Calypsos Irrfahrt (eBook)
144 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-93358-1 (ISBN)
Cornelia Franz wurde in Hamburg geboren, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Sie studierte Germanistik und Amerikanistik, machte eine Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin und arbeitete als Lektorin für Reiseführer. Sie schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Seit vielen Jahren engagiert sie sich in ihrem Stadtteil für Geflüchtete. Die Idee zu diesem Buch ließ sie nach einer Segeltour auf dem Mittelmeer nicht mehr los. »Calypsos Irrfahrt« wurde mit dem Hamburger Literaturpreis in der Kategorie Kinder- und Jugendbuch ausgezeichnet.
Cornelia Franz kann sich ein Leben ohne Bücher nicht vorstellen. Als Kind war die Hamburgerin eine Leseratte, später studierte sie Literaturwissenschaft, machte eine Ausbildung im Verlag und arbeitete als Lektorin. Seit 1993 schreibt sie Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die in verschiedenen Verlagen erscheinen – so etwa bei Carlsen ihr mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnetes Kinderbuch »Calypsos Irrfahrt«.
1
Das Meer glitzerte spiegelglatt im Sommerschlaf. Vielleicht war es ihm zu heiß, um sich zu bewegen. Auch Oscar, der im Schatten des schlapp hängenden Großsegels auf einem Handtuch lag, döste vor sich hin. Das Buch, das er eigentlich lesen wollte, rutschte von seinem nackten Bauch.
»Wir können ja alle mal tief Luft holen und in die Segel pusten«, sagte Oscars Vater und blies die Backen auf.
Oscar setzte sich hin und pustete, bis er rot anlief und ihm schwindlig wurde. Doch natürlich nützte das gar nichts. Die Calypso war kurz davor, rückwärts zu fahren, so träge schob sie sich durchs Wasser.
»Sehr witzig«, meinte seine Mutter, die am Ruder saß. »Passt nur auf, dass ihr nicht in Ohnmacht fallt.« Zum dritten Mal an diesem Vormittag holte sie ihre Sonnencreme heraus, rieb sich die Schultern ein und pfiff dabei Eine Seefahrt, die ist lustig vor sich hin. Oscar ahnte, dass dies der langweiligste Urlaub seines Lebens werden würde.
Warum nur hatte Yannick nicht mitkommen dürfen? Mit dem zusammen hätte das alles viel mehr Spaß gemacht. Aber Mama und Papa hatten sich quergestellt. »So ein Zappelphilipp auf dem kleinen Boot? Nein, nein, das ist uns zu viel Verantwortung«, hatten sie gesagt. Was ungerecht war, weil man mit Yannick sogar Schach spielen konnte, und dann war er total ruhig. In Oscar grummelte es. Yannick und alle anderen waren jetzt im Fußballcamp – und er hockte hier Stunde um Stunde auf seinem Po und starrte Löcher in die Luft wie ein Rentner auf der Parkbank.
Lucy kam angetapst und drückte sich an ihn. Sie hechelte mitleiderregend und ihr fusseliges Fell juckte ihn an den Beinen. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen schob Oscar sie weg. Schließlich hatte er tagelang gebettelt, dass wenigstens Lucy mitfahren durfte, anstatt in die Hundepension geschickt zu werden. Und weil Lucy schon so steinalt war, dass sie sowieso nur noch wie eine Schnecke schlich, hatten sich die Eltern überreden lassen.
»Komm her, du arme, alte Dame.« Mama klopfte auf das Polster der Steuerbank. Als sich Lucy neben ihr auf den Rücken rollte und alle viere von sich streckte, fächelte Mama ihr mit einer Illustrierten Luft zu und kraulte ihr den Bauch.
»Wollen wir ein bisschen das große Einmaleins üben, Spatz?«, wandte sie sich jetzt an Oscar. »Das wäre mal was Sinnvolles.«
Oscar verdrehte stumm die Augen.
»Wir wär’s mit schwimmen?«, schlug Papa vor. »Wer zuerst dreimal ums Boot rum ist. Ich lass dich auch gewinnen.«
»Ha, ha.«
»Na los, Oscar.« Papa stand von seiner Backskiste auf.
Doch Oscar schüttelte den Kopf. Immer nur mit Papa oder Mama in der Gegend herumzuschwimmen war auch nicht wirklich lustig.
Jetzt reckte sein Vater die Nase in die Luft. »Es müffelt«, sagte er. »Kann es sein, dass du Lucys Klo noch nicht sauber gemacht hast?«
Seufzend rappelte sich Oscar hoch. Nun ja, er hatte hoch und heilig versprochen, ganz allein für die Hundetoilette zuständig zu sein. Und so schlappte er zum Vordeck, nahm das kleine rechteckige Stück Kunstrasen auf, kippte Lucys Würste über Bord und sah zu, wie sie langsam in die türkisblaue Tiefe trudelten. Während er das Rasenteil zum Sauberspülen an einer Leine ins Wasser hielt, schaute er auf das endlose Meer hinaus. Noch vier Wochen auf diesem Schiff! Danach konnte man ihn gleich auf dem Friedhof ablegen. Das würde der langweiligste Urlaub ALLER ZEITEN werden, garantiert.
°
»Moh, mach die Augen auf. Du darfst nicht einschlafen.«
»Lass mich doch …«
»Wenn du schläfst, kannst du dich nicht festhalten.«
»Lass mich, Nala.«
»Schau mich an, Moh. Guck mal, ich komme mit der Zunge an meine Nasenspitze. Nun guck schon! Das kannst du bestimmt nicht, oder?«
»Klar kann ich das. Aber meine Zunge ist so schwer. Lass mich schlafen, Nala. Ich bin müde.«
»Na gut, für einen Moment. Leg den Kopf an meine Schulter. Ich pass auf dich auf, Brüderchen.«
°
Am Nachmittag wehte der Wind kräftiger, sodass die Calypso immerhin langsam kreuzend vorankam. Oscar, der die Winschkurbel bedienen durfte, musste sich anstrengen, um die Segel dichtzuholen. Aber dafür pustete ihm der Fahrtwind erfrischende Luft um die Nase.
»Willst du mal ans Ruder und die Kommandos geben?«, fragte seine Mutter.
»Klar.« Oscar wechselte mit ihr den Platz und stand jetzt wie ein echter Kapitän am Steuerrad.
Gewissenhaft schaute er auf die Kompassnadel, damit das Boot nicht vom Kurs abkam. Vielleicht sollten sie jetzt lieber mal ein Stück weiter nach Westen fahren.
»Fertig machen zur Wende!«, rief er. »Ree!«
Seine Mutter holte die Schot dicht. Für einen Moment stand das Boot fast still, dann kam wieder Wind in die Segel. Die Calypso nahm Fahrt auf, gerade so als hätte Oscar aufs Gaspedal getreten.
»Macht Spaß, oder?« Mama zurrte das Großsegel straff.
»Mmm, is’ okay.« Ein bisschen war Oscar immer noch maulig. Mit Yannick zusammen wäre es sicher witziger gewesen. Den hätte er dann ganz offiziell zu seinem Matrosen ernannt.
Kaffeeduft stieg aus der Kombüse auf, wo sein Vater auf dem kleinen Gasherd Cappuccino zubereitete. Oscar mochte den Geruch, und auch Lucy hob aufmerksam die Nase. Als Papa mit den zwei Bechern an Deck kam, lief sie schwanzwedelnd zu ihm. Doch dann hielt sie inne, drehte ab, stellte die Vorderpfoten auf die Bootskante und starrte aufs Wasser. Sie schnupperte und gab ein kleines Winseln von sich.
Oscar folgte ihrem Blick. Vielleicht hatte Lucy Delfine entdeckt! Nein, es war nichts zu sehen. Das Meer spannte sich leer und endlos bis zum Horizont, und Oscar dachte darüber nach, dass man diesen Horizont niemals erreichen würde, selbst wenn man schneller als ein Raketenboot war.
»Was ist mit Lucy los?« Auch Papa schaute seinen Kaffee schlürfend aufs Meer hinaus. »So alt, wie sie ist – sie hat immer noch eine fantastische Nase. Irgendetwas riecht sie dort draußen«, sagte er.
»Oscar!«, rief Mama. »Achtest du bitte auf deinen Kurs? Bleib mal mehr am Wind.«
Jetzt fing Lucy an zu kläffen. Oscar überließ seinem Vater das Ruder und stellte sich neben Lucy. Was nahm sie denn da vorne wahr? Er kniff die Augen zusammen und blinzelte in die schon tiefer stehende Sonne. Dort dümpelte tatsächlich etwas im Wasser, etwas Rotes. Aber was das war, konnte er nicht erkennen. »Fahr mal ein bisschen mehr rechts, Papa!«, rief er.
»Das heißt steuerbord. Wie oft soll ich das noch erklären?«, murmelte sein Vater, aber er zog trotzdem das Boot eine Spur weiter nach rechts.
Es dauerte keine Minute, bis Oscar erkannte, was dort im Wasser schwamm. Es war ein rot-weißer Rettungsring. Und in dem Ring steckte ein Kind. Nein, es waren zwei! Das größere der beiden hielt sich mit einem Arm an dem Ring fest, mit dem anderen umklammerte es einen kleinen Jungen. Sein Kopf lag auf der Schulter des Mädchens, sodass ihm ihre schwarzen Zöpfe ins Gesicht hingen. Mit jedem Meter, den die Calypso näher kam, war die Erschöpfung der beiden deutlicher zu sehen.
»Hallo, hallo!« Oscar wedelte wild mit den Armen in der Luft herum. »Wir kommen!«
Neben ihm machte sich Lucy lang und länger. Sie guckte genauso gebannt wie Oscar zu den Kindern hinüber. Sein Vater ließ hastig die Segel fallen, während seine Mutter den Bootshaken aus der Halterung zog. Die Calypso wurde langsamer, und schließlich hatte das Boot den Rettungsring fast erreicht.
Vielleicht war das Mädchen am Ende seiner Kräfte. Vielleicht wusste es, dass jetzt jemand anderes die Verantwortung übernahm. Jedenfalls ließ es in diesem Moment sowohl den Rettungsring als auch den Jungen los. In Zeitlupe sanken sie beide inmitten des Rings ins Meer und ihre dunklen Köpfe verschwanden unter Wasser. Wie gelähmt starrte Oscar auf den leeren Rettungsring. Sein Herz klopfte wild.
»Nimm das Steuer!«, schrie sein Vater, während er schon von Bord sprang. Mit wenigen Schwimmzügen war er beim Rettungsring, tauchte hinab und packte die Kinder. Links und rechts in den Armen hielt er sie und trampelte dabei kräftig mit den Beinen, um sie über Wasser zu bringen.
»Gegen den Wind halten, Oscar! Wir treiben ab!« Mama reckte sich mit dem Bootshaken über die Bordkante, Lucy bellte aufgeregt und Oscar brach der Schweiß aus. Warum musste der Wind ausgerechnet jetzt so stark pusten, wo die Segel in der Eile nicht richtig zusammengebunden waren? Viel mehr Druck war auf dem Ruderblatt, viel höher waren die Wellen plötzlich. Es war schwer, die Calypso so zu steuern, dass Mama an Papa und die Kinder herankam. Und wie sollte Papa den Haken erwischen, wo er doch keine Hand frei hatte?
Doch irgendwie schafften sie es. Papa presste mit einem Arm beide Kinder an sich, packte den Haken, und Mama schleppte sie zur Bordleiter. Oscar ließ das Ruder los. Zu dritt hievten sie die Kinder an Bord. Das Mädchen hatte die Augen aufgerissen, sie hustete und spuckte Wasser, der Junge schien leblos.
»Was machen wir denn jetzt?! Was machen wir denn jetzt?!!« Oscars Stimme überschlug sich vor Aufregung.
Doch Mama und Papa behielten beide die Ruhe. »Geh wieder ans Ruder, Oscar. Wirf den Motor an und halt das Boot einigermaßen stabil«, sagte Papa. Er kniete an Deck, umschloss das zitternde Mädchen mit den Armen und strich ihr die nassen Locken aus der Stirn....
Erscheint lt. Verlag | 25.2.2021 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Kinder- / Jugendbuch ► Sachbücher | |
Schlagworte | Asyl • Asylbewerber • Asyl Buch • Auffanglager • Boat people • Buch Flucht und Vertreibung • Buch über Flüchtlinge • Flucht • Flüchtlinge • flüchtlinge kinderbuch • Flüchtlingslager • Geflüchtete • Geflüchtete Kinderbuch • Griechenland • Kinderbuch Flucht • Kinderbuch gegen Rassismus • Kinderbuch Krieg • Kongo • Lesbos • Migration • migration buch • Mittelmeer • Mittelmeerroute • Moria • Schiffbruch • Schleuser • Sea Watch • Sea-Watch • Seenot • Seenotrettung • Seenotrettung Buch • Segeltörn • Segelurlaub • Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge • Vertreibung |
ISBN-10 | 3-646-93358-5 / 3646933585 |
ISBN-13 | 978-3-646-93358-1 / 9783646933581 |
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