A Study in Drowning (eBook)
464 Seiten
Loewe Verlag
978-3-7320-2289-2 (ISBN)
Es begann, wie alles begann: mit einem Mädchen an der Küste, erfüllt von Entsetzen und Verlangen.
Emrys Myrddin: Angharad. 191 n.G.F.
Das Plakat faserte an den Rändern auf und war so zerfleddert wie die herausgerissene Seite aus einem Lieblingsbuch. Bestimmt war das Absicht, überlegte Effy. Die Ausschreibung war auf dickes gelbes Pergament gedruckt, das ihrem Skizzenpapier nicht unähnlich war. Die Kanten wölbten sich leicht nach innen – als wären sie schüchtern oder als hätten sie ein Geheimnis zu verbergen, das sie zu schützen versuchten.
Effy strich das Papier glatt, bevor sie angestrengt auf die verschnörkelte Schrift starrte. Der Text war von Hand geschrieben und an mehreren Stellen verwischt. Ein undeutlich geformter Wasserfleck, der an ein Muttermal oder einen Schimmelfleck erinnerte, tat sein Übriges.
An die geschätzten Studenten der Fakultät für Architektur:
Die Nachlassverwaltung von Llyrs Nationaldichter EMRYS MYRDDIN erbittet Entwürfe für ein Gutshaus außerhalb von Saltney, der Heimatstadt des verstorbenen Schriftstellers, in der Bucht der Neun Glocken.
Bitte beachten Sie, dass vorgeschlagene Entwürfe für HIRAETH MANOR ausreichend Platz berücksichtigen sollen – sowohl für die hinterbliebene Familie Myrddins als auch für die beträchtliche Sammlung von Büchern, Manuskripten und Briefen, die der Autor hinterlassen hat.
Bitte beachten Sie, dass die Entwürfe Myrddins Persönlichkeit und den Geist seines umfangreichen und einflussreichen Werks widerspiegeln sollen.
Bitte beachten Sie, dass die Pläne bis spätestens Mitte Herbst an unten stehende Adresse geschickt werden müssen. Der Gewinner wird bis zum ersten Wintertag kontaktiert.
Drei Bedingungen, genau wie in einem von Myrddins Märchen. Effys Herz begann zu rasen. Beinahe instinktiv tastete sie nach ihren goldenen Haaren, die sie wie immer mit einem schwarzen Band zu einem Knoten hochgebunden hatte. Sie strich die losen Strähnen zurück, die ihr in der dämmrigen, sonnenbeschienenen Eingangshalle der Fakultät ins Gesicht fielen.
»Verzeihung«, sagte da jemand.
Hastig blickte Effy über die Schulter. Hinter ihr stand ein Kommilitone in einer braunen Tweedjacke, der ungeduldig auf seinen Absätzen vor und zurück wippte.
»Gleich«, entgegnete sie. »Ich bin noch nicht fertig.«
Sie hasste die Art, wie ihre Stimme zitterte. Der andere Student schnaubte verärgert. Doch Effy wandte sich wieder dem Aushang zu, während ihr Puls umso schneller ging. Allerdings gab es nichts Weiteres zu lesen, nur die Adresse am unteren Ende – keine Unterschrift, kein aufmunterndes Viel Glück!
Nun tappte der Student auch noch genervt mit dem Schuh. Effy griff in ihre Tasche und wühlte darin, bis sie einen Füller fand. Der dicken Staubschicht auf der kappenlosen Spitze nach zu urteilen, hatte sie ihn offenbar irgendwann in aller Hast hineingeworfen. Effy drückte die Feder gegen ihren Finger, aber es kam keine Tinte heraus.
Ihr wurde übel. Sie drückte noch einmal. Hinter ihr verlagerte der Junge sein Gewicht, sodass die alten Dielen unter ihm knarrten. Da steckte sich Effy den Stift in den Mund, um daran zu saugen, bis sie den metallischen Geschmack von Tinte auf der Zunge schmeckte.
»Bei allen Heiligen!«, stieß der Student aufgebracht aus.
Eilig schmierte Effy die Adresse auf ihren Handrücken und schmiss den Stift zurück in die Tasche. Dann drehte sie der Wand, dem Aushang und dem Jungen schnell den Rücken zu, bevor er noch irgendetwas anderes tun oder sagen konnte. Während sie durch den Gang davoneilte, schnappte Effy trotzdem noch das Ende eines gemurmelten Fluchs auf.
Hitze stieg ihr in die Wangen. Kaum hatte sie den Seminarraum erreicht, setzte sie sich auf ihren üblichen Platz, wobei sie die eindringlichen Blicke ihrer Kommilitonen mied, die zu ihren Plätzen schlurften. Stattdessen starrte sie auf die verlaufende Tinte auf ihrer Hand. Die Worte verschwammen bereits, als wäre die Adresse ein Zauber, und zwar einer von quälend kurzer Dauer.
Grausame Magie war etwas, womit sich das Elfenvolk aus Myrddins Büchern auskannte. Und Effy hatte sie alle so oft gelesen, dass die Logik seiner Welt ihre eigene überlagerte – wie glänzendes Pauspapier, das man auf ein Original legte.
Effy konzentrierte sich auf die Worte und prägte sie sich gut ein, bevor die Tinte zu unleserlich wurde. Wenn sie so lange auf das Geschriebene starrte, bis ihre Augen tränten, könnte sie die geflüsterte Beleidigung des Jungen vielleicht vergessen. Doch stattdessen ging ihr Geist ungebeten all die Gründe durch, aus denen ihr Kommilitone sie verhöhnt und verspottet haben könnte.
Erstens: Sie war die einzige Studentin an der Fakultät für Architektur. Selbst wenn der Junge sie bisher nur flüchtig auf dem Gang gesehen haben sollte, war ihm sicherlich ihr Name aufgefallen – auf den Listen mit den Ergebnissen der Aufnahmeprüfung und später dann im Studierendenregister, das im Eingangsbereich der Fakultät aushing. Vor drei Tagen hatte ein anonymer Sittenwächter zum Stift gegriffen und darin aus ihrem Nachnamen, Sayre, eine anzügliche Beleidigung kreiert. Erhalten geblieben waren nur die letzten beiden Buchstaben ihres Namens.
Zweitens: Sie war die einzige Studentin an der Fakultät für Architektur und sie hatte in der Eignungsprüfung ein besseres Ergebnis erzielt als er. Unter anderen Umständen hätte es ihr sogar die Tore zur Literaturwissenschaftlichen Fakultät geöffnet, nur nahm man dort prinzipiell keine Frauen auf. Also hatte Effy sich mit Architektur zufriedengeben müssen: weniger angesehen, weniger interessant und, wenn man sie fragte, unermesslich schwieriger. Ihr Geist funktionierte nicht in geraden Linien und rechten Winkeln.
Drittens: Er hatte von der Sache mit Master Corbenic gehört. Wenn Effy heute an ihren betreuenden Professor dachte, dann immer nur in Bruchstücken. Eine goldene Uhr inmitten dunkler, dichter Armbehaarung. Allein wie erwachsen das war, hatte sie damals so schockiert, als hätte man ihr eine Faust in den Magen gerammt. Bloß wenige Jungen an ihrer Fakultät – denn genau das waren sie: Jungen – hatten an den Armen derart viele Haare. Und noch weniger besaßen teure Uhren, die es sich darin gemütlich machten.
Effy kniff die Augen zu, um das Bild mit Gewalt zu vertreiben. Als sie wieder aufschaute, wirkte die Tafel vor ihr glasig, wie ein Fenster bei Nacht. Sie konnte sich Tausende verschwommener, halb unsichtbarer Dinge dahinter ausmalen.
Ihr Seminarleiter für Entwurf und Gestaltung, Master Parri, hielt seine übliche Einleitung, diesmal allerdings auf Argantisch – gemäß einer neuen Leitlinie der Universität, die erst vor sechs Wochen, zu Beginn von Effis erstem Semester, in Kraft getreten war. Offiziell hatte man diese angeblich aus Respekt gegenüber den wenigen argantischen Studierenden der Universität eingeführt. Doch der inoffizielle Grund war eine Art präventiver Angst: Würde Argant nach einem Sieg im Krieg gegen Llyr ihnen seine Landessprache aufzwingen? Würden die Kinder in Zukunft die Aussprache argantischer Vokale und Verben üben, anstatt llyrische Gedichte auswendig zu lernen?
Für den Fall der Fälle wäre es sicher eine gute Idee, der Universität schon jetzt einen Vorsprung zu verschaffen.
Doch selbst als Master Parri wieder ins Llyrische verfiel, drehten Effys Gedanken sich noch im Kreis; ähnlich einem Hund, der die perfekte Schlafposition suchte. Master Parri wollte, dass sie bis zum Ende der Stunde zwei Schnittzeichnungen anfertigten. Effy hatte sich für einen Neuentwurf des Schläfermuseums entschieden, der beliebtesten Touristenattraktion von Caer-Isel und dem angeblichen Ursprung llyrischer Magie. Dort ruhten in gläsernen Särgen die sieben Geschichtenerzähler, die Llyr stumm und starr vor Gefahr bewahrten. Und die – wie manche glaubten – auf den Tag größter Verzweiflung warteten, um aufzuerstehen und ihr Heimatland zu verteidigen. Je nachdem, wen man fragte, wurde dieser Mythos als provinzieller Aberglaube abgetan oder aber als heilige Wahrheit angesehen.
Seit man kurz vor Effys Studienbeginn auch Myrddin im Museum zur Ruhe gebettet hatte, waren die Eintrittskarten regelmäßig ausverkauft und die Besucherschlangen reichten um den kompletten Häuserblock. Dreimal hatte Effy seither versucht, selbst hinzugehen. Stundenlang hatte sie angestanden, nur um am Ticketschalter schließlich fortgeschickt zu werden. Also hatte sie sich selbst ausdenken müssen, wie die schlummernden Gesichter der Geschichtenerzähler aussehen könnten, die sie zeichnete. Besonders viel Mühe hatte sie sich mit Myrddin gegeben und ihn gemäß ihrem Ideal von einem Vater dargestellt: Selbst im Tod wirkte er weise und sanftmütig.
Doch jetzt, während Parris Stimme ununterbrochen über sie hinwegrollte wie Tiefwasser über die Küste, schlug Effy eine neue Seite in ihrem Skizzenbuch auf und schrieb die Worte HIRAETH MANOR.
Nach dem Seminar ging Effy in die Bibliothek. Sie hatte nur einen ihrer Schnitte abgeben können und selbst der war nicht besonders gut gelungen. Der Aufriss war vollkommen falsch – schief, als hätte man das Museum auf eine zerklüftete Klippe und nicht im akribisch angelegten Stadtzentrum von Caer-Isel gebaut. Spiralförmig, gleich einem Muschelhorn, waren außen herum die Universitätsgebäude angeordnet, ganz aus blassem Marmor und sonnengebleichtem gelbem Stein.
An ihrer Sekundarschule zu Hause hätte sie sich im Traum nicht einfallen lassen,...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Übersetzer | Nadine Mannchen |
Verlagsort | Bindlach |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | A Study in Drowning Ava Reid • Ava Reid Juniper and Thorn • Bestsellerautorin Ava Reid • BookTok Fantasy • Bücher wie Divine Rivals • Bücher wie Fourth Wing • Bücher wie The Atlas Six • dark academia • enemies to lovers romance • Fantasyabenteuer • Fantasybücher ab 14 Jahren • Fantasy Liebesgeschichte • Fantasyroman ab 14 Jahren • New York Times Bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Spiegel-Bestsellerautorin • tiktok made me buy it |
ISBN-10 | 3-7320-2289-7 / 3732022897 |
ISBN-13 | 978-3-7320-2289-2 / 9783732022892 |
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