Wie wir eine versunkene Stadt suchten und dabei beinahe das Klima gerettet hätten (eBook)
267 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-775-0 (ISBN)
Anni E. Lindner ist Heilsarmeeoffizierin und lebt in dieser Funktion mit ihrem Mann und den sechs Kindern ein fröhliches Nomadenleben. Derzeit leitet das Ehepaar das Kinder- und Familienzentrum »Heilse« in Chemnitz. Instagram: annie.lindner_worte.in.welten Facebook: Anni E. Lindner
Das fängt ja gut an!
Mama schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich wusste, dass sie überlegte, ob sie schimpfen sollte oder nicht. Zum Glück entschied sie sich für »nicht« und wuschelte mir nur durch die Haare. Ich glaube, sie war einfach müde von der Fahrt.
»Es hat nicht viel Sinn, dir vorzuhalten, dass ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen, oder?«, seufzte sie. »Es ist ein bisschen weit, um noch mal zurückzufahren.«
Die Tasche stand noch neben meinem Bett. Mama hatte mich gebeten, sie zu holen. Aber ich hatte Tasche, Kissen, Decke und Kopfhörer nicht gleichzeitig tragen können. Tja, und dann hatte ich es einfach vergessen.
Ich wischte mir mit der Hand über die Augen und starrte auf den Boden. Mama nahm mich in den Arm.
»Es war wirklich chaotisch gestern Abend und ich hätte nachsehen sollen, ob wir alles dabeihaben«, murmelte sie und drückte mich. »Na komm, gehen wir erst mal ins Haus. Uns wird schon eine Lösung einfallen.«
Natürlich sahen alle mich sofort an, als ich ins Wohnzimmer kam. Meine ganze Familie und die fremden Damen standen um einen großen Esstisch herum, auf dem mehrere Platten mit Käse, Wurst und Gemüse standen.
Die Frau mit dem kuschligen Busen strahlte: »Ein kleiner Willkommenssnack für euch, meine Lieben!« Dann bemerkte sie mein bedrücktes Gesicht und wurde gleich ganz mütterlich: »Aber warum so traurig, Kleines? Ist etwas passiert?«
»Wir haben ihre Tasche zu Hause vergessen«, erklärte Mama ruhig. Eigentlich war das ja ganz allein meine Schuld. Ich fand es lieb von ihr, dass sie trotzdem »wir« sagte.
Die Frau bekam gleich glänzende Augen und fing an, hektisch mit den Armen zu wedeln. »Nicht weinen, nicht weinen! Das ist gar kein Problem. Du kannst dir Sachen von Neva leihen. Gleich, wenn ihr gegessen habt, stelle ich sie dir vor. Ihr werdet euch mögen! Ja, ja, da bin ich mir ganz sicher.«
Als ob die Anziehsachen meine größte Sorge gewesen wären! Vielmehr würde ich eine ganze Woche ohne meine wirklichen Schätze auskommen müssen: meine Bücher und das Vierundzwanziger-Set Filzstifte, das ich zum Geburtstag bekommen hatte. Zum Glück hatte ich wenigstens meine Durchlesebibel im Rucksack. Die mit den zerfledderten Seiten, in der ich ganz viele Sätze markiert hatte. Ich lese mir einige dieser Verse abends immer durch, immer dieselben. Das hilft mir, mich zu beruhigen, bevor ich einschlafe.
Während ich in Gedanken durchging, was mir alles fehlen würde, suchten meine Geschwister sich schon ihre Plätze am Esstisch.
Die superhilfsbereite Frau – sie hieß übrigens Dora, wie ich später erfuhr – klatschte in die Hände. »Nun nehmt doch Platz und esst erst einmal. Das ist alles hausgemacht. Käse vom Nachbarn. Die Wurst ist von unseren Schafen, wir schlachten selbst, immer vor dem Winter. Gut geräuchert, ah, ein fantastisches Aroma, ihr werdet es lieben. Und erst die Oliven! Es war eine gute Ernte letztes Jahr. Hoffentlich wird dieser Sommer nicht zu trocken, aber doch heiß. Nun, ich will euch nicht aufhalten. Esst, esst!«
»Danke, Dora!« Mama lächelte. Sie wirkte ein bisschen überfordert auf mich.
Papa legte eine Hand auf ihre und meinte mit seiner ruhigen Stimme: »Das ist wirklich großzügig von euch, Dora. Sam, würdest du bitte das Tischgebet sprechen?«
Mein größter Bruder fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar, das ihm wie immer in die Stirn hing, und nickte. Auch Dora machte die Augen zu (ich sah es, weil ich meine als Letzte schloss).
Dann betete Sam, ein wenig nuschelig: »Danke, Gott, dass du uns sicher nach Kroatien gebracht hast. Danke für dieses leckere Essen, das so liebevoll für uns vorbereitet wurde. Ähm … Bitte lass uns einen schönen Urlaub haben. Und die Oliven auch in diesem Jahr gut wachsen.« Er räusperte sich und wir machten alle die Augen wieder auf.
Ich ließ meinen Blick über die Leckereien schweifen. Käse und Gemüse mag ich sehr. Wurst auch, vor allem, wenn sie von Tieren aus artgerechter Haltung stammt. Aber Schafe und Wurst passten für mich nicht so richtig zusammen. Deshalb griff ich zuerst nach einer Scheibe des hellen, weichen Brotes, das Papa mir reichte. Ich wählte eine Sorte Käse aus und fügte noch eine Olive hinzu. Es roch fantastisch. Beherzt biss ich in das Brot unter dem gespannten Blick von Dora. Es schmeckte – salzig. Sehr salzig!
»Wunderbar, oder?«, fragte Dora. Offenbar hatte ich meine Gesichtszüge besser im Griff, als ich dachte. Mit funkelnden Augen feuerte sie mich an: »Iss nur, lass es dir schmecken!«
Zum Glück habe ich noch mehr Geschwister, die beim Essen beobachtet werden konnten. Lany, die erst fünf ist und deshalb sehr ehrlich, spuckte ihr Stück Käse zurück auf den Teller. Mama griff erschrocken zur Serviette und warf der Gastgeberin einen entschuldigenden Blick zu.
»Das schmeckt nach Salz!« Meine kleine Schwester schüttelte sich.
Zu meiner Überraschung lachte Dora nur. »Ja, dafür ist der Pager Käse berühmt. Der Wind treibt Meerwasser auf die Weiden. Weil die Schafe salziges Gras fressen, schmeckt auch ihre Milch ein wenig danach. Ist nicht schlimm, dass du es nicht magst. Hier, probier ein Würstchen.«
Zum Glück aß Lany die Wurst und allmählich entspannte ich mich ein bisschen. Sam verwickelte Dora ziemlich schnell in ein Gespräch, Hummel und Jo fingen einen kleinen Streit an und Papa erzählte Mama irgendwas über die Besonderheiten der Insel, die er im Vorfeld gegoogelt hatte. Niemand achtete auf mich. So mag ich das. Gerade war ich in einen meiner Tagträume abgetaucht, da holte Mamas Stimme mich auch schon wieder in die Realität.
»Das machen wir, sobald wir uns ein wenig eingerichtet haben, ja, Emmi?«
Dora und Mama sahen mich erwartungsvoll an, also nickte ich. Ich hatte keinen Schimmer, worum es ging.
»Ja klar. Gern.«
»Ich sage Stepan Bescheid, dann kann Neva schon etwas vorbereiten. Ihr werdet euch mögen, ihr beiden!« Dora kniff mich in die Wange. Ich vermute, es sollte zärtlich sein, tat aber ein bisschen weh. Und man darf mich nicht einfach so anfassen. Deshalb blickte ich ganz schön böse und Hummel stupste mich warnend an.
Dora eilte zur Tür hinaus und ich legte mein Brot auf den Teller.
»Was machen wir jetzt, Mama? Ich habe nicht zugehört.«
Mama grinste. Sie hatte es also gemerkt. »Wir gehen zu den Nachbarn. Deren Tochter leiht dir Sachen zum Anziehen.«
Ich stöhnte. Noch eine Person, die ich heute kennenlernen musste. Und dann auch noch eine in meinem Alter. Wie peinlich, dass sie mir Klamotten geben sollte! Dass Dora ständig beteuerte, wir würden uns bestimmt mögen, machte es auch nicht besser. Im Gegenteil, wenn Erwachsene so was sagen, dann stimmt es meistens nicht.
»Ich hab doch was an. Können wir nicht einfach morgen in der Stadt noch ein paar Shirts und so kaufen? Für eine Woche brauche ich doch nicht viel«, versuchte ich die Sache abzuwenden.
Aber Mama schüttelte den Kopf. »Das wäre jetzt unhöflich, Emmi. Lass uns doch erst mal schauen, was dieses Mädchen für dich hat. Ist doch schön, wenn du gleich jemanden in deinem Alter kennenlernst.«
Sam sah, wie ich die Augen verdrehte, und stichelte: »Ihr werdet euch bestimmt mögen! Ja, ja!«
Jo lachte und Papa warf den beiden einen strengen Blick zu.
»Wenn ihr fertig seid mit dem Essen, könnt ihr mir gleich helfen, den Tisch abzuräumen.«
Jetzt grinste ich ein wenig schadenfroh in mich hinein. Ich wusste ja nicht, wie der Tag sich weiter entwickeln sollte.
Ungefähr eine halbe Stunde später folgte ich Mama nach draußen. Die Sonne war warm und ein Windstoß fuhr mir ins Haar. Es wehte mir aus dem Gesicht und ich fühlte mich für einen kurzen Moment wie ein Model auf dem Laufsteg. Allerdings sah nur ein alter Hund träge zu mir herüber. Er lag vor dem Haus auf der anderen Straßenseite und hatte staubiges Fell. Überhaupt wirkte alles hier sehr trocken, als hätte es lange Zeit nicht geregnet. Feiner Sand wehte über die Straße. Die Bäume sahen anders aus als bei uns zu Hause. Sie waren kleiner und neigten sich alle in eine Richtung. Es war die Richtung, in die der Wind sie auch jetzt drückte. Ich atmete tief ein. Konnte es sein, dass ich sogar Salz in der Luft riechen konnte?
Laute Stimmen rissen mich aus meinen Gedanken. Es klang, als würden meine kleinen Brüder sich streiten, aber die waren ja in unserem Ferienhaus. Mama steuerte genau auf den Lärm zu. Sie ging am Nachbarhaus vorbei und schwenkte in dessen Garten ein. Eine graue Steinmauer versperrte die Sicht, aber Mama schlüpfte durch die Pforte und bog um die Mauer. Da sah ich auch schon die Quelle des Lärms: zwei Jungs, wie erwartet. Der eine chillte auf einem rot-weiß gestreiften Liegestuhl. Der andere rannte um ihn herum. Er hielt etwas in der Hand, das der im Liegestuhl scheinbar zurückhaben wollte.
»Gib her!«, motzte der, machte sich aber nicht die Mühe aufzustehen. Er sah meinem Bruder Jo ein bisschen ähnlich.
Ich konnte jetzt erkennen, worum die Jungen sich stritten. Es war eine Spielekonsole.
»Na los, steh auf!«
Der, der rannte, war klein und dünn. Ich schätzte ihn auf acht Jahre. Seine grauen Augen blitzten frech. Glatte dunkelbraune Haare, die im Nacken lang und vorne kürzer waren, flogen beim Laufen wild um sein Gesicht. Obwohl es nicht besonders warm war, trug er nur rote Shorts, sonst nichts.
...Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-96362-775-1 / 3963627751 |
ISBN-13 | 978-3-96362-775-0 / 9783963627750 |
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