Die Suche nach Paulie Fink (eBook)
352 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27186-9 (ISBN)
Caitlyns neue Schule ist höchst sonderbar. Unterrichtet wird in einer alten Villa, der pflanzenüberwucherte Sportplatz wird von einer Horde Ziegen freigemümmelt, und keiner ihrer zehn Klassenkameraden kann aufhören, über einen Schüler namens Paulie Fink zu reden. Je nachdem, wen man fragt, war er ein urkomischer Klassenclown oder ein unerbittlicher Unruhestifter. Aber eines ist sicher: Der Junge war eine absolute Legende. Jetzt ist er verschwunden, und Caitlyn wird zur Jurorin in einem Wettbewerb gewählt, bei dem ein würdiger Paulie-Ersatz gefunden werden soll. Mit jeder neuen Challenge versucht Caitlyn die Person kennenzulernen, die sie nie getroffen hat. Doch am meisten überrascht sie das, was sie dabei über sich selbst herausfindet.
Ali Benjamin schrieb als erfolgreiche Co-Autorin für Kollegen, außerdem als Redakteurin für Zeitschriften, Zeitungen und Online-Medien bis ihr Debüt Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren 2015 ein weltweiter Bestseller wurde. Der Jugendroman wurde für den National Book Award nominiert und wird aktuell von Reese Witherspoons Produktionsfirma verfilmt. Die deutsche Ausgabe erschien 2018 bei Hanser. 2021 folgte ihr Kinderbuch Die Suche nach Paulie Fink, für das sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Ali Benjamin lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Massachusetts.
Der Anfang
Wenn das hier wirklich eine Fernsehserie gewesen wäre, so wie alle taten, dann hätte es locker eine Million guter Auftakte für die erste Folge gegeben.
Sie hätte zum Beispiel im Juni anfangen können, als ich eines Tages von der Schule heimkam und Mom mich mit den vier schicksalhaften Worten Caitlyn, wir ziehen um begrüßte. Nicht etwa Hättest du was dagegen, wenn wir …?, oder Was würdest du davon halten …?, oder Könntest du dir vorstellen …? Ich wurde gar nicht gefragt. Sie erzählte mir überhaupt erst davon, als sie längst den neuen Job als Leiterin der Notfallpraxis angenommen hatte. Ihren alten Job im Krankenhaus, wo sie Ewigkeiten als klinische Pflegefachkraft angestellt gewesen war, hatte sie da schon gekündigt und ein kleines Häuschen in Mitchell, Vermont, gemietet.
Mitten im absoluten Nirgendwo.
Aber wie gesagt, das ist nur ein möglicher Anfang. Es gibt noch jede Menge andere. Zum Beispiel die Fahrt hierher, auf der wir an einem riesigen grünen Schild vorbeikamen: WILLKOMMEN IM BUNDESSTAAT DER GRÜNEN BERGE. Tatsächlich war weit und breit nichts als Bäume und Wiesen zu sehen, und da wurde mir klar: Das hier passiert gerade wirklich. Ich musste so tun, als würde ich schlafen, damit ich das Gesicht in einem ollen, zwischen mich und das Fenster geklemmten Sweatshirt vergraben und in Ruhe weinen konnte, ohne dass Mom es mitkriegte. Als ich die Augen wieder aufmachte, fuhren wir an einer verlassenen Fabrik vorbei, an deren Backsteinfassade noch die verblasste Aufschrift OXTHORPE TEXTILIEN, MITCHELL, VERMONT zu lesen war.
Oder vielleicht würde die Serie damit losgehen, wie ich vor meiner neuen Schule aus dem Auto stieg. MITCHELL SCHOOL stand zumindest außen dran, aber so was wie das hier hatte ich noch nie gesehen. Das Gebäude wirkte eher wie ein Spukschloss: eine riesige Villa mit kaputten Fensterläden und abblätternder Holzfassade, die mit struppigem wildem Wein überwuchert war. An der Tür hing eine Glocke mit einem Schild darunter: GUTEN-TAG-GLOCKE.
Ich weiß noch genau, wie ich dachte: Pfft, Guten-Tag-Glocke. Was ist das denn für’n Quatsch?
Verrückt, wie schwierig es ist, sich auf einen Anfang für diese Serie festzulegen. Es gibt so viele verschiedene Arten, eine Geschichte zu erzählen. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich sie wahrscheinlich ein paar Minuten nach meiner ersten Begegnung mit der Guten-Tag-Glocke beginnen lassen. In einem Klassenzimmer, das überhaupt nicht nach Klassenzimmer aussieht, in einer Schule, die überhaupt nicht nach Schule aussieht, in einem Kaff, in dem ich überhaupt nicht wohnen wollte.
Nehmen wir uns zum Beispiel mal dieses Klassenzimmer vor. Ich bin mir relativ sicher, dass ihr so eins auch noch nicht gesehen habt. Da drin gibt es einen Marmorkamin und ein goldgerahmtes Porträt von irgendeinem alten Mann. Ein Buntglasfenster, das eine Gruppe halbnackter fliegender Babys zeigt. Einen riesigen Kronleuchter, der über einem massiven Holztisch von der rissigen Decke baumelt. Und um diesen Tisch herum sitzen zehn reglose Siebtklässler.
Sie starren etwas an — zwanzig Augen, die allesamt auf die Tür gerichtet sind. Und was immer sie dort sehen, ist eindeutig kein Grund zur Freude. Kein bisschen.
Wenn wir die Serie nur zehn Sekunden früher hätten anfangen lassen, wäre die Klasse gerade mitten in einem Begeisterungssturm gewesen. Der Applaus fing an, als es an der Tür klopfte. Anscheinend erwarteten die Kinder irgendwas absolut Fantastisches. Sie johlten und klatschten einander ab, riefen Yeah und Juhu, und möglicherweise ertönte sogar ein verzücktes Lasset die Spiele beginnen!
Tja, tut mir leid, die Serie fängt aber nun mal nicht mit Jubel an. Sondern erst, nachdem die Tür aufgegangen ist. In dem Moment, als es mit einem Schlag mucksmäuschenstill im Raum wird.
Diese Gesichter. Wie schnell die Freude darauf sich in Enttäuschung verwandelt hat. Bei ausnahmslos allen: dem Mädchen mit den rosa Haaren und der Minigitarre auf dem Schoß. Dem Typen im Fußballtrikot, der mit lässig ausgestrecktem Bein auf seinem Stuhl lümmelt. Dem dürren Kerl, der ständig seine viel zu große, blaugerahmte Brille hochschieben muss. Drei Kindern mit Haarreifen, auf denen je zwei flauschige Bommeln sitzen, zwei völlig identisch aussehenden Jungen in Armeeklamotten, einem Mädchen in einem lavendelfarbenen Sweatshirt mit dem Aufdruck MEGASTAR und einem kleinen sommersprossigen Mädchen, das mit seinem knallroten Hosenanzug den Anschein macht, als hätte es sich zu Halloween als siebenundfünfzigjährige Senatorin verkleidet.
Vollkommen unterschiedliche Leute vollkommen unterschiedlicher Größe, Hautfarbe und Aufmachung. Einzig in ihrer Haltung zu dem, was gerade in der Tür aufgetaucht ist, scheinen sie sich einig zu sein. Was auch immer sie erwartet haben, wem auch immer ihr Jubel galt, das hier ist es nicht.
Und was genau beäugen sie da wohl so skeptisch? Tja, so ungern ich es zugebe, aber das bin ich, Caitlyn Breen.
Hi. Ich bin Caitlyn. Ich bin die Neue hier an der Mitchell. Ich mag es, wenn alles an seinem Platz ist, so weiß ich nämlich, dass ich auch einen habe. Ich mag es nicht, wenn Leute mich anstarren, als könnten sie in mich hineingucken, bis in mein tiefstes Inneres. Und deswegen kann man das hier vermutlich ohne Probleme als den schrecklichsten Moment meines Lebens bezeichnen.
Ach ja, diese zehn Kinder, die mich anstarren, bilden übrigens die gesamte siebte Klasse der Mitchell School. Genauer gesagt, ich plus diese zehn Fremden, die mich anscheinend jetzt schon nicht leiden können, obwohl sie mich noch nie gesehen haben.
Das Mädchen im roten Hosenanzug legt den Kopf schief. Mustert mich von oben bis unten und rümpft die Nase.
»Na, du bist jedenfalls nicht Paulie Fink«, sagt sie.
E-Mail von Mrs Gliba an meine Mom Ende Juni,
61 Tage v. P. V. (vor Paulies Verschwinden)
An: WENDY BREEN
Von: ALICE GLIBA, SCHULLEITERIN
Liebe Wendy,
wir haben kürzlich Caitlyns Unterlagen erhalten und freuen uns sehr, sie diesen Herbst in unserer siebten Klasse begrüßen zu dürfen. Wie Sie sich vorstellen können, bekommt eine Schule unserer Größe in einer so abgelegenen Gegend nur selten neue Schüler. Wir haben kaum genug Siebtklässler, um auch nur eine Mannschaft für das alljährliche Fußballmatch gegen Devlinshire Hills aufzustellen.
Sie schrieben, Caitlyn stehe dem Umzug eher ablehnend gegenüber — wenn ich mich recht entsinne, war Ihre genaue Wortwahl, sie sei »so entzückt wie eine Wildkatze, die man in ein Eiswürfelbad geworfen hat«. Bitte versichern Sie Caitlyn, dass ihre neuen Mitschüler überaus freundlich und aufgeweckt sind, Letzteres vielleicht sogar in einem etwas zu hohen Maße. Nun, bald werden Sie sich ja selbst ein Bild davon machen können.
Vielleicht hilft Ihnen ein wenig Hintergrundwissen dabei, unsere Schule besser zu verstehen: Zwanzig Jahre nach der Stilllegung von Oxthorpe Textilien — bis dahin der größte Arbeitgeber unserer Stadt — gingen unserer Schule die Geldmittel aus. Auf dem Land ist so etwas leider keine Seltenheit: Wenn die Bevölkerungszahlen und damit auch die Steuereinnahmen sinken, müssen viele Schulen schließen. Das Schulgebäude von Mitchell wurde abgerissen, und die Kinder mussten in den Nachbarort, St. Johnsbury, zum Unterricht. Selbst bei gutem Wetter bedeutete das eine fast vierzigminütige Fahrt, die im Winter zu einem geradezu halsbrecherischen Unterfangen wurde. Vor acht Jahren wagte sich daher eine Gruppe engagierter Eltern an das Experiment, wieder eine eigene Schule in Mitchell zu eröffnen. Natürlich befinden wir uns noch immer in der Testphase, aber es scheint, als könnte dieses Modell wirklich ein Weg sein, Kindern in ländlichen Gemeinden die Chance auf Bildung vor Ort zu ermöglichen.
Die Nachfahren der Oxthorpes haben uns großzügigerweise ihr altes Familienanwesen für unser Projekt zur Verfügung gestellt. Da das Haus zuvor jahrelang leer gestanden hatte, war eine Menge Kreativität und Muskelschmalz vonnöten, um es unseren Zwecken anzupassen. Der Unterricht findet in den ehemaligen Schlaf- und Wohnräumen statt. Wir haben keine Turnhalle, und die Dienstbotenquartiere wurden in Toiletten umgewandelt. So weit, so gut!
Angefangen haben wir damals mit einer...
Erscheint lt. Verlag | 26.7.2021 |
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Übersetzer | Jessika Komina, Sandra Knuffinke |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Next Great Paulie Fink |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Antike • challenge • Deutscher Jugendliteraturpreis • Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren • Erwachsenwerden • Feminismus • Fernsehen • Frech • Freundschaft • Fußball • Geschichte • Götter • griechische Mythologie • Identität • Interview • Jugendliteraturpreis 2022 • Kinderbuch • Klasse • Klassenclown • Ländlich • Legenden • lustig • Mobbing • Pause • Philosophie • Platon • schräg • Schule • Schulschließung • Sparte Kinderbuch • Spaß • Sport • Streiche • Suche • Talentshow • Ukulele • Umzug • Wettbewerb • Ziegen • Zusammenhalt |
ISBN-10 | 3-446-27186-4 / 3446271864 |
ISBN-13 | 978-3-446-27186-9 / 9783446271869 |
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