Die vier verborgenen Reiche 1: Caspar und die Träne des Phönix (eBook)
336 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-93569-1 (ISBN)
Abi Elphinstone wuchs in Schottland auf, studierte Englisch in Bristol und arbeitete einige Jahre als Lehrerin in Afrika, Berkshire und London, ehe sie anfing selbst Geschichten zu schreiben.
Abi Elphinstone wuchs in Schottland auf, studierte Englisch in Bristol und arbeitete einige Jahre als Lehrerin in Afrika, Berkshire und London, ehe sie anfing selbst Geschichten zu schreiben. Annette von der Weppen (geb. 1966) hat Germanistik, Anglistik und Romanistik studiert und ist seit 1999 als freiberufliche Literaturübersetzerin aus dem Englischen und Französischen tätig. Ihre besondere Vorliebe gilt dabei der Übersetzung von Kinder- und Jugendliteratur sowie von Comics. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
1
Caspar kauerte in dem Korb mit den Fundsachen, der vor seinem Klassenzimmer auf dem Gang stand. Laut Stundenplan hätte er jetzt bei Mr Rempel im Erdkundeunterricht sitzen sollen, aber sein eigener Zeitplan, den er in dieser Sekunde, schön ordentlich gefaltet, in der Hand hielt, besagte unmissverständlich, dass er hier genau richtig war: zwischen schmuddeligen Jacken und stinkenden Socken.
Caspar verlagerte sein Gewicht. Dreißig Minuten waren eine lange Zeit, so eingezwängt in einen Weidenkorb, doch das ließ sich donnerstagnachmittags nun mal nicht umgehen. Denn nur, wenn Caspar Mr Rempel gegenüber vorgab, er hätte Klavierstunde, einen Zahnarzttermin oder irgendwas für den Schulleiter zu erledigen, und sich stattdessen zwischen den Fundsachen versteckte, konnte er dem Unterricht folgen (um ja keinen Stoff zu versäumen und Mr Rempel keinen Anlass zu Misstrauen zu geben) und gleichzeitig eine Begegnung mit Candida und Leopold vermeiden.
Im Großen und Ganzen war das Internat von Little Wallops ein freundlicher Ort – und mit seinem holzvertäfelten Speisesaal, den riesigen Kaminen und steinernen Wasserspeiern sogar ziemlich schön –, aber schwarze Schafe gibt es natürlich an jeder Schule: die Sorte Kinder, die Beschwerdebriefe an den Weihnachtsmann schreiben und ständig mehr Taschengeld fordern. Zu diesen Kindern gehörten auch Candida und Leopold, und meist konnte Caspar ihnen ganz gut aus dem Weg gehen, weil sie in einer anderen Klasse waren, aber in diesem Halbjahr war ihr Erdkundelehrer krank, was einige beträchtliche Änderungen in Caspars persönlichem Zeitplan notwendig machte.
Caspar riskierte einen Blick über den Korbrand. Mr Rempel ließ die Tür zum Klassenraum immer offen stehen (was vermutlich den Rauswurf von Schülern ganz erheblich beschleunigte), und von dort, wo Caspar sich befand, konnte er zwar keinen seiner Mitschüler sehen, aber umso deutlicher seinen Lehrer, der soeben mit Erdkundebüchern um sich warf.
»Durch die Mitte, Ben, los, fang! Und Linksaußen, Ruby, aufgepasst!«
Mr Rempel, ein Mann mittleren Alters von der Größe und Statur einer Zugbrücke, war nämlich nicht nur Erdkundelehrer, sondern auch Rugbytrainer, und konnte beides nicht immer auseinanderhalten.
Ein weiteres Buch flog in hohem Bogen durch die Luft und Mr Rempels Stimme dröhnte bis auf den Gang hinaus.
»Achtung, Oliver, spring!«
Ohrenbetäubendes Krachen folgte, und Caspar verzog das Gesicht: Oliver war offenbar vorbeigesprungen. »Auf gehts, sechste Klasse, ran an den Feind.«
Jetzt wurde nervös mit den Stühlen gerückt.
»Wir alle kennen die Schlagzeilen der vergangenen Wochen: Der erste Orkan Anfang März, den die Nation noch für ein einmaliges Ereignis hielt, hat sich inzwischen zu einer weltweiten Wetterkrise ausgewachsen. Immer häufiger rasen Wirbelstürme über Europa hinweg – Großbritannien wurde allein letzte Woche gleich vier Mal von orkanartigen Stürmen verwüstet – und fordern«, er stockte, »auch immer mehr Tote.«
Caspar erschauerte. Er hatte die Nachrichten heute Morgen gesehen. Der Hurrikan, der am Vortag über London hinweggefegt war, hatte alle bisherigen Rekorde gebrochen. Tausende Menschen waren obdachlos geworden und die Zahl der Toten ging in die Hunderte. Und das trotz der Sirenen, die kurzfristig überall im Land installiert worden waren, denn diese Orkane tauchten meist schneller auf, als der Wetterdienst Alarm schlagen konnte.
Seit einem Monat fegten jede Woche gleich mehrere solcher Stürme über Little Wallops hinweg, hatten das Cricket-Clubhaus dem Erdboden gleichgemacht, Teile des Schuldachs abgedeckt und bei mehreren Oberstufenschülern Knochenbrüche verursacht, als die Tür zur Sporthalle aus den Angeln gerissen und quer durch den Raum geschleudert worden war. Überall in den Fluren hatte man Eimer aufstellt, um das Wasser aus den undichten Stellen aufzufangen, und die Fenster mit Brettern vernagelt. Aber noch stand das Internat – so gerade eben – und bislang waren keine Toten zu beklagen. Was sich, wie alle wussten, jederzeit ändern konnte: Sie lebten auf Messers Schneide. Ein unterirdischer Bunker wurde gerade ausgehoben und sollte besseren Schutz bieten, aber das dauerte, und selbst wenn er fertig war – würden die Sirenen alle rechtzeitig warnen, damit sie ihn noch erreichen konnten?
»Ganz zu schweigen von dem, was gerade andernorts geschieht«, fuhr Mr Rempel fort. »In Amerika hinterlassen Tornados eine Spur der Zerstörung, Wirbelstürme rasen über Afrika hinweg, Taifune verwüsten Asien und Australien. Auch wenn die Meteorologen sich einig sind, dass der Klimawandel eine der Hauptursachen für diese Wetterstörungen ist – wie wir wissen, hat die Erderwärmung in den letzten Jahren kritische Ausmaße angenommen –, kann das allein nicht die Willkür dieser Stürme erklären. Hurrikans ziehen normalerweise übers Meer heran und entladen sich dann über der Küstenregion, aber diese hier schlagen mal rechts, mal links, mal in der Mitte zu und verstoßen dabei gegen sämtliche bekannten Wetterregeln, was ihre Vorhersage extrem schwierig macht. Unsere Meteorologen sind jedoch fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Und wir Geografen sollten dasselbe tun, zumal die Osterferien in diesem Jahr ohnehin wegen der ständigen Straßen- und Bahnstreckensperrungen verschoben worden sind und wir jetzt alle hier festsitzen, bis eure Eltern euch wieder gefahrlos abholen können.«
In der Nähe der Tür wurden ein paar Schluchzer laut. Alle wussten, dass an eine Heimreise in dieser Situation nicht zu denken war, und es hätte auch wenig Sinn gehabt, mit einem Mann von der Statur einer Zugbrücke zu diskutieren, aber das änderte ja nichts daran, dass sie sich nach ihren Familien sehnten. Caspar war froh, dass seine Eltern beide an der Schule unterrichteten und deshalb im Internat wohnen konnten und er selbst ein Stipendium erhalten hatte – so waren sie wenigstens alle zusammen.
Mr Rempel tat so, als würde er das Geschluchze gar nicht hören – weinende Kinder waren ihm ein Graus. »Deshalb möchte ich, dass ihr euch, als extra Hausaufgabe, eine der Katastrophen der letzten Woche vornehmt und sie genauestens dokumentiert: Was, wann, wer, wo, mit wem und – vor allem – warum? Der Klimawandel spielt natürlich hinein, aber gibt es auch noch andere Gründe für das seltsame Verhalten der Stürme?« Mr Rempel krempelte die Ärmel auf. »Am Montag sammele ich eure Berichte ein, und ich möchte, dass ihr diese Aufgabe genauso entschlossen erledigt, wie der glorreiche Jonny Hobel von den Wandernden Wölfen beim Rugby-Finale letztes Jahr sechs Gegner gleichzeitig erledigt hat.« Er unterbrach sich. »Schaut ihr tief in die Augen und dann macht sie fertig!«
Alle schwiegen verwirrt.
Caspar reckte seinen Hals noch etwas weiter über den Korbrand und sah, wie seine Mitschülerin Sophie schüchtern die Hand hob. Sophie war für Caspar das, was einer Freundin am nächsten kam: Sie aßen zusammen zu Mittag und meldeten sich ab und zu für eine Partnerarbeit in Physik oder Chemie – aber Caspar achtete sorgfältig darauf, dass sich die Gespräche ausschließlich auf die Schule beschränkten. Denn Freundschaften – und all die verworrenen und verwirrenden Gefühle, die sie mit sich brachten – hatten sich für Caspar bisher immer nur als verhängnisvoll erwiesen.
Dabei hatte er zu Anfang, in der ersten Klasse in Little Wallops, durchaus noch versucht, Freunde zu finden, aber schon damals hatten Candida und Leopold ihm keine Ruhe gelassen. Ständig hatten sie ihn geärgert und gehänselt und auch alle seine Versuche, sich mit jemandem anzufreunden, irgendwie vereitelt – bis es Caspar schließlich reichte. Freundschaften waren schwierig und anstrengend, und obwohl seine Eltern ihm immer wieder gut zuredeten, hatte er für sich beschlossen, dass die Mühe sich nicht lohnte. Ohne Freunde war das Leben viel einfacher und berechenbarer. Und so war Caspars Welt immer kleiner geworden, bis ihm schließlich schon bei dem bloßen Gedanken, irgendein Risiko einzugehen, etwas Neues zu probieren oder auch nur minimal von seinem Zeitplan abzuweichen, angst und bange wurde.
Caspar sah, wie Sophie für ihre Frage all ihren Mut zusammennehmen musste. »S…Sir, ich organisiere für Sonntag einen Kuchenverkauf, um Geld für all die Menschen zu sammeln, die wegen der Stürme kein Zuhause mehr haben, und ich muss dafür noch Handzettel und Plakate machen. Könnte ich vielleicht eine Verlängerung bekommen?«
Mr Rempel spannte seinen Bizeps an. »Hat der glorreiche Jonny Hobel um eine Verlängerung gebeten, als die Röhrenden Rüpel gegen Ende der Halbzeit immer mehr aufgeholt haben?«
Sophie runzelte die Stirn. »Ähm, vermutlich nicht, oder?«
»Da hast du meine Antwort.« Mr Rempel faselte dann noch irgendwas von einer Klassenrangelei zum Abschluss des Tages, aber zur Erleichterung seiner Schüler klingelte es in diesem Moment. Caspars Herz schlug schneller. Laut Zeitplan blieben ihm nur wenige Sekunden, um aus dem Fundsachenkorb zu klettern, sich in den Strom von Schülern einzureihen, der aus den Klassenzimmern quoll und sich durch die Gänge schob, ungesehen in die Bibliothek zu schlüpfen und dann zu der Tür zu sprinten, hinter der die Turmwohnung seiner Eltern lag.
Eine Woge von Kindern wälzte sich auf ihn zu und Caspar stieg eilig – den Zeitplan fest an die Brust gedrückt – aus dem Korb und mischte sich unter die Menge. Er war klein für sein Alter und schmal, was hilfreich war, um sich in geduckter Haltung zwischen den anderen hindurchzuschlängeln. Unbemerkt huschte er den Flur entlang, unter den frisch montierten...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2022 |
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Reihe/Serie | Die vier verborgenen Reiche | Die vier verborgenen Reiche |
Übersetzer | Annette von der Weppen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abenteuerbuch ab 10 • Abenteuer Buch für Jungs • Abenteuer Buch Kinder • Abenteuer für Jungs und Mädchen • Abenteuer Geschichten für Mädchen • action • Drachen • Drachen Buch ab 10 • Fantastische Wesen • Fantasy • Fantasy Bücher Kinder ab 10 • für alle Harry Potter Leser • für alle Rick Riordan Leser • geheime Welten • Harry Potter • Kinderbuch ab 10 • Magie • magisches Kinderbuch • magische Welten • Magnus Chase • Percy Jackson • Zauberer • Zauberwesen |
ISBN-10 | 3-646-93569-3 / 3646935693 |
ISBN-13 | 978-3-646-93569-1 / 9783646935691 |
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