Bloom (eBook)
444 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-81152-3 (ISBN)
Kenneth Oppel, geb. 1967, gilt als literarisches Phänomen. Von Roald Dahl ermutigt, veröffentlichte er sein erstes Kinderbuch mit 14 Jahren. Inzwischen hat er zahlreiche Romane und Drehbücher verfasst. Heute lebt er mit seiner Familie in Toronto. Bei Beltz & Gelberg ist seine weltweit erfolgreiche Fledermaus-Trilogie mit den Bänden Silberflügel, Sonnenflügel und Feuerflügel erschienen sowie die Bücher Nachtflügel, Wolkenpanther und Wolkenpiraten.
Kapitel 2: Petra
Es gab weder ein Fenster noch eine Uhr, und Petra hatte das Gefühl dafür verloren, wie lange sie schon hier drinnen war. Ihre Augen fühlten sich rau an vom Weinen. Und sie juckten, weil sie allergisch gegen ihre eigenen Tränen war, dank ihrer bescheuerten Wasserallergie. Ihr Gesicht sah wahrscheinlich fürchterlich aus.
Sie hatte keine Tränen mehr übrig, aber in ihr wanderte die Panik weiterhin umher wie ein hungriges Tier, das auf seine Chance lauerte.
Sie versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren, aber das war fast unmöglich. Sie saß in einer Zelle. Einer Gefängniszelle. Ein Metallbett mit einer dünnen Matratze. Eine Toilette ohne Sitz. Eine Neonröhre an der Decke. Und draußen wimmelte die Erde von diesen wuseligen Kreaturen. Sie mussten inzwischen überall sein. In was würden sie sich verwandeln, wenn sie ihre Entwicklung abgeschlossen hatten? Ihre Augen wanderten immer wieder zu den Ecken der Decke und des Bodens, als würde sie jeden Moment damit rechnen, dass eines der Wesen in ihre Zelle krabbelte.
Wo waren ihre Eltern? Zunächst hatte sie noch damit gerechnet, dass jeden Moment die Tür auffliegen und ihre Mutter hereinstürmen würde, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war. Mom konnte eine mächtige Nervensäge sein, wenn sie etwas wirklich wollte. Sie würde ein paar Anrufe getätigt und ein paar Köpfe eingeschlagen haben und alles wäre wieder okay. Oder Dr. Weber würde ihre Beziehungen spielen lassen. Immerhin arbeitete sie für den Geheimdienst und der war bekanntermaßen noch einflussreicher als die Polizei. Aber mit zunehmender Zeit schwand ihre Hoffnung.
Sie wünschte, Anaya und Seth wären bei ihr. Vor allem Seth. Sie fühlte sich ruhiger, wenn er in der Nähe war. Und sicherer. Er hatte versucht, sie und Anaya zu beschützen, als ihnen Handschellen angelegt werden sollten. Wenn sie zusammen wären, könnten sie zumindest miteinander sprechen. Das würde Petra davon abhalten, innerlich durchzudrehen.
Wie hatte Colonel Pearson überhaupt alles über sie erfahren?
Sie hatten sich so bemüht, ihr Geheimnis zu bewahren. Es musste die Sozialarbeiterin gewesen sein, diese hinterhältige Carlene. Sie war mit im Raum gewesen, als Dr. Weber ihnen das erste Mal von ihrer kryptogenen DNA erzählt hatte. Carlene hatte versucht, es zu verbergen, aber sie hatte entsetzt ausgesehen. Und das zurecht. Versuch du mal, außerirdische DNA in dir zu tragen, Carlene.
Petras Schwanz wurde in der Leggins unangenehm zusammengequetscht. Er war inzwischen lang genug geworden, dass sie ihn praktisch in ein Hosenbein runterschieben musste. Dort hinterließ er eine Beule. Manchmal zuckte er sogar von selbst. Deshalb hatte sie begonnen, einen Rock zu tragen, um sicherzugehen, dass man ihn nicht sah.
Und ihre Beine. Ihre Haut war ganz schuppig geworden und hatte sich dann abgeschält und babyzarte Haut darunter hinterlassen. Sie hatte nichts gegen die weiche Haut, auch wenn es ziemlich seltsam war. Ein bisschen, als hätte sie Delfinhaut. Und es war nicht mehr nur an ihren Beinen.
Sie hob ihr Top an und sah, dass ihr Bauch rau wurde. Ihre Finger wanderten herum zu ihrem unteren Rücken: das Gleiche. Es kostete sie Überwindung, die Stellen anzufassen. Als wäre sie eine seltsame Art Reptil.
Würde sich ihre gesamte Haut ablösen? Auch in ihrem Gesicht?
Ich werde jetzt nicht darüber nachdenken.
Und ihr Schwanz, wie lang würde das Teil noch werden?
Hör auf.
Wenn Dr. Weber ihn nur einfach abgehackt hätte, als sie gefragt hatte.
Als die Zellentür aufschwang, machte ihr Herz einen hoffnungsfrohen Satz, aber es war nur eine Wache mit einem Essenstablett.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte Petra.
Keine Antwort.
»Wo sind meine Eltern?«
Nichts.
»Die Dinger, die mit dem Regen gekommen sind, sind die jetzt überall? Was passiert da draußen?«
Stille.
»Warum antworten Sie mir nicht?«, forderte Petra.
Die Soldatin hatte offensichtlich klare Anweisungen, nicht mit ihr zu sprechen. Sie vermied sogar jeglichen Augenkontakt. Inzwischen musste jeder auf der Militärbasis wissen, dass sie, Seth und Anaya kryptogene Hybriden waren.
»Das hier verstößt ziemlich sicher gegen das Gesetz«, sagte Petra. »Nur, damit Sie es wissen.«
Die Soldatin schloss die Tür hinter sich ab. Nachdem sie gegessen hatte, übermannte Petra eine bleierne Müdigkeit. Trotz der harten Matratze schlief sie ein. Als sie aufwachte, stand ein weiteres Tablett mit Essen an der Tür. Mittag- oder Abendessen? Wie lang würde man sie hier einsperren? Petra lief hin und her. Sie benutzte die Toilette. Sie kratzte an der schuppigen Haut auf ihrem Bauch herum und berührte die neue, weiche Haut darunter. Wenn sie doch nur ihre Kleidung wechseln könnte. Eine weitere Mahlzeit wurde gebracht. Sie machte sich noch mehr Sorgen, schlief noch ein wenig.
Ihre einzige Möglichkeit, die Zeit zu messen, waren die Essenstabletts. Fünf Stück. Sie ging davon aus, dass sie bereits fast zwei Tage in der Zelle verbracht hatte.
Als sich die Tür das nächste Mal öffnete, traten zwei Soldatinnen in den Raum. Das war neu.
»Dreh dich um, damit ich dir Handschellen anlegen kann.«
»Warum?«, fragte sie.
Keine Antwort.
»Wohin gehen wir?«
Keine Antwort.
»Ihr seid scheiße«, sagte Petra.
Aber sie fühlte sich geradezu freudig erregt, als sie den Flur entlanglief. Immerhin war sie aus der Zelle raus. Und auf dem Weg irgendwohin. Sie blickte auf die fensterlosen Türen und fragte sich, ob Seth und Anaya hinter einer davon waren. Es hatte keinen Sinn, zu fragen. Sie wurde in einen großen, weißen, fensterlosen Raum geführt.
In einer Ecke richtete ein Mann eine Videokamera auf einem Stativ aus. Zwei Soldaten standen links und rechts des Eingangs. In der Mitte des Raums, hinter einem Tisch, saß Colonel Pearson. Neben ihm war Dr. Weber.
Bei ihrem Anblick musste Petra unwillkürlich lächeln. Dr. Weber trug keine Handschellen. Das machte Hoffnung. Immerhin gehörte sie zum Geheimdienst. Sie würde sich für sie, Seth und Anaya einsetzen. Vielleicht hatte sie Pearson bereits überzeugt, dass sie völlig unschuldig waren.
Auf der anderen Seite von Dr. Weber saß ein Mann, den Petra noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Militäruniform war nicht mit farbigen Streifen geschmückt wie die von Pearson. Er hatte einen großen Kopf, hängende Wangen und große Tränensäcke unter Augen, aus denen keinerlei Wärme drang. Im Grunde sah er aus wie ein korrupter römischer Imperator. Oder zumindest wie der Schauspieler, der so einen in der TV-Serie spielte, die ihre Familie so gern mochte. Auf seinem Namensschild stand Ritter.
Petra blickte Dr. Weber an und fragte: »Wo sind meine Mom und mein Dad?«
Es war Pearson, der antwortete. »Wir befragen sie einzeln.«
»Was ist mit Seth und Anaya?«, fragte sie.
»Sie werden ebenfalls festgehalten.«
»Sie können nicht einfach Leute einsperren!«
Petra versuchte, den starren Blick des Colonels zu entschlüsseln, aber schließlich wandte sie den Blick ab und blickte Dr. Weber an, die ihre Lippen zusammengepresst hatte und entschuldigend lächelte.
»Setz dich«, sagte Pearson und machte eine Kopfbewegung zum freien Stuhl.
Sie warf einen Blick über die Schulter zu den Soldaten an der Tür – bewaffnet, als wäre sie gefährlich – und dann zum Typen hinter der Kamera. Die rote Aufnahmeleuchte erwachte zum Leben.
Sie setzte sich. Das war eine Vernehmung. Ihr Mund war auf einmal staubtrocken. Sie musste so ruhig und sympathisch wirken wie möglich. Schauspielern konnte sie. An der Schule hatte sie immer Hauptrollen bekommen. Sie würde alle davon überzeugen, dass sie hilfsbereit und freundlich war. Eine freundliche Außerirdische. Halb-Außerirdische. Sie würde ihnen alles erzählen, was sie wissen wollten. Sie versuchte, ihre Augen so groß und unschuldig wie möglich erscheinen zu lassen.
Colonel Pearson sagte: »Dr. Weber hat mich über alles aufgeklärt, und ich habe Dr. Ritter hinzugezogen, der eine Task Force südlich der Grenze anführt.«
Das bedeutete, in den USA. Petra wollte fragen, was für eine Task Force das denn sein sollte und was für eine Art Doktor Dr. Ritter war, aber sie beschloss, besser erst einmal den Mund zu halten.
Dr. Ritters große, fleischige Hände klopften auf eine beige Aktenmappe vor ihm.
»Wir haben ein paar neue Testergebnisse«, sagte er. Es klang, als würde er auf...
Erscheint lt. Verlag | 18.8.2021 |
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Übersetzer | Kanut Kirches |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-407-81152-7 / 3407811527 |
ISBN-13 | 978-3-407-81152-3 / 9783407811523 |
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