Alice im Wunderland & Alice hinter den Spiegeln (2in1-Bundle) (eBook)
320 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-31152-0 (ISBN)
Charles Lutwidge Dodgson (1832-1898) ging unter seinem Pseudonym Lewis Carroll in die Literaturgeschichte ein. Der Dozent für Mathematik und Logik am Christ Church College in Oxford wurde zu einem der bekanntesten Vertreter der ?englischen Nonsens-Literatur?. »Alices Abenteuer im Wunderland« - das er 1864 ursprünglich für die kleine Tochter seines Dekans, Alice Pleasance Liddel, geschrieben hatte - zählt heute zu den Meisterwerken der Weltliteratur. »Through the Looking-Glass« (dt. »Alice hinter den Spiegeln«) folgte 1871. Sein Nonsens-Gedicht »Die Jagd nach dem Schnatz - Eine Agonie in acht Krämpfen« erschien 1876. Die in Versform verfasste Geschichte wurde als Kinderbuch mit zahlreichen Illustrationen veröffentlicht und seitdem in etlichen Varianten für die Bühne und als Musical bearbeitet.
Von ihm sind im Hörverlag bisher »Alice im Wunderland« und »Die Jagd nach dem Schnatz« erschienen.
ZWEITES KAPITEL
Der Tränenteich
»Das wird ja immer kuriöser!«, rief Alice (vor lauter Verblüffung vergaß sie völlig, wie man sich richtig ausdrückt). »Jetzt schiebe ich mich auseinander wie das längste Fernrohr, das es jemals gegeben hat! Macht’s gut, ihr Füße!« (Denn als sie auf ihre Füße hinuntersah, konnte sie diese kaum mehr erkennen, so weit entfernt waren sie schon.) »Oh, meine armen kleinen Füße, wer wird euch jetzt wohl eure Schuhe und Strümpfe anziehen, ihr Lieben? Ich jedenfalls kann das bestimmt nicht mehr! Ich bin viel zu weit weg, um mich mit euch abzugeben; ihr müsst nun sehen, wie ihr allein zurechtkommt – aber ich muss nett zu ihnen sein«, überlegte Alice, »sonst gehen sie vielleicht nicht mehr dorthin, wohin ich gehen möchte. Lass mich mal sehen: Ja, ich werde ihnen jedes Jahr zu Weihnachten ein Paar neue Stiefel schenken.«
Und sofort schmiedete sie Pläne, wie sie das bewerkstelligen würde. »Sie müssen von einem Boten überbracht werden«, dachte sie sich; »wie seltsam das sein wird, seinen eigenen Füßen Geschenke zu schicken! Und wie eigenartig erst die Adresse aussehen wird!
An
Alices rechten Fuß, Wohlgeboren
Auf dem Kaminvorleger beim Ofenschirm
(mit herzlichen Grüßen von Alice)
Du meine Güte, was rede ich da für einen Unsinn!«
Just in diesem Augenblick stieß ihr Kopf gegen die Decke des Saals: Sie war jetzt nämlich schon über neun Fuß groß, und so schnappte sie sich sogleich das goldene Schlüsselchen und eilte hinüber zur Gartentür.
Arme Alice! Alles was sie dort tun konnte, war, sich auf die Seite zu legen und mit einem Auge in den Garten zu linsen; doch dorthin zu gelangen war hoffnungsloser als je zuvor, also setzte sie sich auf und fing erneut an zu weinen.
»Du solltest dich wirklich schämen«, sagte Alice, »ein großes Mädchen wie du« (da hatte sie wohl recht) »immer noch so zu weinen! Hör auf damit, und zwar sofort!« Aber sie weinte trotzdem weiter und vergoss solche Mengen von Tränen, dass sich um sie her ein großer Teich bildete, der ungefähr vier Zoll tief war und den halben Saal bedeckte.
Nach einer Weile hörte sie von ferne das Trippeln von Füßen, und so wischte sie sich hastig die Augen, um zu sehen, wer da gelaufen kam. Es war das Weiße Kaninchen, das, prächtig gekleidet, zurückkehrte und in der einen Hand ein Paar weißer Glacéhandschuhe und in der anderen einen Fächer trug. In großer Eile trabte es den Saal entlang und murmelte dabei vor sich hin: »Herrje, die Herzogin, die Herzogin! Oh, sie wird bestimmt außer sich sein, wenn ich sie warten lasse!« Alice war so verzweifelt, dass sie jeden um Hilfe gebeten hätte. Als das Kaninchen näher kam, begann sie daher mit leiser, zaghafter Stimme: »Ach bitte, mein Herr …« Das Kaninchen fuhr heftig zusammen, ließ die weißen Glacéhandschuhe und den Fächer fallen und flitzte, so schnell seine Beine es trugen, in die Dunkelheit davon.
Alice hob den Fächer und die Handschuhe auf, und da es im Saal sehr heiß war, fächelte sie sich zu, während sie weiterredete: »Du liebe Zeit! Wie verquer heut alles ist! Und gestern lief noch alles wie gewöhnlich. Ob ich wohl in der Nacht ausgewechselt worden bin? Lass mich mal überlegen: War ich wirklich dieselbe, als ich heute Morgen aufstand? Es kommt mir fast so vor, als hätte ich einen kleinen Unterschied gespürt. Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, stellt sich doch die Frage: Wer um alles in der Welt bin ich dann? Ja, das ist das große Rätsel!« Und sie begann, alle Kinder ihres Alters, die sie kannte, in Gedanken durchzugehen, um zu sehen, ob sie vielleicht gegen eines von ihnen ausgetauscht worden sein könnte.
»Ada bin ich bestimmt nicht«, sagte sie, »denn ihr Haar hat solche langen Ringellocken, und meins ist überhaupt nicht lockig; und Mabel kann ich auch nicht sein, denn ich weiß ziemlich viele Sachen, und sie, oh, sie weiß ja fast gar nichts! Außerdem ist sie sie und ich bin ich und – du meine Güte, wie verwirrend das alles ist! Ich will doch mal sehen, ob ich noch all die Dinge weiß, die ich sonst immer wusste. Schauen wir also: Vier mal fünf ist zwölf, und vier mal sechs ist dreizehn, und vier mal sieben ist – ach herrje, auf diese Art komme ich nie bis zwanzig! Aber das Einmaleins hat nichts zu bedeuten; versuchen wir es mit Geografie: London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist die Hauptstadt von Rom, und Rom – nein, ich wette, das ist alles falsch! Dann bin ich also doch gegen Mabel ausgewechselt worden! Ich versuche mal, Bei einem Wirte … aufzusagen«, und sie faltete die Hände im Schoß, wie wenn sie ihre Hausaufgaben vortragen müsste, und fing an, die Verse aufzusagen, aber ihre Stimme klang heiser und sonderbar, und die Worte kamen nicht so heraus wie sonst:
»Bei einem Wirte, wunderwild,
Da war ich jüngst zu Gaste,
Ein Bienennest, das war sein Schild
In einer braunen Tatze.
Es war der grimme Zottelbär,
Bei dem ich eingekehret;
Mit süßem Honigseim hat er
Sich selber wohl genähret!«
»Nein, das sind bestimmt nicht die richtigen Worte«, sagte die arme Alice, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, während sie fortfuhr: »Ich muss also doch Mabel sein, und ich werde in diesem winzig kleinen Haus wohnen müssen und so gut wie gar keine Spielsachen haben und – oje! – haufenweise lernen müssen! Aber nichts da, eins ist beschlossene Sache: Falls ich wirklich Mabel bin, dann bleibe ich hier unten! Es wird ihnen nichts nützen, wenn sie ihre Köpfe herunterbeugen und mir von oben zurufen: ›Komm doch wieder herauf, Herzchen!‹ Ich werde einfach zu ihnen hochschauen und sagen: ›Wer bin ich denn dann? Das verratet mir erst einmal, und wenn ich diese Person sein möchte, werde ich kommen; wenn nicht, bleibe ich hier unten, bis ich wer anders bin‹ – aber ach, wie sehr«, schluchzte Alice plötzlich auf, »wie sehr wünschte ich, sie würden ihre Köpfe herunterbeugen! Ich bin es wirklich leid, hier ganz allein zu sein!«
Während sie das sagte, sah sie auf ihre Hände hinunter und bemerkte erstaunt, dass sie beim Reden einen der kleinen weißen Glacéhandschuhe des Kaninchens angezogen hatte. »Wie kann ich das nur geschafft haben?«, dachte sie. »Ich muss wieder geschrumpft sein.« Sie stand auf und ging zu dem Tisch, um sich daran zu messen, und sie stellte fest, dass sie nach ihrer Schätzung jetzt nur noch etwa zwei Fuß groß war und zusehends immer noch weiterschrumpfte; schnell erkannte sie, dass der Grund dafür der Fächer war, den sie in der Hand hielt, und hastig ließ sie ihn fallen, gerade noch rechtzeitig, um sich vor dem restlosen Hinwegschrumpfen zu bewahren.
»Das war wirklich knapp!«, sagte Alice, ziemlich erschrocken über die plötzliche Veränderung, aber sehr froh, dass sie immer noch da war. »Und jetzt ab in den Garten!« Und so schnell sie konnte, rannte sie zu der kleinen Tür; aber ach, die kleine Tür war wieder verschlossen, und das goldene Schlüsselchen lag nach wie vor auf dem Glastisch. »Und alles ist noch schlimmer als je zuvor«, dachte das arme Kind, »denn so winzig wie jetzt bin ich überhaupt noch nie gewesen! Und das ist doch aber nun wirklich zu dumm, ist das!«
Bei diesen Worten glitt sie aus, und im nächsten Augenblick – platsch! – stand sie bis zum Kinn in Salzwasser. Als Erstes glaubte sie, irgendwie ins Meer gefallen zu sein, »und wenn es so ist«, sagte sie sich, »kann ich ja mit der Eisenbahn zurückfahren.« (Alice war ein Mal in ihrem Leben am Meer gewesen und hatte daraus den allgemeinen Schluss gezogen, dass überall an der englischen Küste zahlreiche Badekarren im Wasser stehen, Kinder mit hölzernen Spaten den Sand aufgraben, dann eine Reihe von Ferienhäusern kommt und dahinter schließlich ein Bahnhof zu finden ist.) Doch schnell wurde ihr klar, dass sie in jenem Tränenteich schwamm, den sie zusammengeweint hatte, als sie noch neun Fuß groß gewesen war.
»Hätte ich doch nur nicht so viel geweint!«, sagte Alice, als sie umherschwamm und wieder herauszukommen versuchte. »Jetzt werde ich vermutlich dafür bestraft, indem ich in meinen eigenen Tränen ertrinke! Das wäre wirklich eine seltsame Angelegenheit! Aber heute ist ja alles so seltsam.«
Da hörte sie nicht weit entfernt etwas im Teich herumplätschern, und sie schwamm näher heran, um zu sehen, was es war: Zuerst meinte sie, es sei ein Walross oder ein Nilpferd, doch dann fiel ihr wieder ein, wie klein sie jetzt war, und sie erkannte schnell, dass es sich nur um eine Maus handelte, die ebenso wie sie ins Wasser gefallen...
Erscheint lt. Verlag | 30.8.2023 |
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Illustrationen | John Tenniel |
Übersetzer | Angelika Beck, Jan Strümpel |
Zusatzinfo | MIt zahlreichen sw-Illustrationen |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Alice’s Adventures in Wonderland & Through the Looking-Glass, and What Alice Found There |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
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ISBN-10 | 3-641-31152-7 / 3641311527 |
ISBN-13 | 978-3-641-31152-0 / 9783641311520 |
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