Lacrimae (eBook)
Buchschmiede von Dataform Media GmbH (Verlag)
978-3-99152-149-5 (ISBN)
Michael Alois Schaireiter ist am 21.02.1988 in Salzburg als Michael Alois Reitsammer geboren. Aufgewachsen am Stadtrand in einer Welt zwischen Stadt und Land, sind ihm beide Umgebungen wichtig geworden. Er war Mitbegründer der Literaturplattform Poetro und absolvierte 2008 die Bakip Salzburg. Nach seiner Ausbildung erkundete er die Arbeitswelt in vielen Branchen bis er 2016 wieder in seinen erlernten Beruf einstieg. Seitdem arbeitet er als Elementar- und Wildnispädagoge im Herzen der Stadt. Bis heute ist er seiner Heimatstadt treu geblieben, lebt dort mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen am Stadtrand.
Es war ein Novembertag, vielleicht wars der fünfte, vielleicht wars der zwölfte, vielleicht aber auch der neunundzwanzigste.
Wie es solche Tage an sich haben, war er trüb und neblig.
Also, genau genommen nicht der Tag an sich, vielmehr das Wetter des besagten Tages. Das Wetter war also trüb und neblig. Der Wind hatte die Kälte aus dem Norden gebracht, die Leute atmeten weißen, sichtbaren Dampf aus, Autos hatten Schwierigkeiten zu starten, immer wieder hörte man ein absterbendes Geräusch eines unterkühlten Motors. Die Fenster der Häuser waren beschlagen von Feuchtigkeit. Zart gestrichene Eiskristalle glitzerten auf den Scheiben. Der vom Wetterbericht schon angesagte Schneeregen prasselte auf den Boden der Straße. Die Schneeflocken bedeckten sie mit einer weißgrauen Schicht. Das Wasser des Regens füllte die Löcher im Asphalt. Da umschlang der Sonnenuntergang die Stadt – wie eine Python ihr Opfer. Es wurde dunkel. Nur das Licht der Laternen erhellte die Straßen. Die sieben Glocken des Kirchenturms der Kirche der heiligen Catharina läuteten sieben Mal.
Ein junges Mädchen mit violettem Mantel lief die Bourgeois-Gasse entlang. Die Kapuze auf dem Kopf, ein grünes Tuch um den Hals gewickelt. Ihr Name war Ida Ingeborg, sie war zwölf Jahre alt und kam vom Krankenhaus. Nun kam sie zu spät! Sie lief weiter, durch eine Pfütze, dass es nur so spritzte. Das schmutzige Wasser saugte sich durch ihre Schuhe und machte ihre blauen Socken nass. Ida blieb stehen, nahm die Kapuze vom Kopf und schaute in den Himmel. Tausende Tropfen und Flocken stürzten auf sie zu. Sie glänzten im Laternenlicht. Mit offenem Mund versuchte sie einige Flocken zu erwischen, wie sie es als Kind immer getan hatte. Ein Tropfen sah dies und versuchte direkt in ihren Mund zu fliegen. Er war erfolgreich. Mit dem Geschmack von kaltem Schnee auf der Zunge schloss Ida ihre Augen und ließ die Zeit stillstehen. Die Flocken und Tropfen flogen nicht mehr, sondern schwebten geradezu schwerelos in der Luft.
Sie überlegte, warum ihr das alles passieren musste und warum das alles überhaupt passieren musste. Da musste sie weinen. Ihr Schluchzen hallte von den Wänden der Häuser wider, und als sie ihr Echo hörte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie es langsam ein bisschen mühselig fand, ständig weinen zu müssen. Eine Träne rann ihre Wange entlang. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie tief Luft holte, und beschloss, in jenem Augenblick stark zu sein. Sie fasste Mut. „Irgendwie werd’ ich das schon schaffen!“, sagte sie sich selbst. Die Träne fiel mit den Tropfen und den Flocken zu Boden. In diesem Moment schwor sie sich, dass dies die letzte Träne gewesen sein sollte, die sie verweint hat, und lief weiter Richtung Kirchturm. Die Zeiger der Kirchturmuhr standen auf zwanzig nach sieben, und genauso wie die Kirchturmuhr die Uhrzeit wusste, wusste Ida, dass sie mächtigen Ärger bekommen würde. Leise schlich sie sich in den Speisesaal des Waisenhauses. Sie nahm sich ein Tablett und wollte sich anstellen, um nicht aufzufallen. Das Problem war nur, dass keine Reihe mehr da war, an der man sich anstellen hätte können. Alle anderen Kinder des Waisenhauses der Schwestern des Ordens der hl. Catharina saßen schon an den Tischen und waren fast fertig mit dem Essen.
Schwester Olivia, die Äbtissin des Klosters und Direktorin des Waisenhauses, kam zur ihr und sprach mit dünner Stimme: „Haben Sie mir etwas zu sagen, Fräulein Ingeborg?“ Ida schaute sie eingeschüchtert an. „Mutter Oberin, ich habe meine Mutter besucht, wie Sie wissen. Der Weg dauerte länger, als ich gedacht hatte, und …“ „Ich will nichts davon hören! Nicht mal den Anstand, pünktlich zum Abendessen zu kommen, auch noch mit nasser Kleidung zum Essen auftauchen. Ich wusste schon, es war eine närrische Idee, Ihnen diesen Besuch zu erlauben. Ziehen Sie Ihren Mantel aus und hängen Sie ihn in die Garderobe. Danach kommen Sie an meinen Tisch und entschuldigen sich für Ihr Benehmen. Dann können Sie Ihr Abendmahl zu sich nehmen!“ Ida ging in die Garderobe und hängte ihren nassen Mantel auf, wechselte die Schuhe und ging zurück zum Speisesaal.
„Mutter Oberin, ich wollte mich entschuldigen!“, sagte sie höflichst, als sie vor dem Tisch der Nonnen und Lehrer stand. Schwester Olivia schaute sie streng an. „Nun gut, entschuldigen Sie sich!“, sagte sie spitz. „Entschuldigung!“, stotterte Ida, ihre Stimme voller Scham. Alle Augen waren beim Tisch der Nonnen. Ida musste kämpfen, um nicht zu weinen. „Solch ein Benehmen wird hier nicht gestattet. Bete vierzig Ave-Maria vor dem Schlafengehen! Gott wird Sie bestrafen, wenn Sie es nicht tun. Außerdem erwarte ich von Ihnen, dass Sie nach dem Essen den Abwasch machen. Als Satisfaktion! Nun können Sie Ihr Mahl zu sich nehmen!“ Der Tisch der Nonnen war reichlich gedeckt. Käseplatten mit Walnüssen, Schinken und Speck mehrerer Art. Ida bekam nur noch einen kalten Kartoffelbrei mit schrumpeligen Erbsen. Die dazugehörigen Fleischlaibchen waren alle schon aufgegessen. Widerwillig aß sie den Brei. Eine Woche war sie nun im Heim. Es gefiel ihr gar nicht. Die anderen Kinder waren schüchtern und verängstigt, überspielten dies jedoch mit übertriebenen Gemeinheiten. Das Essen wurde beendet mit einem Gebet, daraufhin stellten sich alle Kinder in einer Reihe auf – unter den strengen Blicken der Nonnen und Lehrer. Leise und gezähmt, ohne zu schieben und zu drängeln, gingen sie aus dem Speisesaal hinaus.
Außer Ida, die noch aufräumen musste, und ein kleiner Junge, der sie fragend ansah. Er war zehn, blond und hieß Leopold Lichtblick. „Musst du auch die Küche aufräumen?“, fragte er schüchtern. Ida fiel auf, dass seine Hände ganz aufgeschürft waren. „Ich bin Ida, Ida Ingeborg! Ja, weil ich zu spät zum Essen gekommen bin, aber zu zweit haben wir das schnell erledigt!“ Sie krempelte ihre Ärmel hoch, Leo tat es ihr gleich, und so fingen sie an, die schmutzigen Teller abzuräumen. „Warum bist du denn dazu verdonnert worden?“, fragte sie den schüchternen Jungen, der einen Stapel voller Teller hielt. „Ach, ich hab dem Lehrer Wiedmann Tinte in seinen Kaffee geschüttet!“, murmelte er und schaute, sich schämend, auf den Boden. „Was hast du? Tinte?“, musste Ida nachfragen, sie hatte dem lieben Leo solcherlei Art Scherze gar nicht zugetraut. Sie musste lachen. Leo hob den Kopf und lachte auch. „Den hättest du sehen müssen, sein Mund und seine Zähne waren ganz blau, und er hat am Anfang gar nichts bemerkt! Wollte uns irgendetwas über Pythonkoras oder so erzählen, doch keiner hörte zu, weil alle lachen mussten. Als ihm niemand sagen wollte, warum alle lachen, packte er seine Rute aus und hat einen nach dem anderen verhauen. Mit blauem Mund, als hätte er Schimmel auf den Zähnen. Ist auch selber schuld, wenn er mich nachsitzen lässt. Fünf Stunden bin ich an einer Hausübung gesessen. Und er hat mich trotzdem alles noch einmal neu machen lassen, während die anderen draußen Fußball spielten.“
„Und dann, wie hat er es dann bemerkt?“ „Ein Kind hat es ihm verraten, und den Schuldigen hatte er gleich. Denn wenn der Herr Lehrer einen Schuldigen sucht, dann findet er immer mich.“ Ida schaute ihn an. Sein Gesicht glich dem eines müden Engels. Sie schlug ihm vor, während des Abwaschens das Einmaleins zu singen. Damit er das nächste Mal nicht mehr so lang für eine Hausübung brauche und dann dem Lehrer auch keine Tinte in den Kaffee schütten müsse. So wuschen sie die Teller ab, ihre Finger wurden ganz schrumpelig, und sie sangen fröhlich das Einmaleins, bis sie die Arbeit erledigt hatten. Sie hatten Spaß, und die Zeit verging schneller, als es sich angefühlt hatte. Als sie fertig waren, gingen sie gemeinsam zu den Schlafsälen. Sie gingen bis zur Treppe in den zweiten Stock, dort befand sich der Schlafsaal der Jungen. Ida musste noch einen Stock höher, in den Schlafsaal der Mädchen. „Danke, dass du mir geholfen hast!“, sagte Leo, bevor sie sich trennten. „Ach, kein Problem! Musste ich doch! Gute Nacht und träum was Schönes.“ „Du auch, Ida Ingeborg! Gute Nacht!“ Sie lächelten sich noch einmal verschmitzt zu. Dann ging Leo in den Schlafsaal der Jungen, und Ida ging in den Schlafsaal der Mädchen.
Auf dem Weg die Marmorstiegen hoch machte sie sich Gedanken über den lieben Leo. Sein Blick war zwar ein tapferer, mutiger Blick, voller Licht und Hoffnung, aber dennoch bargen seine Augen auch, in der Tiefe ihres Lichts, eine Trauer, die Ida nicht fassen konnte. Sie fühlte diese Trauer, wenn sie ihm in die Augen blickte, in der Mitte ihres Herzens – ein Stich –, doch begreifen konnte man sie nicht, diese Trauer.
Was ihn wohl so traurig machte? Es war, als wäre seine Trauer ein...
Erscheint lt. Verlag | 27.6.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-99152-149-0 / 3991521490 |
ISBN-13 | 978-3-99152-149-5 / 9783991521495 |
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Größe: 35,6 MB
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