Beinahe berühmt (eBook)
127 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-81361-9 (ISBN)
Rüdiger Bertram, geboren 1967 in Ratingen, war schon mit 13 Jahren klar, dass er später irgendwas mit Schreiben machen würde. Während des Studiums (Geschichte / VWL / Germanistik) schrieb er Glossen für den WDR-Hörfunk und arbeitete nach dem Abschluss als freier Journalist (u.a. für die ZEIT). Nach einer Drehbuch-Ausbildung an der Internationalen Filmschule Köln schrieb er für TV-Sitcoms. Inzwischen hat er zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht.
Allein im Wald
Während der nächsten zwei Wochen gehe ich ganz normal zur Schule. Und jeden Tag nehme ich mir vor: Heute sage ich es.
Den Neidern und den Schleimern.
Und Frau Scharnhorst natürlich auch.
Aber ich traue mich einfach nicht. Einmal hebe ich im Unterricht sogar die Hand, um es allen zu sagen. Damit ich es hinter mir habe. Doch als mich meine Lehrerin drannimmt, frage ich dann doch nur, ob ich aufs Klo darf.
Also höre ich mir auf dem Schulhof weiter die Kommentare der Neider und der Schleimer an.
Die einen so: »Der Film wird bestimmt der totale Flop!«
Die anderen so: »Der Film wird bestimmt der Hammer.«
Dann sind die zwei Wochen vorbei und ich habe immer noch nicht die Wahrheit gesagt.
Heute ist der Tag, an dem eigentlich die Dreharbeiten beginnen sollten.
Pünktlich um acht.
Tun sie aber nicht, weil Marc Maier über seinen Dackel gestolpert ist.
Im Internet und in den Zeitungen war darüber nichts zu lesen.
Die ganze Sache war Maier wahrscheinlich zu peinlich. Da hat er bestimmt alle gebeten, den Mund zu halten.
Mein Wecker klingelt um sieben. So wie immer. Ich stehe auf und ziehe mich an. So wie immer. Danach frühstücke ich. Auch so wie immer.
Dann packe ich meine Schultasche und mache mich auf den Weg.
»Einen schönen Tag wünsche ich dir«, ruft mein Vater.
»Hast du dein Pausenbrot eingepackt?«, fragt meine Mutter
»Danke und ja, habe ich«, antworte ich und verlasse das Haus.
Zur Schule muss ich links die Straße lang. Da ist die Bushaltestelle. Dann fahre ich drei Stationen und steige wieder aus.
Direkt vor unserer Schule.
Normalerweise.
Heute nicht.
Heute nehme ich das Rad.
Ich winke meiner Mutter. Sie steht am Küchenfenster und winkt zurück. Irgendwie sieht sie erleichtert aus.
Weil ich ganz normal zur Schule gehe.
Weil ich jetzt doch kein Filmstar werde.
Weil alles so bleibt, wie es ist.
Das sagt sie mir natürlich nicht.
Also nicht direkt.
Aber ich sehe es ihr an.
Das ist nicht besonders schwer.
Ich fahre Richtung Bushaltestelle. Da kann ich die anderen schon sehen. Sie warten auf den Bus, haben mich aber noch nicht bemerkt.
Schnell biege ich in eine Seitenstraße ab.
Bevor sie mich doch noch entdecken.
Ich werde heute nämlich nicht in die Schule gehen.
Genau wie die nächsten vier Wochen.
Muss ich auch nicht, das habe ich schriftlich.
Einen Monat bin ich vom Unterricht befreit. Das hat unsere Rektorin selbst unterschrieben. Also wird mich Frau Scharnhorst auch nicht vermissen. Und alle anderen Lehrerinnen und Lehrer werden das auch nicht tun.
Das ist schon praktisch, da hatte Elif schon recht.
Und toll ist das auch: Vier Wochen nur für mich, in denen ich vormittags machen kann, was ich will.
Das wird super.
Auf meinem Handy kommen Nachrichten an.
»Viel Spaß beim Drehen!«
»Grüß Marc Maier von mir.«
»Wenn ihr noch wen braucht, sag Bescheid.«
Alles von den Schleimern. Die Neider schicken keine Nachrichten. Zumindest nicht mir. Aber ich kann mir schon vorstellen, was die sich untereinander texten.
»Die kriegt das sowieso nicht hin.«
»Wetten, sie blamiert sich ganz schrecklich?«
»Das wird bestimmt voll peinlich.«
Das Übliche halt.
Ich nehme das Rad, damit ich schneller in einem Stadtteil bin, wo mich keiner kennt.
Ich habe sogar extra meinen Style geändert. Sonst trage ich eher lässige Klamotten: Schlabber-Jeans, bauchfreies Shirt, Chucks und so. Heute habe ich brave Sachen an: Rock, Bluse, Sandalen. Meine Mutter war überrascht. Gleichzeitig hat sie sich gefreut, dass ich mal vernünftig angezogen bin.
Also, was sie so für vernünftig hält.
Meine Verkleidung dient der Tarnung. Falls ich doch mal jemanden treffe, der mich kennt. So erkennt er mich vielleicht nicht. Oder hält mich für jemand anders. Schließlich war mein Foto in der Zeitung. Und im Netz findet man das natürlich auch überall.
Da muss ich vorsichtig sein.
Ich meide die belebten Straßen und fahre über kleine Feldwege. Dort begegne ich morgens nur Menschen mit Hunden. Die interessieren sich nicht für mich. Irgendwann biege ich in einen Wald ab, wo garantiert niemand ist.
Nicht so früh am Morgen.
Ich lehne mein Rad an einen Baum und setze mich auf eine Bank. Ich habe mir was zum Lesen mitgenommen. Irgendwie muss ich die Stunden bis zum Schulschluss ja rumkriegen. Dann kann ich wieder nach Hause fahren. So als wäre nichts gewesen.
Ich esse mein Pausenbrot und hole mein Handy raus. Da sind schon wieder neue Nachrichten eingegangen.
»Schick mal Fotos!«
Mist, daran hatte ich gar nicht gedacht. Die wollen natürlich alle Bilder sehen von mir und Marc Maier.
»Darf ich nicht, ist verboten. Alles streng geheim hier«, texte ich schnell zurück.
Eigentlich ist es ganz schön, so allein im Wald. Ich höre den Vögeln zu. Und den Blättern, die im Wind rauschen. Plötzlich raschelt es im Gebüsch. Eine kleine Maus schaut mich an und ich schaue sie an. Mindestens eine Minute lang. Dann dreht sie sich um und verschwindet wieder. Das ist so ziemlich das Aufregendste, was an diesem Vormittag passiert.
Außer ein paar Joggern, die auf dem Waldweg an mir vorbei keuchen.
Und einer Gruppe alter Damen mit Walking-Stöcken. Eine davon kenne ich sogar. Sie kauft oft im Laden meiner Eltern ein. Ich halte mir mein Buch vors Gesicht, bis die Gruppe an mir vorbei ist. Das dauert ewig, weil sie wirklich sehr langsam unterwegs sind.
Danach passiert überhaupt nichts mehr. Irgendwann ist es endlich 13 Uhr und ich kann nach Hause. Mittags essen wir immer zusammen, weil meine Eltern den Laden dann für eine Stunde dichtmachen. Meine Mutter kocht, mein Vater isst. Obwohl beide den ganzen Tag im Laden arbeiten, sind bei uns die Mann-Frau-Rollen eher altmodisch verteilt. Auf dem Heimweg überlege ich mir ein paar Sachen, die ich ihnen erzählen kann. Damit sie keinen Verdacht schöpfen.
Wir essen und ich berichte ein bisschen was aus der Schule. Dinge, die dort jeden Tag passieren oder die ich in der WhatsApp-Gruppe unserer Klasse gelesen habe: ausgefallene Stunden, Klausuren, Mitschüler, die sich prügeln.
Aber während ich erzähle, kriege ich plötzlich ein schlechtes Gewissen.
Weil ich meine Eltern anlüge.
Und alle anderen auch.
Aber das ist immer noch besser, als wenn sie mich auslachen.
Oder, noch schlimmer: bedauern.
Mitleid wäre überhaupt das Allerschlimmste und jetzt ist es sowieso schon zu spät für die Wahrheit. Jetzt muss ich es einfach durchziehen.
Nach dem Essen müssen meine Eltern wieder zurück in den Laden. Ich gehe in mein Zimmer. Mich mit Freundinnen treffen kann ich ja nicht.
Ich bin schließlich gar nicht da, sondern drehe einen Film. Irgendwo in der Nähe von Berlin.
Es sind schon wieder Nachrichten reingekommen.
»Wie war es denn?«
»Erzähl doch mal?«
»Ist Marc Maier wirklich so süß?«
»Was hast du am Vormittag gemacht?«
Die ersten drei Nachrichten beachte ich gar nicht. Die vierte schon. Die ist von Elif.
»Ich war im Wald«, texte ich ihr.
»Cool.«
»Geht so.«
»Warum?«
»Es war stinklangweilig. Ich habe Jogger gezählt.«
»Und? Wie viele waren es?«
»15 und sechs Walkerinnen.«
»Du kannst auch zur Schule gehen.«
»Auf gar keinen Fall.«
»Dann such dir ein Hobby. Du hast doch jetzt jede Menge Zeit.«
»Super Idee!«
»Viel Spaß, ich gehe in die Bibliothek. Muss noch lernen.«
Ich würde auch gerne in die Bücherei gehen. Geht aber nicht. Da treffe ich garantiert Leute, die mich kennen. Also bleibe ich einfach in meinem Zimmer und warte auf den Abend.
Ich hätte nicht gedacht, dass Schwänzen so langweilig sein kann.
...Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-407-81361-9 / 3407813619 |
ISBN-13 | 978-3-407-81361-9 / 9783407813619 |
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