, das sich ihnen sowieso nicht zeigen würde.
»Alle bitte zurück auf ihre Plätze!«, ruft Miss Omar und klatscht in die Hände. Gleichzeitig reckt auch sie den Hals, um hinauszuschauen. Murmelnd und murrend kehren die Kinder zu ihren Tischen zurück, wobei mir einige von ihnen komische Blicke zuwerfen. Aber das ist mir egal, und ich schaue weiter nach draußen.
Ich bin mir sicher, dass ich mich nicht geirrt habe. Es war die Füchsin mit den regenbogenfarbenen Umrissen von letzter Nacht.
Den Rest der Stunde verbringe ich unruhig auf meinem Stuhl und zeige nicht ein einziges Mal auf. Dabei haben wir Sachkunde, und ich weiß von Mum, wie man gebrochene Oberschenkel- und Mittelhandknochen versorgt.
Als es endlich zur Pause klingelt, renne ich ohne meinen Mantel auf den Schulhof, obwohl es gerade anfängt zu regnen. Dann stehe ich eine Weile da und drehe mich im Kreis, um in dem Gewirr aus Kindern nach einem bunten Schimmer Ausschau zu halten.
»Nora! Nora, komm, wir spielen Fangen!« Saffie zieht mich am Arm.
»Hab dich! Du bist dran!«, ertönt Rachaels Stimme hinter mir, während sie mir auf den Rücken tippt.
Ich weiche beiden Mädchen aus, obwohl sich meine Brust dabei genauso kalt und leer anfühlt wie unter den Geisterpfoten der Füchsin.
Und plötzlich sehe ich sie: Wie ein Komet mit regenbogenfarbenem Schweif huscht die Geisterfüchsin über den Schulhof.
Ich sprinte los, und die Regentropfen hinterlassen gepunktete Linien auf meinen Brillengläsern. Mühsam blinzle ich zwischen den Pünktchen hindurch, während ich nach Luft schnappe und mein Blut vor Aufregung prickelt. Meine Füße trommeln über den Asphalt – da dreht sich die Füchsin auf einmal hechelnd zu mir um. Ich bin so gebannt von ihrem Anblick, dass ich den Jungen vor mir übersehe und direkt in ihn hineinrenne.
»Hey, pass doch auf!«, schreit er mich an, als ich seine knochige Schulter anremple. Er lässt den Ball fallen, den er in der Hand gehalten hat.
»Sorry, tut mir leid«, entschuldige ich mich, während ich immer noch der Füchsin hinterherschaue. Sie verschwindet zwischen den herunterhängenden Zweigen der Winterkirsche.
Ich hebe den Ball auf, um ihn dem Jungen zurückzugeben, aber anstatt ihn zu nehmen, schubst er mich und rammt seine spitze Schulter in meine.
Ich blinzle überrascht und stolpere rückwärts.
Ein paar Kinder um uns herum bleiben stehen, starren uns an und flüstern etwas hinter vorgehaltenen Händen. Ich werfe dem Jungen einen finsteren Blick zu. Ich kenne ihn, er heißt Joel und geht in meine Parallelklasse. Seine Miene ist unfreundlich, sein Kinn schmutzig und sein Gesicht so knallrot, als könnte er jeden Moment explodieren.
»Guck gefälligst, wo du hinrennst!«, brüllt er mich noch einmal an und schlägt mir den Ball so fest aus der Hand, dass er hart auf dem Boden aufprallt.
»Tut mir …«, beginne ich noch einmal, doch da kommen mir die anderen aus meiner Klasse zu Hilfe.
»Lass Nora in Ruhe, Joel!«, sagt jemand.
»Sie hat sich bei dir entschuldigt!«, fügt jemand anderes hinzu.
Aber anstatt mich zu freuen, fängt mein Rücken vor Wut an zu kribbeln. »Ich brauche keine Hilfe«, brumme ich.
Joel ballt die Fäuste und schreit die anderen an. Sie schreien zurück, sodass es mir bald schon vorkommt, als würde der ganze Schulhof schreien.
Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, bleibt mir die Luft im Hals stecken. Denn das Ganze erinnert mich an das letzte Mal, als Mum und ich zusammen im Supermarkt einkaufen waren. An dem Tag hat sie mich von der Schule abgeholt, und ich habe den Einkaufszettel festgehalten, während sie die Sachen in den Einkaufskorb gelegt hat. Alles lief prima, bis eine Gruppe Teenager hereinkam, die laut herumgebrüllt hat. Zwar haben die Jungen und Mädchen nichts Schlimmes gesagt, doch von dem Lärm ist Mum plötzlich ganz blass geworden. Laute Geräusche können nämlich starke PTBS-Symptome auslösen.
Und jetzt gerade, auf dem Schulhof, habe ich das Gefühl, selbst kreidebleich zu werden. Hastig stolpere ich an den anderen vorbei, schlingere und schlittere mit meinen Turnschuhen über den Rasen und steuere auf die Winterkirsche zu. Dabei halte ich weiter nach der Füchsin Ausschau.
»Bitte, liebe Füchsin«, flüstere ich. »Mach mich stärker. So wie die anderen Geistertiere.«
Auf einmal wird aus dem leichten Regen ein unbarmherziger Schauer, und das Geschrei der Kinder verwandelt sich in aufgeregtes Kreischen. Alle stürmen nach drinnen.
»Pssst! Hier unten!«, ertönt plötzlich eine Stimme unter mir. Sie kommt aus der Kuppel von Ästen, die wie eine Fontäne aus dem Stamm der Winterkirsche herausquellen.
»Füchsin, bist du das?« Meine Stimme quietscht, und meine Gedanken rasen. »Seit wann kannst du …«
»Schnell!«, spricht die Stimme weiter. »Komm rein, bevor die Lehrer uns sehen!«
Ich spähe zwischen den Zweigen hindurch und entdecke eine kleine Gestalt, die im Schutz des Baums kauert. Sofort suche ich sie nach schillernden Farben ab, doch in dem Moment streckt sie eine Hand aus und zieht mich zu sich in die Baumkuppel. Ein Junge mit kurzem Afro-Haarschnitt und einer tarnfarbenen Jacke sitzt vor mir und guckt mich mit großen Augen an.
»Alles okay?«, fragt er mich. »Ich hab gesehen, wie Joel dich geschubst hat. Mit mir macht er das auch immer.«
»Mir geht’s gut«, antworte ich und winde mich aus seinem Griff. Dann betrachte ich die Kuppel aus Ästen um uns herum. Hier drin sieht es aus wie in einer komplett anderen Welt. Das Kindergeschrei ist verschwunden, sodass ich nur noch meinen eigenen keuchenden Atem und das Prasseln des Regens hören kann. Überall um mich herum wachsen Äste mit sprießenden Knospen daran. Sie rahmen den gewundenen Stamm und den Jungen ein, der mich immer noch anschaut, als wäre etwas Schlimmes passiert. Dabei ist alles in bester Ordnung.
»Du bist Nora, oder?«, fragt er. »Nora Frost aus der 4a?«
Ich ignoriere ihn und schaue mir die Stelle an, an der der Baumstamm aus dem Boden austritt.
Die Geisterfüchsin ist nirgendwo zu sehen, deshalb schiebe ich mich an dem Jungen vorbei nach draußen. Dort betrachte ich die Umrisse der Kinder, die mit ihren Strickjacken über den Köpfen in die Schule rennen. Überall sehe ich grauen Asphalt, graue Wolken und graue Uniformen – aber keine regenbogenfarbene Füchsin.
Hinter mir raschelt es, und wieder schließen sich Finger um mein Handgelenk, die mich zurück in die Arme des Baums ziehen.
»Was machst du da?«, will der Junge wissen, der inzwischen aufgestanden ist. »Es regnet....
Erscheint lt. Verlag | 14.8.2024 |
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Illustrationen | Sharon King-Chai |
Übersetzer | Meritxell Janina Piel |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • Charlie und Lola • Die Sendung mit der Maus • Diversität • Freundschaft • Fuchs • Geister • Hase • Otter • Posttraumatische Belastungsstörung • PTBS • Rabe |
ISBN-10 | 3-03967-043-3 / 3039670433 |
ISBN-13 | 978-3-03967-043-7 / 9783039670437 |
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