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Nachwendekinder (eBook)

Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen | Das Erbe des Ostens für die junge Generation: Identität, Familiengeschichte & Erinnerungskultur nach dem Mauerfall
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2176-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nachwendekinder -  Johannes Nichelmann
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Lukas erfuhr erst vor kurzem durch den Anruf eines Unbekannten, dass sein Vater für das Regime spioniert hat. Maximilian fühlt sich wie ein Einwandererkind, dessen Herkunftsland seine Identität prägte, obwohl es nicht mehr existiert. Franziska ringt noch mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte in ihrer Familie. Dem blinden Fleck in der Geschichte vieler ostdeutscher Familien spürt der preisgekrönte Hörfunk-Journalist Johannes Nichelmann in vielen Begegnungen nach. Die O-Töne wirken wie ein Echolot der problematischen Erinnerungskultur, aus der sich auch die Konstellation für aktuelle gesellschaftlich-politische Schieflagen im Osten speist. Es geht dem Autor um eine ehrliche Debatte, um ein lebendiges Erbe der Erinnerungen, das nicht schwarz-weiß gezeichnet ist, sondern auch Zwischen- und Grautöne kennt.

Johannes Nichelmann, geboren 1989 in Berlin, studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2008 arbeitet er als freier Reporter, Autor und Moderator für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zunächst für die RBB-Jugendwelle 'Fritz', später vor allem für Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur sowie zahlreiche ARD-Anstalten, ZDF und ARTE. Für seine Radiodokumentationen hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem den 'Kurt-Magnus-Preis der ARD' für das 'junge Lebenswerk' (2013), den 'Robert-Geisendörfer-Preis' der Evangelischen Kirche (2014) und den 'Deutschen Sozialpreis' (2018).

Johannes Nichelmann, geboren 1989 in Berlin, studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2008 arbeitet er als freier Reporter, Autor und Moderator für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zunächst für die RBB-Jugendwelle "Fritz", später vor allem für Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur sowie zahlreiche ARD-Anstalten, ZDF und ARTE. Für seine Radiodokumentationen hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem den "Kurt-Magnus-Preis der ARD" für das "junge Lebenswerk" (2013), den "Robert-Geisendörfer-Preis" der Evangelischen Kirche (2014) und den "Deutschen Sozialpreis" (2018).

Einleitung


Berlin-Pankow, 1996. Ich bin sieben Jahre alt, als mein Bruder und ich die Uniform finden, in einer Mülltüte im Keller. Sie ist grüngrau, mit Schulterabzeichen in Silber und Gold. Wir setzen die Schirmmütze nacheinander auf unsere kleinen Köpfe, schlüpfen in die viel zu große Jacke. »Zieht das sofort wieder aus!« Mein Vater steht in der Tür, Zorn in den Augen. »Wehe, ihr fasst das noch einmal an!« Wir verlieren nie wieder ein Wort darüber. Zumindest bis ich Abitur mache, genau zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. Ich habe vor, mich in Geschichte prüfen zu lassen, interessiere mich für das Thema Grenzsoldaten und erzähle meinem Vater davon. »Wenn du das machst, enterbe ich dich!«, sagt er. Nun ist es nicht so, dass ich auf ein großes Erbe hoffen könnte. Außerdem ist mein Vater zu diesem Zeitpunkt gerade einmal Mitte vierzig. Was er mir damit eigentlich sagen will: dass über diesen Teil seiner Geschichte, unserer Familiengeschichte, nicht gesprochen wird. Unter gar keinen Umständen.

Ich weiß nur: Mein Vater hat seinen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee geleistet, an der Berliner Mauer. Bis heute ist mein Wissen über das Leben meiner Familie in der Deutschen Demokratischen Republik bruchstückhaft und verschwommen. Die DDR meiner Eltern besteht für mich nur aus Anekdoten, in denen meistens Sommer ist und gute Laune herrscht, aus Geschichten vom Zelten an einem Brandenburger See zum Beispiel, vom Familienhund meiner Mutter. Er hieß Berrie, und nach all den Erzählungen über ihn habe ich das Gefühl, selbst häufiger mit ihm Gassi gegangen zu sein. Es ist auch die Rede von einem strengen Lehrer, einem Herrn Hering, der am Ende aber auch irgendwie ganz okay war. In all den Erzählungen herrscht ein besonderer Sinn für Gemeinschaft. Kritisches kommt kaum vor, ihre Stasi-Akten wollten meine Eltern nie sehen. Sie hatten nie Kontakt zum Geheimdienst und wollen bis heute auch nicht wissen, wer aus ihrer Umgebung sie eventuell bespitzelt haben könnte. Über ihre Mitgliedschaft in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands sprechen sie nur ungern.

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass die DDR entweder ein vierzig Jahre lang andauernder Sommerausflug an den See oder ein niemals enden wollender Aufenthalt im Stasi-Knast war. Es kommt immer darauf an, wen man fragt. In jedem Fall war die DDR schwarz-weiß und klang nach Trabant. Gerochen hat sie wie meine Grundschule, chemisch-muffig. Ich bin in einem Land geboren, das ich nie bewusst gesehen habe. Mein Impfausweis und meine Geburtsurkunde sind für mich die einzigen greifbaren Belege dafür, dass ich nicht in dem Staat geboren wurde, in dem ich aufgewachsen bin. Die DDR und ich – wir sind irgendwie miteinander verbunden, wobei ich nicht genau verstehe, wie und warum.

Natürlich kenne ich die wichtigen Ereignisse aus der Geschichte des Arbeiter- und Bauernstaates. Seinen politischen Aufbau, wie er 1949 gegründet worden und 1990 untergegangen ist, bis hin zu SED und Stasi. Viele Namen und Gesichter von DDR-Akteuren sind mir bekannt: die Genossen Generalsekretäre Erich Honecker und Egon Krenz, Stasi-Chef und »Ich liebe doch alle Menschen«-Miel­ke und natürlich »Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten«-Ulbricht. Auch was am 17. Juni 1953, beim Arbeiteraufstand in der DDR, geschah, habe ich verstanden. Ebenso, wie und warum im August 1961 die Berliner Mauer hochgezogen wurde und welches Leid sie über die Menschen gebracht hat. In mein Gedächtnis eingebrannt ist die Aufnahme des Grenzers Conrad Schumann und seines Sprungs in den Westen an der Bernauer Straße in Berlin.

Wenn ich an die DDR denke, fallen mir Begriffe wie »Plaste«, »Konsum« (Betonung auf der ersten Silbe: »KONsum«) oder »Kaufhalle« ein, die ich manchmal auch heute noch verwende. Ich denke an Aufnahmen von aufmarschierenden Jungpionieren. Ich kenne die Unterhaltungsprogramme des DDR-Fernsehens, wie »Ein Kessel Buntes«, und die Figuren aus dem Kinderfernsehen: Pittiplatsch, Schnatterinchen, das Sandmännchen. Ich habe die Melodien der Nachrichtensendung »Aktuelle Kamera« und der Nationalhymne »Auferstanden aus Ruinen« im Ohr. Einigermaßen informiert bin ich über die Sache mit den »Volkseigenen Betrieben« (VEB), den »Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften« (LPG) und dem maroden Wirtschaftssystem.

Allgemein bekannt ist auch der grobe Ablauf der Wende: von den Montagsdemonstrationen über den nervösen Machtapparat bis hin zum West-Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft. Da ist die historische Pressekonferenz mit dem »Nach meiner Erkenntnis ist das sofort, unverzüglich« Günter Schabowskis vom 9. November 1989, kurz vor 19 Uhr. Die Bilder von der Öffnung des Schlagbaums am Grenzübergang Bornholmer Straße und den fröhlichen und feiernden Menschen am Brandenburger Tor treiben mir manchmal Tränen in die Augen. Ich identifiziere mich mit diesen Leuten, die sich im Freudentaumel in die Arme fallen. Ich spüre: Das ist auch meine Geschichte. Nur dass ich nicht genau weiß, warum. Mich berühren die Videoaufnahmen von der Stürmung des Stasi-Hauptquartiers in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg.

In diesem Buch möchte ich keinen Abriss zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik als Staat abgeben. Es existieren ausreichend Bücher, Filme und Geschichten zu den historischen Fakten. Es geht darum, warum wir Nachwendekinder zu wenig bis gar nicht mit unseren Eltern über ihr Leben in der DDR sprechen und nicht über vereinzelte Erinnerungsfragmente hinauskommen.

Bei meiner Recherche musste ich lernen, wie schwierig es ist, sich den Biographien unserer direkten Vorfahren zu nähern, sie zu hinterfragen, ohne sich wie ein Verräter oder ein Eindringling vorzukommen. Es fühlt sich seltsam und falsch an, bei den eigenen Eltern nachzubohren. Meine Bereitschaft, mich mit ihnen zu identifizieren, ist nicht gerade gering. Deutlich spürbar ist ihre Angst, offen über das Leben und die eigene Rolle in der DDR zu sprechen. Über den Beitritt zur SED, über den Glauben an den Sozialismus, über den schmalen Grat des richtigen Lebens im falschen. Befürchten sie, wir, ihre Kinder, würden sie moralisch verurteilen?

Ein Nachwendekind gab mir mit auf den Weg: »Natürlich können wir Nachwendekinder gnadenlos sein, weil wir ja nichts verteidigen müssen. Unsere Zehen stecken vielleicht noch im alten Osten, aber wir sind völlig anders aufgewachsen.« Wir sind zwar nicht frei vom Einfluss der Propaganda, aus Ost und West, können aber mit Abstand auf die DDR blicken. Wir haben sie nicht miterlebt. Am 3. Oktober 1990 hörte sie auf zu existieren. Dennoch sind wir Nachwendekinder kulturell mit ihr aufgewachsen. Der untergegangene Staat wirkt nach – nicht zuletzt durch die Erziehung in der Familie und der Schule.

Da ist zum Beispiel Maximilian, geboren 1987, aus Berlin. Er fährt einen originalen Trabant. Das klassischste aller DDR-Fahrzeuge ist seine Zeitmaschine. Zu gern würde er das Land kennenlernen, in dem sein Vater und seine Mutter aufgewachsen sind. Er ist kein ewig gestriger Nostalgiker, er ist ein Suchender. Da ist Beatrice, die für ihre Arbeit von Eisenach nach Frankfurt am Main zieht. Dort wird sie zum ersten Mal zum »Ossi«, weil ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen sie auf sämtliche Klischees reduzieren, sodass sie anfängt, sich mit ihrem Ostdeutschsein zu beschäftigen.

Da ist die Geschichte von jemandem, der stets verärgert war, wenn irgendwo negativ über die DDR gesprochen wurde. Von jemandem, der sich von niemandem diese DDR, die er ja nie gesehen hatte, kaputtreden lassen wollte. Jemand, der das Leben seiner Vorfahren lange verteidigt hat, ohne eigentlich zu wissen, was er da verteidigte – auch ohne sich in dieses Land irgendwie zurückzuwünschen. Dieser Jemand bin ich. Wir haben zwar eine andere Perspektive auf die DDR, doch wenn wir den Dialog mit unseren Eltern und Großeltern nicht suchen, werden wir nicht in der Lage sein, gemeinsam etwas aus diesem Teil der deutschen Geschichte zu lernen. Wir werden außerdem nicht in der Lage sein, einige der politischen Schieflagen im Osten zu beheben. Noch ist es nicht zu spät, damit anzufangen.

Es geht mir natürlich nicht nur um meine eigene Familie. Für dieses Buch bin ich durch Europa gereist und habe junge Ostdeutsche und ihre Eltern getroffen. Ich kenne einige von ihnen aus meinem erweiterten persönlichen Umfeld, habe andere zufällig auf Veranstaltungen oder über diverse journalistische Recherchen kennengelernt. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie hatten sofort eine Menge über das Thema zu berichten. Im ersten Teil des Buches spreche ich mit ihnen über ihren aktuellen Blick auf die DDR und den Osten, über ihr Aufwachsen in einem Land, dessen östlicher Teil vor nicht allzu langer Zeit ein eigener Staat gewesen ist. Es geht dabei auch um die Entdeckung einer möglichen ostdeutschen Identität. Ich begegne außerdem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die zur Nachwendegeneration forschen.

Im zweiten Teil des Buches kommt es zu direkten Auseinandersetzungen mit der Elterngeneration. Geschwiegen wird – wenig...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber
Kinder- / Jugendbuch
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 30 Jahre Mauerfall • 30 Jahre Wende • Aufarbeitung DDR • Aufbruch Ost • Biografien Ost • Buch • Buch DDR • Buch Nachwendezeit • Daniel Kubiak • DDR • DDR Buch • DDR Buch Geschichte • DDR Nostalgie • DDR Roman • DDR verstehen • DDR von unten • Deutsche Einheit • Deutsche Sozialgeschichte • Deutschlandfunk Autor • die blinden Flecken in ostdeutschen Familien • Dritte Generation Ost • Eltern • Erfahrungen • Erinnerung DDR • Erinnerungskultur • Familie • Familiengeschichte • Generation • Generation Einheit • Generation Ost • Geschichte • Geschichte DDR • Identität • Jana Hensel • Kinder • Lakonisch elegant • Mauer • Mauerfall • Migration Ost • nachwendegeneration • Oral History • Ossi • Ostalgie • Ost-Bewusstsein • Ost-Biografie • ostdeutsche Identität • ostdeutsche Jugend • Ostdeutschland • Ostdeutschland Buch • Osten • Ost Identität • Ostler • Psychologie • Schönian • spiegel bestseller • Spiegel Bestseller 2019 • Spiegel Bestseller aktuell • Stasi • stasi bücher • Transformation • Umbruch • Valerie • Vergangenheit • Vergangenheit aufarbeiten • Vergangenheit Buch • vergangenheit bücher • Vergangenheitsbewältigung • Wende • Wendegeneration • Wendekinder • Wendezeit • Wessi • Wiedervereinigung • Wir sind der Osten • Zeitgeschichte DDR • zonenkinder
ISBN-10 3-8437-2176-9 / 3843721769
ISBN-13 978-3-8437-2176-9 / 9783843721769
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