Asphalthelden (eBook)
192 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43869-8 (ISBN)
Jason Reynolds studierte Literaturwissenschaften an der University of Maryland. Seine Bücher sind in den USA nicht nur Bestseller, sondern auch vielfach ausgezeichnet. Sein Buch >Long Way Down< wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Für den Kinderroman >Ghost< erhielt er den LUCHS des Jahres. Jason Reynolds ist in den USA ein Literaturstar. Er lebt in Washington, D.C.
Jason Reynolds studierte Literaturwissenschaften an der University of Maryland. Seine Bücher sind in den USA nicht nur Bestseller, sondern auch vielfach ausgezeichnet. Sein Buch ›Long Way Down‹ wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Für den Kinderroman ›Ghost‹ erhielt er den LUCHS des Jahres. Jason Reynolds ist in den USA ein Literaturstar. Er lebt in Washington, D.C.
Marston Street Wasser, Popel, Bären
Eigentlich sollte diese Geschichte ja so anfangen wie alle supergenialen Geschichten: mit einem Schulbus, der vom Himmel fällt.
Aber keiner hatte gesehen, wie es passiert ist. Keiner hatte was gehört. Deshalb fängt die Geschichte eben nur wie eine … gute Geschichte an.
Mit Popeln.
»Wenn du dir diese fiesen, halb verklumpten Rotzmonster nicht bald mal aus der Nase pulst, dann laufe ich nicht mit dir nach Hause – das schwör ich dir. Und das ist kein Witz.« Jasmine Jordan sagte das so, wie sie fast alles sagte – mit dem ganzen Körper. Als würden die Worte nicht nur aus ihrem Mund kommen, sondern ihren Rücken runterkullern. Sie sagte es so, als würde sie es tatsächlich ernst meinen. In dem gleichen Komm-mir-bloß-nicht-dumm-Tonfall, den ihre Mutter verwendete, wenn sie mit Jasmine ein ernsthaftes Gespräch über ernsthafte Themen führen wollte, und wo Jasmine dann die Musik in ihren Ohren so richtig laut stellte, um ihre Mutter zu übertönen und möglichst schnell weiterzuscrollen. Wenn du diese Ohrplugs … äh, Airbuds … Airphones oder wie die heißen nicht sofort aus deinem Kokosnussschädel holst, dann dreh ich mal Lautstärke und Bass hoch, und damit meine ich jetzt nicht die Musik.
Dieser Tonfall.
Jasmines Popelwarnung war an ihren besten Freund mit der verstopften Nase gerichtet, Terrence Jumper. TJ. Also, Jasmine bezeichnete ihn zwar immer als ihren »besten Freund, der ein Junge ist«, aber weil sie keine besten Freundinnen hatte, war TJ eben ihr bester Freund-Freund. Und sie seiner. Und das schon sehr lange. Seit er in die Marston Street gezogen war, drei Häuser weiter von ihr. Seit ihre Mütter ihnen nur dann erlauben wollten, zu Fuß zur Schule zu gehen, wenn sie zusammen gingen, weil sie die einzigen Kinder in der Straße waren. Seit sechs Jahren also und damit seit einer gefühlten Ewigkeit.
Die Glocke läutete; Jasmine und TJ hatten gerade die letzte Unterrichtsstunde des Tages hinter sich gebracht, das einzige Fach, das sie zusammen hatten. Biologie bei Mr Fantana.
»Du bist gerade mal seit zwei Tagen wieder in der Schule und willst mich schon dumm anmachen?« TJ drehte das schwarze Zahlenschloss so lässig, als würde er den Unterschied in den Rillen spüren und automatisch merken, wenn er auf der richtigen Zahl landete.
»Was erwartest du? Sieh dir diese Klumpen doch mal an. Ehrlich, TJ, ich weiß echt nicht, wie du atmen kannst«, meckerte Jasmine weiter. Ihre Schließfächer lagen direkt nebeneinander – zum Glück, weil Jasmine im Gegensatz zu TJ ihr Schloss immer mit höchster Konzentration drehte und es dabei böse anstarrte, als könnte sich die Zahlenkombination jeden Moment von selbst verstellen oder als würden ihre Finger plötzlich nicht mehr funktionieren. Und wenn aus irgendeinem merkwürdigen Grund eins von beidem passieren sollte, wäre wenigstens TJ da, um zu helfen.
TJ zuckte nur mit den Schultern und warf sein Biobuch auf den Boden des Metallschranks, womit er eine Staubwolke aufwirbelte, die nach Schweißfüßen stank und alles einnebelte. Ein Nebel des Grauens. Der Boden seines Schließfachs war mit leeren Chipstüten bedeckt, die Jasmine während der letzten beiden Tage durch den Türspalt geschoben hatte. Müll? Na ja, irgendwie schon. Aber für Jasmine und TJ waren es »Freundschaftsflaggen«. Müllbotschaften. Weil Jasmine eine Weile weg gewesen war, waren diese leeren Tüten so was Ähnliches wie kleine Briefe, die »Ich hab dich vermisst« sagten. In Form von Chipskrümeln. Und dann, endlich, zog TJ den Saum von seinem T-Shirt hoch und wischte den hart gewordenen Schnodder weg, der sich wie winzige Steinhaufen am Eingang seiner Nase angesammelt hatte. Er wischte und rupfte und pulte gerade genug davon hervor, um seinen guten Willen zu zeigen, aber ohne allzu übertriebenen Eifer, und hinterließ dabei einen Schleimstreifen an seiner Lippe.
TJ legte den Kopf in den Nacken, um Jasmine freie Sicht auf seine Nasenlöcher zu gewähren. »Besser?«, fragte er, halb im Ernst, halb in der Hoffnung, dass noch ein Popel übrig war, der Jasmine die Zunge rausstreckte.
Jasmine spähte in TJs Nase, als würde sie durch ein braunes Mikroskop aus Fleisch gucken, völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass TJ sein T-Shirt – das T-Shirt, das er anhatte – als Taschentuch benutzt hatte. Aber warum hätte sie das auch stören sollen? Nicht, dass das nicht eklig gewesen wäre (das war es nämlich, voll eklig sogar), aber sie kannte ihn eben schon sehr lange. Hatte ihn Dinge tun sehen, gegen die waren ein paar Popel am T-Shirt nichts weiter als ein bisschen Deko. Schnodder-Borte. TJ-Blingbling. Sie hatte zum Beispiel erlebt, wie er Kaugummis von den Sohlen seiner Turnschuhe (und ihrer) gepult hatte. Am krassesten war die Sache damals gewesen, als er eine Mücke erschlug, direkt nachdem sie ihn gestochen hatte, und sich dann den Mückenschleim vom Arm leckte. Jasmine hatte mit ihm gewettet, ob er das tun würde. Und ihm einen Dollar dafür gezahlt. Und das war es absolut wert gewesen, für beide.
»Weißt du, ich kann direkt bis zu deinem Gehirn gucken«, sagte Jasmine und tat so, als würde sie ihn immer noch eingehend untersuchen. »Und wie ich sehe, fehlt ein großes Stück.« Sie kniff TJ in die Nase. »War nur ’n Witz. Alles bestens. Jetzt kann ich mich wieder mit dir sehen lassen.«
»Ist doch egal.« TJ knallte die Tür von seinem Schließfach zu. »Ich meine, wir sind sowieso alle Popel.«
»Du bist vielleicht ein Popel.« Zweites Türenknallen. »Ich bin bestimmt keiner.«
»Denkst du«, fuhr TJ fort, während sie Rucksäcke tauschten. Seiner war leicht. Jasmines dagegen war vollgestopft mit den Büchern sämtlicher Unterrichtsfächer und allen Heften dieser Welt. Nachholmaterial. Sie hätte den Rucksack auch selbst tragen können, aber TJ machte sich Sorgen um ihren Rücken, um ihre Muskeln, weil sie sich immer noch von der Attacke erholen musste.
Sie gingen durch den überfüllten Gang, durch eine Lärmwolke aus quietschenden Turnschuhen und dem üblichen Schulschlussgeschrei. »Ich hab nämlich darüber nachgedacht. Popel sind doch eigentlich nur Wasser vermischt mit, na ja, Staub und Luftpartikeln und so was …«
»Woher willst du das denn wissen?«, unterbrach Jasmine ihn. Wie sie TJ kannte, hätte er das überall aufschnappen können, zum Beispiel von Cynthia »Nasowas« Sower, die 99,9999 Prozent der Zeit nur Quatsch erzählte.
»Hab ich im Internet nachgeschaut«, erklärte TJ. »Wollte wissen, warum sie so salzig sind.«
»Warte mal.« Jasmine hob die Hand, als würde sie TJs letzte Worte von sich fernhalten wollen. »Du isst die?«
»Oh Mann, Jasmine. Das ist echt nicht fair, mir die Sünden meiner Kindheit vorzuhalten. Alter.« TJ schüttelte den Kopf. »Also, wenn du endlich mal aufhören könntest, mich zu unterbrechen, würde ich jetzt gerne mit meiner Hypothese fortfahren.« Er zerteilte »Hypothese« in vier Silben, damit es geschwollener klang. Hü-poo-tee-see. »Also, Popel bestehen hauptsächlich aus Wasser und Staub.« Er hob belehrend den Zeigefinger. »Und Menschen bestehen hauptsächlich aus Wasser, stimmt’s? Hat Fantana das nicht am Anfang vom Schuljahr gesagt?«
»Stimmt.«
»Okay, dann hör mir zu. Sonntags in der Kirche erzählen sie uns immer, dass Gott uns aus Staub erschaffen hat, stimmt’s?« TJ und Jasmine gingen in die gleiche Kirche und sangen dort gemeinsam im Kinderchor. TJ bat Mrs Bronson, die Chorleiterin, jedes Mal, ihn die Solos singen zu lassen, obwohl seine Stimme die ganze Zeit wilde Purzelbäume schlug. Wie ein Windglockenspiel in einem Wirbelsturm. Jasmines Gesang war nicht viel besser. Der Unterschied war nur, dass sie das wusste und nie auf die Idee gekommen wäre, um ein Solo zu bitten. Sie liebte es, das Chorgewand zu tragen, das wie ein Talar aussah, und die schönen Melodien zu singen, sich hin und her zu wiegen und zu klatschen, ihre Stimme zwischen die der anderen gleiten zu lassen wie eine Schublade in eine Kommode. Ihre Mutter sagte immer zu ihr: Eine Note zu halten ist Talent genug.
Aber auch wenn TJ nun wirklich keine Note halten konnte (das gehörte definitiv nicht zu seinen Talenten) – ein Gespräch am Laufen zu halten, das schaffte er spielend. Und so fuhr er nun fort: »Gott hat also den Menschen aus Staub erschaffen und ihm seinen Atem in die Nase gepustet und so, stimmt’s?«
»Hmm … kann sein.«
»Glaubst du, Gott hatte Mundgeruch?«
»Hä?«
»Egal. Vermutlich nicht.« TJ kehrte zu seinem Thema zurück. »Also, wenn Gott den Menschen oder Adam, also den Mann, aus Staub erschaffen hat …«
»Die Frau aber auch«, warf Jasmine sofort ein.
»Ja, und die Frau auch … Also, wenn der Mensch aber gleichzeitig auch hauptsächlich aus Wasser besteht, dann sind wir im Grunde also Wasser und Staub, ja?« TJ wedelte wild mit den Händen, als würde er eine äußerst komplizierte Gleichung an eine unsichtbare Tafel schreiben. Jasmine sagte nichts, aber das war auch nicht nötig. TJ war nun fest entschlossen, seine Theorie zu Ende zu führen. »Und das bedeutet …«, schloss er, und Jasmine konnte förmlich den Trommelwirbel hinter seinen Augen sehen, »dass wir alle im Prinzip … Popel sind.«
Tiefe Befriedigung lag wie eine dicke Schicht Niveacreme auf TJs Gesicht. Auf Jasmines dagegen lag Verwirrung, als hätte ihr jemand mit klebriger Hand eine Ohrfeige verpasst.
»So ein Quatsch«, schlug sie zurück.
»Du musst mir nicht glauben«, sagte TJ und hielt die Tür für Jasmine auf, als sie es...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2021 |
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Übersetzer | Anja Hansen-Schmidt |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Heimweg • Kinderbuch ab 11 Jahren • Kinderbuch Neuerscheinung 2021 • Kurze Geschichten für Kinder ab 10 • Lehrer • Schulalltag • Schule • Schultag • Schulweg • schulzeit • USA • Weg zur Schule • witziges Kinderbuch |
ISBN-10 | 3-423-43869-X / 342343869X |
ISBN-13 | 978-3-423-43869-8 / 9783423438698 |
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