Der Himmel über dem Platz (eBook)
218 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75859-0 (ISBN)
Martina Wildner, geb.1968 im Allgäu. Nach einigen Semestern Islamwissenschaften in Erlangen studierte sie an der Fachhochschule Nürnberg Grafikdesign. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg veröffentlichte sie unter anderem die Romane »Jede Menge Sternschnuppen« (Peter-Härtling-Preis für Kinderliteratur), »Königin des Sprungturms« (Deutscher Jugendliteraturpreis) sowie die schaurigen Abenteuer mit Hendrik, Eddi und Ida: »Das schaurige Haus« (nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis), »Die Krähe am unheimlichen See«, »Dieser verfluchte Baum«. Ihr neuester Roman »Der Himmel über dem Platz« ercheint im Frühjahr 2021.
Mädchen : Jungen
Das ist das Schöne am Fußball: Alles ist einfach und klar. Ein Tor ist ein Tor, ein Dribbling ein Dribbling und ein Fallrückzieher, falls man ihn kann, ein Fallrückzieher.
Das normale Leben hingegen ist voller Uneindeutigkeiten und Halbwahrheiten. Noch verwirrender wird es, wenn sich das normale Leben mit dem Fußball mischt. So wie an jenem Tag.
Auf dem Platz begrüßte mich keine, nicht mal unsere Trainerin sah mir richtig in die Augen. Während des Trainings bekam ich nie den Ball zugespielt, kein einziges Mal. Meine Mitspielerinnen rannten an mir vorbei, als wäre ich unsichtbar, und reagierten auch nicht auf mein Zurufen. So lief ich ziellos hierhin und dorthin, erschöpft von der Sinnlosigkeit meines Tuns und von der unglaublichen Hitze, die sich zwischen den hohen Häusern staute.
Langsam wurde mir klar, dass da wohl jemand etwas ausgeplaudert hatte.
Nach Trainingsschluss trabten wir zu dem Kübel, der, wie an Tagen um die 30 Grad üblich, bis an den Rand mit Wasser gefüllt am Spielfeldrand stand. Fabienne steckte den Kopf hinein und schüttelte das Wasser mit einem Schwung aus ihrem langen, blonden Pferdeschwanz, sodass alle nass wurden.
Ich wollte auch zu dem Kübel, aber ich wurde weggedrängt. Deswegen blieb ich ein wenig abseits stehen, atmete die staubige Luft des Kunstrasenplatzes ein, klopfte mir das Granulat von den Stutzen und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es war einfach zu heiß für alles.
Plötzlich bekam ich einen Stoß von hinten. Ich fiel nach vorne und landete mit dem Bauch auf dem feuchten Kunstrasen. Bevor ich etwas sagen konnte, zischte Paula: »Du liegst im Weg!«
»Du hast doch mich geschubst!«, antwortete ich, während ich mich aufrappelte. Mein Trikot war am Bauch patschnass. Das war eigentlich angenehm, eine Erfrischung, doch die anderen schauten mich böse an.
»Mit Verräterinnen reden wir nicht mehr«, sagte Paula und verschränkte die Arme.
»Ja!«, sagte Gesa. »Wer zu Stern 09 geht, braucht sich nicht zu wundern.«
»Was? Ich? Zu Stern 09?«
Die anderen schauten noch finsterer drein. Stern 09 war unser Feind, denn sie waren die einzige ernst zu nehmende Konkurrenz in der Liga. Man ging da nicht hin, wenn man beim FFC war.
»Wer erzählt denn so etwas?«, fragte ich.
Keine antwortete.
»Fabienne?«
»Ich hab gar nichts erzählt!«
»Nein, ich meine, hat dir Betty …?« Fabienne war meine beste Freundin im Team, deswegen wandte ich mich an sie, in der Hoffnung auf Gnade.
»Nein, hat sie natürlich nicht.« Fabienne drehte sich weg.
»Haha!«, machte Paula. »Wir sind unserem Star zu lahm! Zu lahaaam, lahaaam!« Hätte ich heute bloß nicht dieses uralte Philipp-Lahm-Trikot angezogen. Sie und Gesa hüpften herum und taten so, als gingen sie mit Krückstock. Die anderen lachten fies.
»Ich geh doch gar nicht zu …«, sagte ich. Eigentlich wollte ich erklären, dass ich nie und nimmer vorhatte, zu Stern 09 zu gehen. Ich wollte wechseln, ja, aber zu Blau-Weiß, in eine Jungenmannschaft, die meinem Team völlig egal sein konnte.
»Ach, sei einfach still«, unterbrach mich Paula. »Kommt, gehen wir!«
Die anderen gingen mit ihr mit und verschwanden in der Umkleide. Ich stand mit hängenden Armen da in der glühenden Nachmittagshitze auf unserem kleinen Fußballplatz zwischen den hohen, mit Graffiti besprühten Brandschutzmauern der Häuser.
FLY HIGH, stand da, in fetten, schwarzen Buchstaben. Ich las diese Worte immer, normalerweise beflügelten sie mich. Doch jetzt machten sie mich wütend. Hoch fliegen! Ich war ja größenwahnsinnig! Was wollte ich bei den Jungs?
Ich wartete am Bahnsteig auf die S-Bahn. Die Luft flimmerte über den Gleisen.
»Hast du was ausgeplaudert? Ich meine, aus Versehen vielleicht?« Ich war froh, Betty am Handy erreicht zu haben.
Den Verein zu wechseln lag in der Natur des Fußballspielers – und der Fußballspielerin. Trotzdem war es auf gewisse Weise verboten, ein Betrug am alten Verein. Wechseln wurde, egal wie man es anstellte, bestraft.
»Ich? Nein, nie im Leben«, antwortete Betty.
Ich wusste nicht, ob sie die Wahrheit sagte. Seit dem Training fragte ich mich, woher die Mädchen aus meinem Verein von der Sache erfahren haben könnten, denn außer mit Betty hatte ich mit niemandem darüber gesprochen.
»Ehrlich!«, rief Betty. »Ich hab nichts erzählt! Warum sollte ich auch?«
Ja, warum sollte sie? Zwar kannten sich Betty und Fabienne schon seit dem Kindergarten, doch Fabienne war meine Fußballfreundin und Betty war meine Schulfreundin. Keine nahm der anderen etwas weg. Das waren zwei voneinander getrennte Welten.
Die S-Bahn fuhr ein, und ich sagte: »Na ja, vielleicht hat mein Vater ja den Mund nicht halten können.«
»So wird es sein«, sagte Betty und lachte irgendwie erleichtert. Ich lachte auch.
Nein, ich wollte nicht auch noch mit Betty Streit haben.
Eine quälende und viel zu lange Nacht folgte. Die Dachwohnung meiner Mutter heizte sich im Sommer gnadenlos auf. Am Abend hatte ich mehrere Male Fabienne geschrieben, um ihr zu erklären, dass ich nicht zum Feind wechseln wollte, sondern nur in eine Jungenmannschaft, und das auch nur vielleicht.
Sie hatte nicht geantwortet. Wahrscheinlich hatte Betty halt doch geplaudert, weil sie wahrscheinlich gar nicht wusste, was man mit Wechselgerüchten anrichten konnte. Oder man hatte es mir angesehen? Vielleicht strömte jeder, der wechseln wollte, einen gewissen Geruch aus. Ja, den Wechselgeruch. Über diesen Gedanken schlief ich ein.
Eigenartigerweise fehlte Betty am nächsten Morgen in der Schule; sie war selten krank, weshalb ich ihr Fehlen als schlechtes Gewissen wertete. Wahrscheinlich hatte sie Fabienne eben doch etwas erzählt. Aber warum?
Jetzt saß ich in einer winzigen, stickigen Umkleidekabine, die eigentlich für die Schiedsrichter gedacht war. Gleich würde ich bei meinem neuen Verein vorspielen. Mir war klar: Wenn ich im Probetraining versagte, hatte ich nichts mehr, weder mein altes Mädchenteam noch die neue Jungenmannschaft.
Also höchste Konzentration! Ich fasste Mut, indem ich tief einatmete, und überprüfte den Knoten meiner Schnürsenkel. Dann verließ ich die Kabine und ging die Treppe hinunter zum Treffpunkt im Erdgeschoss, wo der Platzwart in einem verglasten Kasten saß. Eine große Digitaluhr zeigte 16.51 Uhr. Um fünf Uhr ging es los, doch schon drei Minuten später hörte ich im Treppenhaus Geschrei und das Quietschen der Kunstrasennoppen auf dem PVC.
Noch ein paar Sekunden, dann würden sie mich sehen.
Ich hatte mein Haar zurückgebunden und trug ein dünnes, blaues Stirnband.
»Stopp, Jungs!«, rief der Trainer – er hieß Jurek – und wühlte sich durch die Horde. Die Jungs blieben stehen.
Jurek, er mochte etwa 25 Jahre alt sein, wandte sich an die Jungs und deutete auf mich.
»Hört zu: Das ist Jo. Sie hat bei uns ein Probetraining, alles klar?«
Ein paar Jungs musterten mich von oben bis unten, sehr kurz und sehr abschätzig. Aber das war vorauszusehen gewesen, denn ich war ein Mädchen und noch dazu hässlich: ein Mädchen mit dünnem, schnittlauchglattem Haar, Kartoffelnase, matschgrünen Augen, schmalem Mund und zu großem Kinn. Ich hatte eckige Schultern und praktisch keine Taille. Rasch interessierte sich die Horde schon nicht mehr für mich und drängte sich lärmend an mir vorbei zur Tür hinaus, jeder in seinem blauen Trainingsshirt. Weil dadurch alle gleich aussahen, waren mir nur zwei Jungs auf den ersten Blick aufgefallen: einer mit knallrotem Haar wie Ron Weasley und einer mit Undercut.
Ich folgte ihnen auf den Platz. Es war ein riesiges Gelände, das ein wenig im Niemandsland lag, zwischen Autobahn, Schrebergärten und dem Flughafengelände. Gerade flog eine startende Maschine über unsere Köpfe hinweg. Das Geräusch war laut, doch die Jungs schien es nicht zu stören. Sie waren daran gewöhnt, schlenkerten ihre Beutel und übten Bottle-Flips. Einmal kullerte eine Flasche über den Boden, einer kickte sie weg, ein andrer stolperte drüber, keiner hob sie auf. Als ich es tat und sie dem Werfer zurückgab, lachten alle.
Auf dem Platz schnappte sich der Rothaarige einen Ball und jonglierte damit. Ich zählte mit und hörte bei 163 auf. Später balancierte er den Ball eine halbe Minute auf dem Kopf, um ihn von dort auf die Hacke fallen zu lassen und ihn wieder nach vorne zu kicken, wo er weiterjonglierte. Wenn das alle hier so beherrschten, konnte ich einpacken.
Dann begann das Training....
Erscheint lt. Verlag | 10.2.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-407-75859-6 / 3407758596 |
ISBN-13 | 978-3-407-75859-0 / 9783407758590 |
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