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Sommer auf den Hummerklippen -  James Krüss

Sommer auf den Hummerklippen (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-201-9 (ISBN)
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Der achtjährige Boy ist ganz aus dem Häuschen. Denn er darf eine Woche seiner Sommerferien bei Johann, dem  Leuchtturmwärter auf den Hummerklippen, verbringen. Und weil Boy weiß, dass dort jeden Tag erzählt, vorgelesen und gereimt wird, nimmt er den alten Seemannskalender seines Urgroßvaters mit. Das wird sicher der tollste Sommer seines Lebens!

James Krüss, geboren am 31. Mai 1926 auf Helgoland, ist einer der berühmtesten und einfallsreichsten Kinderbuchautoren Deutschlands. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und ist u. a. Träger des Deutschen Jugendbuchpreises und des Hans-Christian-Andersen-Preises.

James Krüss, geboren am 31. Mai 1926 auf Helgoland, ist einer der berühmtesten und einfallsreichsten Kinderbuchautoren Deutschlands. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und ist u. a. Träger des Deutschen Jugendbuchpreises und des Hans-Christian-Andersen-Preises.

Das Buch beginnt mit einem Wunsch


Haltet die Uhren an. Vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen. Wir wollen in der Zeit zurück- und vorwärtswandern, Vergangenheit und Gegenwart durchstreifen und manchmal Blicke in die Zukunft tun. Die 101 Geschichtentage meines Lebens, an denen ich Geschichten hörte oder auch erzählte, sie werden euch hier nacherzählt, vom ersten bis zum hundertersten Tag.

Der Ort, an dem ich die Geschichten in die richtige Reihenfolge bringe, ist eine Insel vor der Küste Afrikas. Hier waren einmal, so sagt man, die Glücklichen Inseln. Hier, heißt es, lagen die Gärten der Hesperiden, aus denen Herkules die goldenen Äpfel stahl. Hier war die Zeit stets anders als woanders. Hier lief man noch in Ziegenfellen oder Lendenschurzen, als Herr Kolumbus, reich gekleidet, von diesen Inseln aus Amerika entdeckte. Hier zählt die Zeit nach schönen Augenblicken. Drum haltet eure Uhren an. Vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen.

Ich sehe euch, wie ihr euch unter mir, im Tal der Palmen, von allen Seiten her versammelt. Ich sehe euch, wie ihr euch auf die Felsen setzt, erwartungsvoll. Ich sehe euch sitzen mit baumelnden Beinen auf der anderen Seite der Schlucht, in mein Gehäuse auf dem Dache niederblickend mit gespannten Mienen. Auch auf den Mauern und Terrassen meines Hauses sehe ich euch sitzen, und alle Fenster meiner Bücherbude sind für euch geöffnet. Der Tag ist schön. Die Kaktusfeigen blühen. Und wenn ein Dröhnen euch erschreckt, dann ist es nur der Fischmann: Er bläst auf seiner Muschel und zieht weiter.

Wenn aber über dem Tal der Mond aufgeht, schlaft ein: Ihr werdet euch in euren eigenen Betten wiederfinden. Doch wollt ihr wiederkommen, dann schlagt die Bücher der 101 Geschichten auf. Dann sitzt ihr wieder unter oder über mir im Tal und auf den Felsen, und heute ist gestern und gestern ist heute.

Vergesst die Zeit, die man Geschichte nennt. Taucht ein in die Zeit der Geschichten. Auch ich vergesse die Zeit. Ich sitze unter euch, acht Jahre alt, ein Kind unter Kindern. Kommt mit zu einer kleinen Insel in der Nordsee und lasst euch die Geschichten des ersten bis vierten Tages erzählen.

Und fragt ihr mich nun doch nach Ort und Zeit, dann ist es Sommer und ihr lest:

 

In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, war ich noch nicht geboren. Als ich zur Welt kam, half das Wünschen schon nichts mehr. Nur einmal hat es mir, glaube ich, doch geholfen. Das war an einem kalten Wintermorgen, als aus dem grauen Meer der Rand der Sonne sichtbar wurde. Da sagte Gintje, unsere alte Nachbarin: »Mach schnell die Augen zu und wünsch dir was, mein Junge. Halt das Gesicht in Richtung Sonne, und wenn du meinst, sie ist erschienen, dann mach die Augen wieder auf.«

Alles, was Gintje sagte, tat ich auch, und als ich hinterher die Augen wieder aufschlug, war schon der ganze Sonnenball zu sehen.

»Dein Wunsch wird in Erfüllung gehen«, sagte Gintje. »Hast du dir etwas Schönes gewünscht?«

»Ich glaube schon«, sagte ich.

Wir standen an jenem kalten Wintermorgen am Klippenrand der kleinen Insel Helgoland, die wie ein dreieckiges Tortenstück mit roten und weißen Schichten in der grünen Nordsee liegt, wenn man vom Flugzeug auf sie niedersieht. Am Rande dieses Tortenstücks aus rot und weiß gestreiften Felsen standen wir also, gelehnt auf eine kleine Mauer, sahen das grüne Meer, das vor dem Sonnenaufgang grau gewesen war, sahen die kleine Sanddüne neben der Insel, die damals gerade die Form eines Schuhlöffels hatte, und sahen nieder auf die roten Dächer unter uns, die Dächer des kleinen Unterlandes am Fuße des Felsens.

Wir standen aber nicht allein am Felsrand. Links und rechts von uns lehnten sich viele Insulaner auf die kleine Mauer, alte und junge, Frauen und Männer, weil ein nachgebautes Wikingerschiff mit rot und weiß gestreiften Segeln, also gestreift wie unser Felsen, von Dänemark nach Amerika unterwegs war. An diesem Wintermorgen, kurz nach Sonnenaufgang, sollte das Schiff in Sichtnähe unserer kleinen Insel vorbeisegeln. Deshalb standen all die Menschen am Felsrand, darunter ich, ein achtjähriger Junge, der kurz zuvor den Wunsch getan hatte … Aber das darf ich jetzt noch nicht verraten. Der Wunsch muss ja erst in Erfüllung gegangen sein.

Das Wikingerschiff kam übrigens viel später in Sicht, als wir erwartet hatten. Die Sonne stand schon fast eine Handbreit über dem Horizont, als Unruhe in die lange Reihe der Insulaner an der Mauer kam. Irgendjemand meinte, mit dem Fernglas einen Punkt am Horizont entdeckt zu haben, und nun blickte alles in diese Himmelsrichtung.

Aber es dauerte noch eine kleine Weile, ehe Jan Janssen, der Wetterprophet der Insel, verkündete: »Es kommt in Sicht.«

Ich selbst sah nichts, weil ich kein Fernglas hatte, aber vielleicht eine halbe Stunde später erkannte auch ich den Mast und das Segel über dem Rand des Meeres. Abermals eine halbe Stunde später erkannte ich das ganze Schiff und glaubte sogar, die roten Streifen zu erkennen. Nach einer dritten halben Stunde aber rauschte mit geblähten rot-weiß gestreiften Segeln das hochgeschnäbelte Schiff an der Insel vorüber. Da böllerte eine kleine Kanone in unserem Rücken dreimal, und vom Schiff antwortete man mit drei Pistolenschüssen, deren Knall die klare Winterluft zum Inselchen herübertrug.

Natürlich wich und wankte keiner von seinem Platz an der Mauer, solange das Schiff noch zu sehen war. Erst als es als ein kleiner ferner Punkt im Grau des Meeres unterging, löste die Reihe an der Mauer sich gemächlich auf, und man ging heim in die geheizten Häuser zum Frühstück mit heißem Kaffee.

Das war der Tag, an dem ich meinen Wunsch tat.

Ungefähr ein halbes Jahr später – es war Juli, und die Sommerferien hatten gerade begonnen –, ein halbes Jahr später kam eines Morgens eine unserer Nachbarinnen in mein Elternhaus.

Sie wurde von aller Welt Tante Julie genannt; warum, wusste niemand genau. Diese Tante Julie kam in mein Elternhaus und sagte zu meiner Mutter, die gerade Fisch abschuppte: »Margareta, stell dir vor: Johann hat mir geschrieben. Er lädt euren Boy zu sich ein. Auf den Leuchtturm.«

Der Junge, den man Boy nannte, war ich. Der Mann, den Tante Julie Johann nannte, war Wärter weit, weit draußen im Meer auf einem Leuchtturm, der des Nachts den Schiffen leuchtete.

Zufällig hatte ich Tante Julie reden gehört, als ich gerade vom ersten Stock meines Elternhauses das Treppengeländer hinunterrutschen wollte. Nun rutschte ich, so schnell es ging, hinunter, sprang unten mit geübtem Schwung auf meine Beine, stolperte aufgeregt in die Küche und fragte: »Wann soll ich denn zum Leuchtturm fahren, Tante Julie?«

»Zuerst einmal sag Guten Morgen«, sagte meine Mutter. Und ich – was blieb mir übrig? – sagte artig Guten Morgen.

»Und nun hol rasch das Brot von Bäcker Jacob. Es ist schon bezahlt. Danach darfst du noch einmal fragen. Husch!«

Ich armes Würstchen lief also zum Bäcker Jacob, um das Brot zu holen, das schon bezahlt war. Unterwegs wirbelten mir die Gedanken wild im Kopf herum. Würde mein Vater mich zum Leuchtturm fahren lassen? Und wie fährt man zu einem Leuchtturm mitten im Meer? Etwa mit einem Dampfer? Wer aber würde mich dort hinbringen? Und vor allem: Wann sollte diese Reise vor sich gehen?

Ich hatte hundert Fragen an die Tante Julie, aber als ich ins Haus zurückkam, war sie leider nicht mehr da. Und als ich meine Mutter nach der Fahrt zum Leuchtturm fragte, sagte sie: »Warte mit deinen Fragen bis zum Mittagessen, wenn dein Vater da ist.«

Nun waren es aber bis zum Mittagessen noch zwei Stunden Zeit, und ich war ungeduldig. So beschloss ich zu meinem Vater in das Unterland zu laufen, der im Hotel Empress of India Lichtleitungen verlegte. Doch unterwegs überlegte ich es mir anders. Der Klügste in der Familie, überlegte ich mir, ist der alte Boy, mein Urgroßvater. Zu dem werde ich gehen.

Und das tat ich. Mein Urgroßvater, der ein Hummerfischer war, flickte gerade, wie ich wusste, Hummerkörbe, die Körbe, mit denen man die gepanzerten Wassertiere fängt. Und er flickte sie natürlich in seiner Hummerbude auf dem Oberland, in der Trafalgarstraße. Und dorthin ging ich.

»Tag, Urgroßvater«, sagte ich dort. »Ich habe ein Problem.«

»Ich habe meist mehrere gleichzeitig, Boy«, sagte mein Urgroßvater, der vor sich auf einer Drehbank einen Hummerkorb mit zerrissenem Netzwerk stehen hatte. »Welches Problem hast du denn?«

»Ich bin zum Leuchtturm auf den Hummerklippen eingeladen; aber ich weiß nicht, ob mein Vater mich auch fahren lässt.«

»Mit wem sollst du denn fahren?«

»Das weiß ich nicht. Der Wärter Johann – du kennst ihn ja – hat Tante Julie geschrieben, dass ich eingeladen bin. Aber wie ich hinkomme, weiß ich noch nicht.«

»Hm«, machte mein Urgroßvater. Und noch einmal »hm«. Dann legte er die hölzerne Netznadel auf die Drehbank und sagte: »Dappi Lorenzen soll irgendetwas auf dem Leuchtturm reparieren. Er wird mit seinem Motorboot hinfahren. Und Dappi fährt nicht gern allein. Merkst du was?«

»Ich soll dann wohl mit Dappi fahren, Urgroßvater?«

»Das nehme ich an, mein Junge. Ein Risiko ist ja bei diesem Wetter nicht dabei. Es ist einer der schönsten Sommer seit Langem, nicht zu heiß, nicht zu kühl, das Meer immer glatt wie ein Spiegel und hübsch verteilte Wolken überall. Ich habe sogar ein Sommer-Abc gedichtet. Willst du es hören?«

Mein Urgroßvater hatte neben seiner Hummerfischerei zwei Lieblingsbeschäftigungen: Er drechselte Holzkreisel für Kinder und Gedichte für Kinder. Und nun hatte er also ein sogenanntes Abc-Gedicht über den...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2023
Reihe/Serie Die Hummerklippen
Die Hummerklippen
Illustrationen Maja Bohn
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Kinder- / Jugendbuch Vorlesebücher / Märchen
Schlagworte Buch für die ganze Familie • Geschichten • Helgoland • Kinderbuch • Kindergedichte • Klassiker • Leuchtturm • Seemannsgarn • Sommerferien • Vorlesen
ISBN-10 3-03792-201-X / 303792201X
ISBN-13 978-3-03792-201-9 / 9783037922019
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