Mathilda und Leopold (eBook)
108 Seiten
TWENTYSIX (Verlag)
978-3-7407-0417-9 (ISBN)
Sabine Speer wurde in Hamburg geboren und lebt seit den1970er Jahren in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Von der Autorin sind bereits die Erzählung "Lancelots Stille", der historische Roman Das Erbe des Pendragon sowie eine Internetseite zur Artus-Literatur www.whisper-of-gododdin.de erschienen. 2007 erschien außerdem ein Erzählband zu geschichtlichen Ereignissen in Schleswig-Holstein Anneke und andere historische Erzählungen. Besuchen Sie Sabine Speer auch auf Ihrer Autoren-Internetseite www.sabinespeer7.de
Als Mathilda auf das alte Haus zuging, das sich sein Dach aus Stroh wie eine Mütze bis tief hinunter zu den Fenstern gezogen hatte, wurde der Koffer in ihrer Hand noch schwerer als zuvor. Ja, sie glaubte, ihr Arm wäre bereits lang wie ein Giraffenhals und der Koffer würde im Sand schleifen und eine lange Spur ziehen auf dem staubigen Weg, der von der engen Straße bis zum Haus der Tanten führte. Die Frau neben ihr war ungeduldig, was nur dazu führte, dass Mathilda so langsam wurde, dass sie fast auf der Stelle stehen blieb.
„Nun geh´ schon“, sagte die Frau, und versuchte freundlich zu klingen. „Sie werden dich ja nicht beißen. Im Gegenteil – du wirst es gut bei ihnen haben. Und es ist ja nicht für lange.“
Was wusste die Frau schon davon, was lange ist. Lange war, wenn man diesen ganzen Weg entlangschlurfen musste, während die Fenster unter der Mütze hervorlugten und einen anstarrten. Lange war auch, wenn Mama einen Abend lang nicht zuhause war und man die Uhr ticken hörte, während man versuchte, einzuschlafen. Und lange war erst, wenn…
„Hörst du mir überhaupt zu?“, platzte die Frau wie ein Regenschauer in ihre Gedanken. Sie hatte sich vor Mathilda hingehockt und umfasste mit beiden Händen ihre Schultern, nicht zu stark, aber doch so, dass Mathilda gezwungen war, ihr in die Augen zu sehen, die eigentlich nicht unfreundlich waren.
„Hör zu, Mathilda“, sagte die Frau. „Ich habe deinem Papa versprochen, dich hierher zu bringen und dich bei deinen Tanten abzuliefern. Aber ich muss noch heute Abend wieder zurück und der Verkehr – du weißt schon…“
Mehr als eine Stunde hatten sie im Stau gestanden. Mathilda hatte ihren Bären Bruno fest an sich gedrückt und hoffnungsvoll in sich hineingelächelt bei dem Gedanken, dass sie womöglich wieder umkehren müssten. Aber nun waren sie hier, und als Mathilda der Frau über die Schulter schaute, konnte sie sehen, dass sie der Haustür schon bedrohlich nahegekommen waren.
„Das sind nicht meine Tanten“, gab Mathilda zu bedenken. „Es sind Papas Tanten.“
Die Frau stand auf. „Wie auch immer“, seufzte sie. „Er wird sich schon was dabei gedacht haben.“
Mathilda konnte in den Augen der Frau erkennen, dass sie sich selbst nicht vorstellen konnte, was Papa sich dabei gedacht haben konnte. Da musste Mathilda fast lachen.
Die Frau atmete einmal ganz tief und streckte ihre Hand nach dem Band aus, das von einer Glocke neben der Tür hing. Doch noch bevor sie daran ziehen konnte, öffnete sich die Tür. Mathilda wich unwillkürlich einen Schritt zurück, wobei ihr der Koffer aus der Hand plumpste und eine kleine Staubwolke verursachte, als er im trockenen Sand landete.
„Oh, guten Tag, ich bin … ich komme …“, stammelte die Frau, die ebenfalls überrascht war. „Also, ich bringe … Mathilda.“
In der Tür stand eine rundliche alte Frau, die sich sehr gerade hielt. Ihre runzligen Finger krallten sich vor ihrer Brust in das dünne Wolltuch, das sie sich um ihre Schultern geschlungen hatte.
„Eine Hexe“, flüsterte Mathilda Bruno zu, und wich einen weiteren Schritt zurück.
„Oh, wir haben euch schon viel früher erwartet“, sagte die Alte mit milder Stimme und lächelte ein ganz feines Lächeln. „Nur herein, wir haben schon Kaffee gekocht.“
„Eigentlich wollte ich …“, versuchte die Frau zu sagen und ihre Stimme hörte sich ganz schwach an.
„Herein, herein“, wiederholte die Alte und öffnete die Tür ganz weit, so dass Mathilda glaubte, das Haus würde sein Maul aufreißen, um sie gleich zu verschlingen. Die Alte packte mit überraschend kräftigem Griff den großen Koffer, den die Frau getragen hatte, und zog ihn über die Schwelle.
„Was ist denn da drinnen?“, ächzte sie. „Er fühlt sich an, als wäre er mit Steinen gefüllt.“
„Nun ja“, antwortete die Frau und versuchte ein Lächeln. „Harald – ich meine, Ihr Neffe – hat sich wohl gedacht, seine Tochter sollte nichts vermissen während ihres Aufenthalts bei Ihnen.“
Die Alte lächelte wieder und zwinkerte mit ihren erstaunlich klaren blauen Augen. Und Mathilda fasste Mut als sie sah, dass sie weder Zahnlücken noch schwarze Zähne hatte, sondern kleine weiße Zähnchen, hübsch aneinandergereiht wie eine Perlenkette.
„Nein, das sollte sie auf keinen Fall“, erwiderte die Alte und heftete ihren Blick unversehens auf Mathilda. „Nun komm´ näher, kleines Mädchen! Wovor fürchtest du dich?“
Mathilda drückte Bruno noch fester an sich und meinte, ihn protestieren zu hören. Aber sie war schließlich kein Feigling. Sie bückte sich nach ihrem Koffer, warf Bruno über die Schulter, und schritt entschlossen zur Tür.
„Sieh an, noch ein Koffer!“, stellte die Alte fest und kniff Mathilda zur Begrüßung ganz leicht in die Wange. Denn Mathilda hatte keine Hand frei, mit der sie die der Alten hätte drücken können.
„Ich bin schon ganz gespannt darauf, was du alles auspacken wirst. Zum Glück haben wir den großen Schrank in deinem Zimmer noch leer geräumt.“
Mathilda starrte in die Dunkelheit hinter der Alten und zögerte, das große Maul zu betreten, während die Frau unschlüssig daneben stand.
„Oh, entschuldigt“, sagte die Alte plötzlich, als wäre ihr ein unglaublich guter Einfall gekommen. „Ich bin Martha. Und wie war doch Ihr Name noch gleich…?“
„Verzeihen Sie“, beeilte sich die Frau zu sagen. „Ich bin Bettina. Bettina Seichter, eine Arbeitskollegin von Harald. Er konnte Mathilda nicht selbst bringen – sie wissen schon… Ich bin nur leider sehr in Eile.“
„Oh, für eine gute Tasse Kaffee ist immer Zeit“, entgegnete Martha, und es war klar, dass sie keinen Widerspruch duldete. „Nun kommt aber endlich herein.“
Und schon war sie irgendwie hinter Mathilda gekommen und schob sie zur Tür hinein. Mathildas Herz klopfte wild. In der Diele war es kühl und schummrig. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Sie konnte erkennen, dass mehrere Türen von der geräumigen Diele abgingen. Das Haus musste viele Zimmer haben. An einer Wand konnte sie einen großen alten Schrank ausmachen, dessen Türen sich offensichtlich nicht mehr ganz schließen ließen. Sie hingen etwas schräg in den Angeln und blieben einen Spalt breit offen. Und… irrte sie sich, oder hatte die Tür gerade ein ganz klein wenig geknarrt?
An der Wand gegenüber stand eine klobige Anrichte mit vielen Schubladen. Darauf standen Vasen und Kerzenleuchter auf kleinen weißen Deckchen, die aussahen wie solche, die nur ganz alte Omas häkelten.
„Vorsicht, stolpert nicht über den alten Teppich“, mahnte Martha, indem sie die beiden zielsicher durch die Diele lotste, bis sie am Ende zu einer Tür auf der linken Seite gelangten. Sie wurde unverhofft von innen geöffnet und gab dabei einen Ton von sich, als hätte jemand ganz laut geseufzt. Mathilda fuhr zurück, als das plötzliche Licht sie blendete und vor ihr wie aus dem Nichts eine weitere Alte erschien.
„Na na“, hörte sie die Alte sogleich schnarren. „Wer wird denn so ängstlich sein?“
Mathilda vergrub ihr Gesicht in Brunos Bauch. „Hier sind noch mehr Hexen, Bruno“, flüsterte sie verschwörerisch.
Dann stieg ihr der Duft von frisch gekochtem Kaffee in die Nase und sie entspannte sich ein wenig. Wo Kaffee getrunken wurde, war es immer nett und gemütlich.
„Was musst du auch so plötzlich auftauchen? Du erschreckst das Kind, Rosa“, sagte Martha streng. Rosa setzte kurz eine beleidigte Miene auf, doch gleich darauf verwandelte sich ihr blasses Gesicht wieder in ein herzliches Lächeln und ihre grünen Augen strahlten. Ihre erstaunlich roten Haare, aus dem sich vorwitzige graue Strähnchen lösten, waren am Hinterkopf locker aufgesteckt.
„Da ist also Haralds kleine Perle“, begrüßte sie Mathilda. Sie war groß und hager und überragte sogar Papas Kollegin. Auch Rosa kniff Mathilda ein wenig in die Wange, denn Mathilda hielt sich immer noch krampfhaft an ihrem Koffer und an Bruno fest. Den großen Koffer hatte die Frau – Bettina – Martha wieder abgenommen und in die Stube gewuchtet, wo sie sich jetzt suchend umsah, um ihn irgendwo abzustellen. Rosa kam ihr auch gleich zu Hilfe, packte das unhandliche Gepäckstück und verfrachtete es mühelos in eine Ecke, wo es vorerst niemandem im Weg sein würde.
„Und wie steht es mit diesem Koffer da?“ Sie sah Mathilda fragend an und deutete auf den Koffer in ihrer Hand. Mathilda machte ein finsteres Gesicht und drückte den Koffer samt Bruno fest an ihre Brust. Das hatte Rosa verstanden.
„Gut. Vielleicht später.“ Sie wandte sich um und ging hinüber zu einem kleinen Tischchen,...
Erscheint lt. Verlag | 18.1.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-7407-0417-9 / 3740704179 |
ISBN-13 | 978-3-7407-0417-9 / 9783740704179 |
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