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Augenblicke -  Reinhard Boos

Augenblicke (eBook)

Protokoll einer Katastrophe
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
208 Seiten
Rheinlese Verlag
978-3-9822279-5-5 (ISBN)
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Statt eines Vorworts

Liebe Leserin, lieber Leser, die Handlung und der zentrale Ort der folgenden Geschichte sind frei erfunden. Vergeuden Sie keine kostbare Lebenszeit mit der Suche nach einem Gymnasium am Rhein. Denn solche Schulen gibt es überall. Vielleicht sogar in Ihrer Stadt.

Begegnen Sie aber Menschen, die den Romanfiguren ähneln, empfiehlt Ihnen der Autor einen Mindestabstand von zwei Metern.

Sie können nicht wissen, welches Virus diese Personen vielleicht übertragen oder ob sie nicht nur die Erfindung eines kreativen Geistes sind.

Und wie immer an dieser Stelle gilt, nichts ist beabsichtigt, alles ist möglich.

Donnerstag, 25.08.

Tim

Es war kurz vor neun, als ich Gonsenheims 1a Wohnlage erreichte. Feine Gegend. Bungalows, Villen mit riesigen Fensterfronten, umgeben von hohen Tannen, die der Klimawandel vertrocknen ließ, niedrige Mauern, Gärten und Doppelgaragen, viele SUVs, ein paar Kleinwagen als Zweitautos für die Gattin. Ich parkte meinen Wagen vor der Garageneinfahrt, stieg aus und ging auf das zweistöckige weiße Gebäude mit Stuckverzierungen zu. Jugendstil vom Feinsten, aber drunter macht der Alte es ja auch nicht. Umgeben von hohen Tannen und Fichten lag die Villa so still wie eine Gruft.

Die einzigen Geräusche, die zu hören waren, Vogelgezwitscher. Ich legte einen Finger auf den silbernen Messingknopf an der Pforte, wartete das Summen ab, drückte das gusseiserne Gartentor auf und betrat den mit grauen Betonfliesen ausgelegten schmalen Weg, der zum Hauseingang führte. Leise fiel das schwere Tor hinter mir ins Schloss. Mein Schwiegervater begrüßte mich an der Tür, ein Tablett balancierend, auf dem zwei Kaffeetassen standen. Ich konnte ihm nicht ansehen, ob er sich freute, mich zu treffen.

„Hedwig lässt dich grüßen, Tim. Sie ist zum Joggen. Lass uns in den Garten gehen. Dort ist es angenehmer als drinnen.“

Friedhelm stellte das Tablett auf das runde Marmortischchen, das vor zwei Gartenstühlen mit schwarz-grau karierten Auflagen stand. Wir setzten uns, tranken einen kleinen Schluck und stellten die Tassen auf das Tischchen. Mein Schwiegervater trug ein weißes Poloshirt und eine lange helle Stoffhose. Nach drei Wochen Kreuzfahrt durchs Mittelmeer sah er sehr gut erholt aus.

„Schön, dass du so schnell kommen konntest.“

Friedhelm lächelte etwas zu lange.

„Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, Tim. Ich muss auch gleich ins Amt. Eva war beim Essen am Dienstag, das du ja kurzfristig wieder aus beruflichen Gründen ausfallen lassen musstest, mit den Nerven völlig fertig. Sie sagte, sie sehe dich viel zu selten. Wenn du nach Hause kämst, wärst du müde und würdest kaum mit ihr reden. Kurzum, Hedwig und ich machen uns Sorgen um eure Ehe.“

Der verbale Überfall traf mich unvorbereitet.

„Unsere Ehe ist sicher, Friedhelm. Manchmal muss ich Eva und Julia etwas vernachlässigen, was mir sehr leidtut. Es gibt Abende, da komme ich sehr spät aus der Redaktion und …˝

„Oder mit dieser Brünetten aus dem Hotel am Hauptbahnhof“, unterbrach mich mein Schwiegervater.

Mein Bein zuckte nervös, ich stieß an das Tischchen und die Tassen klapperten. Wie gelähmt starrte ich Friedhelm an und spürte, dass ich blass wurde.

„Du lässt mich bespitzeln?“

„Es war eher ein Zufall. Du gibst deine außereheliche Beziehung also zu, Tim?“

Ich zog es vor, nichts zu sagen. Friedhelm griff zu seiner Tasse und trank ein paar Schlucke. Seine stahlblauen Augen fixierten mich.

„Die Brünette lässt du ab sofort sausen. Verstanden?“

Ich schluckte ein paar Mal. Was ging Friedhelm mein Privatleben an? Ich würde Eva nie verlassen. Annika war eine Affäre aus der Mainzer Redaktion. Tolerant und anspruchslos. Wir vergnügten uns alle paar Wochen im Whirlpool und auf dem riesigen Wasserbett unseres Stammhotels und gingen nach einer Flasche Rotkäppchen Sekt getrennte Wege. Ich zu Eva, Annika zu ihrer Monika.

„Hast du mich verstanden, Tim?“

„Ja“, sagte ich leise und griff zu meinem Autoschlüssel in der Hosentasche.

„Einen Moment, bitte. Wir sind noch nicht fertig.“

Friedhelm beugte sich nach vorne. Seine Augen funkelten jetzt kalt.

„Du wirst mir bei einem Problem helfen!“

„Und wenn nicht? Wenn mir deine Probleme egal sind?“

Mein Schwiegervater grinste höhnisch.

„Du wirst mir helfen, Tim. Sonst erfährt Eva, dass du sie betrügst. Meine Tochter wird sich scheiden lassen. Sie kann mit Julia jederzeit bei uns einziehen. Für dich kann es finanziell eng werden. Erst recht, wenn euch eure Investoren den Geldhahn zudrehen und dich rausschmeißen.“

„Investoren? Woher weißt du, dass wir …?“

„War nur eine Vermutung, Tim. Den meisten Tageszeitungen geht es schlecht.“

Alter Schuft. Welches Spiel treibst du gerade mit mir?

„Unsere Lage ist nicht aussichtslos, Friedhelm. Wir arbeiten intensiv an Neustrukturierungsmaßnahmen. Ich denke, dass erst im kommenden Jahr eine endgültige Entscheidung getroffen wird, ob man uns behält oder abstößt.“

Friedhelm sah leider nicht so aus, als ob er mir glaubte.

„Weiß Eva von der Krise eurer Zeitung?“

„Ich habe ein paar Andeutungen gemacht.“

„Lass es dabei bewenden, Tim. Details würden das Kind nur unnötig aufregen.“

Ich presste die Lippen zusammen und schwieg.

„Ich weiß nicht, ob du dir des Ernstes eurer Lage bewusst bist, Tim? Du hörst dich fast gleichgültig an.“

„Wenn es dich beruhigt, ich schlafe schlecht.“

Friedhelm lehnte sich in seinen Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und begann zu erzählen.

Ein paar Minuten später wusste ich, dass er ein anonymes Schreiben erhalten hatte, in dem stünde, dass im Gymnasium am Rhein Noten gefälscht würden und Kolleginnen und Kollegen ohne Abschluss unterrichteten. Besonders der erste Vorwurf sei ungeheuerlich. In seiner Funktion als Schulaufsichtsbeamter müsse er unbedingt erfahren, ob das stimme. Und überhaupt. Über diese Schule würde viel getratscht. Man höre so allerhand. Lehrer hätten mit Schülerinnen Affären, der Schulleiter würde bestimmten Kollegen viel zu viel durchgehen lassen.

„Wie kann ich dir helfen, Friedhelm? Soll ich Julia fragen? Die kann bestimmt einiges über die Notengebung erzählen. Und ihre Lehrer weiß sie auch sehr gut einzuschätzen“, sagte ich und unterdrückte ein Lachen.

Friedhelm schüttelte heftig seinen braun gebrannten Kopf und trank seine Tasse aus.

„Das wird nicht ausreichen, Tim. Ich habe eine andere Idee. Dein MOEX könnte die Mainzer Schullandschaft einem, wie soll ich sagen, einem Stresstest unterziehen.“

„Diese Idee hatte ich bereits schon mal, Friedhelm. Vor knapp anderthalb Jahren habe ich sie für unsere Frankfurter Ausgabe umsetzen lassen. Anhand der Websites haben wir das Angebot der Frankfurter Gymnasien unter die Lupe genommen und die Schulen mit Plus- und Minuspunkten bewertet. Ich erinnere mich noch genau an den Shitstorm, der über uns reinbrach. Ein Leser schrieb, eine geheime Organisation hätte die Macht über unsere Zeitung übernommen und wolle Frankfurter Schulen vernichten. Bei einem Schulleiter habe ich mich sogar persönlich entschuldigen müssen, weil er felsenfest davon überzeugt war, dass wir im Vergleich zu den Ergebnissen einer Schule aus seiner Nachbarschaft objektive Bewertungskriterien vernachlässigt und sein Gymnasium diskreditiert hätten.“

Friedhelm zog die Augenbrauen hoch.

„So etwas darf natürlich nicht mehr vorkommen, Tim. Ihr braucht eine andere Konzeption für eure Recherchen.“

Friedhelm schaute auf die leere Kaffeetasse.

„Hast du in deiner Zeitung keinen, der sich mit Schule auskennt?“

„Einen Journalisten aus dem MOEX?“

„Ja, genau. Ich würde gerne einen Fachmann in die Schule einschleusen.“

„Dann muss es ja wirklich sehr brisant sein, was du ermitteln möchtest.“

Mein Schwiegervater überhörte meinen leicht spöttischen Unterton und nickte mir schweigend zu. Ein paar Schweißperlen hatten sich auf seine Stirn gelegt. Mir fiel der Neue aus der Mainzer Lokalredaktion ein. Der Junge war doch ausgebildeter Lehrer und hatte bislang ganz vernünftige Artikel abgeliefert. Wie hieß der bloß gleich? Richtig, Nick Scholl hieß der.

„Und wenn etwas herauskommt, was von Brisanz ist, machen wir eine Exklusivstory draus. Und du hast deine Informationen, Friedhelm. So stellst du dir das doch vor?“

Friedhelm lächelte überlegen.

„So eine Enthüllungsstory kann euch und dir nur gut tun. Wichtig ist, dass die Recherchen Substanz haben und ich Klarheit bekomme und diesen Saustall ausmisten kann.“

„Und wie kriege ich einen meiner Leute in diese Schule?“

Wahrscheinlich machte ich ein Gesicht mit Fragezeichen.

„Das Gymnasium am Rhein sucht nach dem Tod eines Kollegen händeringend einen Vertretungslehrer für Deutsch. Dein Mann oder deine Frau könnte also nächste Woche direkt dort mit acht Unterrichtsstunden anfangen.“

Ich trank meinen Kaffee aus und zog meinen Autoschlüssel aus der Hosentasche.

Du alter Erpresser. Du lässt mir ja keine andere Wahl, dachte ich. Und gut vorbereitet bist du auch.

„Ich muss los, Friedhelm. Ich rufe dich an, wenn ich jemanden gefunden habe.“

Auf der Fahrt nach Frankfurt wunderte ich mich über den Aufstand, den Friedhelm nach einem einzigen anonymen Schreiben veranstaltete. Waren die Vorwürfe wirklich so krass, dass sie einen Maulwurf in diesem Gymnasium rechtfertigten? Oder steckte hinter Friedhelms angeblicher Sorge um den Ruf einer Schule in seinem Schulamtsbezirk in Wirklichkeit nicht etwas anderes? Vielleicht die Angst seine sehr gut dotierte Aufsichtsfunktion zu verlieren? Egal, wie die Antwort auch lautete, Friedhelm hatte mich in der Hand. Ich saß in der Falle. Egal. Das bisschen Spaß würdest du Hund mir nicht verderben. Für die Treffen mit Annika würde ich eben nach Wiesbaden ausweichen.

In meinem Büro fuhr ich den PC hoch und überflog den Newsticker. Chinesische Investoren greifen nach deutschen Boulevardblättern, lautete die Meldung, die mich aufschreckte. Das sind ja tolle Aussichten. Die Amis fahren bei uns Rendite ein und verhökern uns dann an die Chinesen....

Erscheint lt. Verlag 11.11.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-9822279-5-X / 398222795X
ISBN-13 978-3-9822279-5-5 / 9783982227955
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