Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume (eBook)
352 Seiten
Verlag Carl Ueberreuter
978-3-7641-9346-1 (ISBN)
Olivia Vieweg studierte Visuelle Kommunikation an der Bauhaus Uni in Weimar. Sie veröffentlichte ihre ersten Bücher bereits während des Studiums. Ihre Bandbreite reicht von Graphic Novels, über Cartoonbücher, bis zu Comic-Romanen und Mangas. Für das Lied der Schattenschläfer wurde sie 2021 mit dem Förderpreis MDM (Mitteldeutsche Medienförderung) und dem Preis des Magellan-Verlags ausgezeichnet - die Filmrechte wurden inzwischen von Knudsen Pictures optioniert. Für die Youtube Influencerinnen ViktoriaSarina schrieb sie die Vorlage für die kürzlich angelaufene Bestseller-Comicreihe. Bei Carlsen erschien ihre Graphic Novel ENDZEIT, die ins Englische übersetzt wurde und von ZDF und arte auf Basis ihres Drehbuchs verfilmt. 2022 schrieb sie für die Filmproduktion Wiedemann und Berg 3 Episoden vom Reboot der Serie 'X-Factor - Das Unfassbare', die ab November ausgestrahlt werden.
Olivia wurde 1987 in Jena geboren und hatte eine coole Kindheit zwischen Plattenbauten und abenteuerlustigen Kindern. Das Zeichnen und Schreiben war schon immer fester Bestandteil ihres Lebens, deshalb studierte sie Visuelle Kommunikation an der Bauhaus Uni in Weimar und Drehbuchschreiben in München an der HFF. Heute arbeitet sie als Autorin und Zeichnerin für Bücher, Filme, Comics und Hörspiele. Ihr Comic "ENDZEIT" wurde verfilmt und lief auf Filmfestivals in der ganzen Welt. Olivia lebt und arbeitet mit ihrer Familie und zwei Katzen in Weimar. www.olivia-vieweg.de Jana Heidersdorf ist seit 2015 als freiberufliche Illustratorin im Fantasy-, Horror- und Jugendbuchbereich tätig. Sie lebt und arbeitet derzeit bei Berlin, wo sie der lokalen Vogelpopulation nachstellt.
1
Entfernte Schritte hallten durch die Straßen der Stadt. Abgesehen von diesem Störgeräusch konnte ein Montagmorgen friedlicher kaum sein. Gerade erst schob sich die Sonne träge hinter dem Horizont hinauf, um Quedlinburg in lauwarmes Licht zu tauchen.
Vor einem alten blauen Fachwerkhaus saßen zwei Jungs, die in ihre glänzend polierten Posaunen pusteten. Der blonde Junge mit den Sommersprossen hielt ein abgewetztes Notenheft in der Hand, während der schwarzhaarige versuchte, es mit schiefem Kopf zu lesen. Das war aussichtslos und so boxte er seinem blonden Freund beherzt in die Rippen.
»Heeey!«
Der Blonde boxte zurück. Für die beiden gehörte neben dem Musikmachen offensichtlich auch das Prügeln zur Routine. Doch ehe eine wirkliche Schlägerei ausbrach, huschte etwas Schwarzes durch die morgendlichen Straßen. Das schwarze Etwas war zu schnell, um erkennen zu lassen, wer oder was es war. Erschrocken schaute der blonde Posaunenjunge auf. War das ein Mensch? Aber wer außer ihnen trieb sich so früh in der Stadt herum? Nun blickte ihn auch der schwarzhaarige Posaunenjunge fragend an.
»Ist was?«
Jede Lust auf Prügelei war verflogen.
»Hast du nichts gesehen?«
Der Blonde legte seine Posaune auf die Bank und wollte wissen, wer den friedlichen Morgen störte. Er spähte nach dem schwarzen Etwas. Wo war es hin? Doch weit konnte er nicht sehen, zu verwinkelt waren die alten Gassen in Quedlinburg. Wer sich in dieser Stadt beeilte, konnte neugierigen Blicken immer schnell entgehen. Aber auch jetzt noch waren die schnellen Schritte in der Ferne zu hören.
Es waren Ellys Schritte. Das Mädchen mit den rabenschwarzen Haaren hatte gelernt, wie man über das krumme Kopfsteinpflaster rannte, ohne zu stolpern und sich dabei die Knochen zu brechen. Auch wusste sie längst, welche Schleichwege man nehmen musste, um ein paar Sekunden Zeit zu sparen. Einige der eng zusammenstehenden Häuser hatten einen schmalen Abstand zum nächsten Haus. So schmal und so dunkel, dass keine Pflanzen dort wuchsen und auch kein erwachsener Mensch dort langging. Doch kleine Menschen konnten sich hindurchzwängen und somit manchen Weg abkürzen. So gelangte Elly blitzschnell vom Schlosstor zum Theater, vorbei an den vielen kleinen Restaurants, die jetzt noch niemanden willkommen hießen. Elly wusste, um welche Uhrzeit die Stadt sicher war, nämlich dann, wenn die gut gelaunten Einwohner und Einwohnerinnen in ihren Betten schliefen und ihren Fluchtversuch nicht bemerken konnten.
Die Morgenluft war noch kalt und neblige Atemwolken umgaben Elly, ehe sie verblassten und in die Morgenluft aufstiegen. Ellys schwarze, schulterlange Haare flatterten wild im Wind. Überhaupt war alles an Elly rabenschwarz, bis auf ihre blasse, schwitzige Haut und eine ungewöhnliche weiße Haarsträhne, die aber genauso mit den anderen Haaren flatterte.
Ihre schwarze Jacke raschelte rhythmisch, ihre schwarzen Lederboots stampften über die unebenen Steine. Über der Schulter trug sie eine schwarze Reisetasche, die so schwer war, dass sie sich krumm machen musste, doch das war egal. Am wichtigsten aber war für Elly das, was sie auf dem Rücken trug. Auch wenn sie es gerne vor allen neugierigen Blicken verborgen hätte, nur war es dazu leider viel zu groß. Ein schwarzer Gitarrenkoffer.
An diesem Morgen war Ellys Herz schwer wie ein Stein. Ganz anders als ihre Beine, die waren federleicht, so wie Beine leicht werden, wenn man vor etwas davonrennen musste. Ja, es war eine Flucht und Elly wurde mit jedem Schritt eines immer klarer: dass sie niemals zurückkommen würde.
Elly dachte nicht daran, zu verschnaufen oder sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Nur weg, bevor alle wach wurden! Doch noch ehe der Gedanke zu Ende gedacht war, blockierte plötzlich etwas ihren Weg und nur eine Vollbremsung konnte sie vor einem Zusammenprall retten. Elly stürzte auf das harte, unerbittliche Kopfsteinpflaster mit den großen, dicken Steinen und den breiten Lücken dazwischen. Sie schrie auf und musste zusehen, wie der Aufprall zwei Löcher in ihre makellosen schwarzen Leggings riss.
»Sag mal, Mädel, schläfst du noch?!«
Zwei Männer in blauer Arbeitskleidung, die gerade ein großes Schild vor Ellys Nase über die Straße trugen, schauten sie genervt an. »Rennst hier wie der Teufel?«
»Was machst du so früh auf der Straße?«
»Hast es wohl eilig, in die Schule zu kommen?«
Elly biss den Schmerz weg. Dann hob sie den Kopf und starrte auf das große Holzschild, das die Männer trugen. Darauf war das Logo der Stadt mit dem lateinischen Spruch »Pax in Aeternum«: Frieden für Immer. In schönen handgeschriebenen Lettern stand daneben: »Musik für den Frieden!«
Der ältere Arbeiter musterte die gestürzte Elly kritisch von oben bis unten. Sie passte so gar nicht ins Stadtbild.
»In welcher Blasmusik-Kapelle bist du eigentlich zum großen Festival dieses Jahr? Und welches Instrument spielst du?«
»Ich? Ich spiele in der ersten Reihe den Mittelfinger!«
Elly klappte ihren Mittelfinger aus und pustete wie in eine Trompete.
Vor Entrüstung waren die Gesichter der Arbeiter eingefroren. Dann sahen sich die beiden ungläubig an.
Elly rappelte sich auf. Weiter!
Jetzt schauten bereits die ersten Bürger der Stadt aus ihren Häusern, und auch die beiden Posaunenjungs näherten sich dem Marktplatz, um weiter mit ihren Instrumenten zu üben. Diesmal hatten sie mit den Frühaufstehern sogar ein Publikum. Ganz sicher wollten sie auch beim großen Wettbewerb dabei sein.
Elly schüttelte sich, vor Ekel und auch um wieder klar denken zu können. Sie verschwand in der nächstbesten engen Gasse, die ihr den Weg aus der Stadt heraus bieten würde. Vorbei an den bunten Häusern und den bunten Blumen in den bunten Blumenkästen. Vorbei an den Katzen, die gemütlich am Dom in der Morgensonne dösten, ehe ihnen ihre Besitzer endlich die Tür zum Haus öffneten.
Nur eine Sache ließ Elly für einen Moment langsamer werden. Sie näherte sich einem Teil der Stadt, der ganz anders war als der Rest. Einem Stadtteil, den niemand mehr betreten wollte. Dort waren alle Häuser verlassen und schwarzer Ruß klebte an den rissigen Fassaden. Selbst die Gehwegsteine waren stumpf und schwarz, wie nach einem großen Brand. Es war das Morgenrot-Viertel und Elly wusste, dass sich hier niemand freiwillig aufhielt. Es hieß, das Viertel sei ein sichtbares Mahnmal, was der Stadt passieren würde, wenn man sich nicht an die Regeln hielt. Doch was für Regeln überhaupt? So machte Elly einen Bogen um die stillen verbrannten Gebäude und setzte ihren Weg fort.
»Da musst du dein Sparschwein aber etwas besser füttern.«
Hinter Ellys Rücken war schallendes Gelächter zu hören, doch gerade deshalb war es wichtig, jetzt nicht die Nerven zu verlieren. Mit Nachdruck schob sie dem Busfahrer ihr Geld entgegen. Doch der zeigte keine Regung, er thronte bequem auf seinem gepolsterten Fahrersitz und machte keine Anstalten, Elly in den Bus einsteigen zu lassen. Lieber fuhr er sich durch das schüttere Haar und checkte noch mal seinen Routenplan, obwohl es der gleiche war, den er auch schon gestern gefahren ist. Oder vor einem Jahr. Oder vor zehn Jahren. Er fuhr den Bus, der Elly am weitesten von Quedlinburg wegbringen würde.
»Bitte.«
»Kindchen, damit kommst du nicht ans Ziel. Okay?«
»Machen Sie ’ne Ausnahme!«
Elly schaute nicht flehend, denn Schwäche konnten viele Menschen schon von Weitem riechen. Jetzt war die Zeit, stark zu sein. Vor allem, weil hinter ihr im ranzigen Häuschen des Busbahnhofs eine Horde Teenager saß, die unglaublich dankbar über das kleine Schauspiel waren. Wie schön, wenn jemandem etwas Unangenehmes passierte und man ganz entspannt zuschauen durfte. Unter ihnen war auch Nana, die alle die »Queen of Chill« nannten. Sie konnte im Stehen schlafen und sah immer noch cool dabei aus. Ihr Erfindungsreichtum zu chillen war unermesslich und so hatte sie sogar eine geheime Hängematte in der Schule aufgehängt und verschwand manchmal dorthin, wenn sie die Nase voll hatte. Nana war zwei Jahre älter als Elly und gefühlt hundert Mal souveräner. Selbst ihre strubbligen, schwarzen Haare wirkten selbstsicherer und cooler als jede Faser an Ellys Körper. In ihren bunten Hippie-Klamotten und den Dutzenden geflochtenen Armbändern war Nana ein echter Farbtupfer an diesem grauen Morgen. Sie schaute Elly an und grinste frech. Elly verzog keine Miene, auch wenn ihr Kiefer vom Zähnezusammenbeißen bereits schmerzte. Sie wandte sich an den Busfahrer.
»Es tut niemandem weh, wenn Sie eine Ausnahme machen!«
Jetzt durchbohrten sie auch die neugierigen Blicke der Passagiere, die bereits im Bus Platz genommen hatten. Kleine Kinder in bunten Jacken rückten ganz nach vorne auf die Kanten ihrer Sitze, um genau zu...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Illustrationen | Jana Heidersdorf |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abeneteuer • Abhauen • Ausreißen • Blasinstrumente • Blasmusik • Geheimnis • Gothic • Grusel • Idylle • Kinderbuch ab 11 Jahren • Kleinstadt • Monster • Musik • Quedlinburg • Trompete • wednesday addams |
ISBN-10 | 3-7641-9346-8 / 3764193468 |
ISBN-13 | 978-3-7641-9346-1 / 9783764193461 |
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