PROLOG
Blaustern blieb oben auf dem Abhang plötzlich stehen. Hundegestank traf auf ihre Kehle. Die Farnwedel schwankten, dunkle Gestalten schwärmten durch die Schlucht. Feuerherz’ orangefarbenes Fell leuchtete wie eine Flamme durch das Grün. Er hielt einen großen Abstand zwischen sich und der Meute, aber jetzt sprintete der Leithund los und näherte sich immer mehr dem Zweiten Anführer des DonnerClans.
Nein! Nicht ihn! Den darfst du nicht zu Beute machen!
Blaustern stürzte den Abhang hinab. Keuchend und mit brennenden Muskeln lief sie zwischen den Bäumen hindurch und ihre Pfoten glitten immer wieder auf dem laubbedeckten Waldboden aus. Sie schoss durch einen Farnbusch, rannte ohne etwas zu sehen weiter, als die Wedel gegen ihr Gesicht peitschten. Die Schlucht war nahe. Sie konnte den Fluss zwischen den steilen, grauen Felswänden donnern hören. Würde Feuerherz es schaffen, die Hundemeute über die Kante zu locken? Und wenn ihn der Leithund vorher schnappte?
Sie brach aus dem Farn heraus und blieb auf einer Lichtung am Rand der Klippe stehen. Blätter segelten unter ihren rutschenden Pfoten in den Abgrund.
O SternenClan, nein!
Feuerherz, der Zweite Anführer des DonnerClans, hing zwischen den glänzenden Zähnen eines riesigen Hundes. Der Kater wehrte sich fauchend vor Wut. Der Hund schüttelte ihn und seine Augen leuchteten triumphierend, aber seine ungeschickten Pfoten schlitterten gefährlich nahe an den Rand der Schlucht.
»Ich lasse nicht zu, dass du meinen Clan zerstörst!«, brüllte Blaustern. Sie warf sich gegen Feuerherz’ Gegner und krachte mit dem Kopf in seine Flanke.
Überrascht ließ der Hund Feuerherz fallen und wirbelte herum. Blaustern kauerte sich nieder und fuhr die Krallen aus. Das Blut dröhnte ihr in den Ohren, aber sie spürte keine Angst. Mondelang hatte sie sich nicht so lebendig gefühlt. Sie schlug in Richtung der Hundeschnauze, doch die Krallen fuhren durch leere Luft. Der Hund glitt von ihr weg! Die Erde unter seinen Hinterbeinen gab nach. Ein Schauer von Steinbrocken regnete die steile Wand der Schlucht hinab, als die Pfoten des Hundes strampelnd nach Halt suchten. Doch seine stumpfen Krallen rutschten nur über den mit Laub bedeckten Waldboden und unbarmherzig wurden seine Hinterbeine über den Klippenrand gezogen.
Die Meute donnerte näher.
»Blaustern!«, schrie Feuerherz.
Aber Blaustern wandte die Augen nicht von dem Leithund ab, war in seinem panischen Blick gefangen, während hinter ihr die Hunde bereits durch den Farn zu brechen begannen.
Die Meute hatte sie fast erreicht.
Blaustern grub die Krallen in die weiche Erde und plötzlich füllte sich die Luft mit saurem Angstgeruch. Die heranstürzenden Hunde hatten die Schlucht erblickt, und ihr Wutgeheul wandelte sich in ängstliches Winseln, als sie immer dichter an die Felskante heranrutschten. Blaustern wich nicht aus, als ein entsetztes Jaulen durch die Schlucht hallte. Sie kniff die Augen zusammen, die immer noch auf den Leithund gerichtet waren. »Ihr hättet den DonnerClan niemals bedrohen dürfen!«, fauchte sie.
Blitzschnell streckte der Hund den Kopf vor und packte ihr Bein mit den Zähnen. Sie spürte, wie der Boden unter ihr wegrutschte und der Hund sie mit sich über die Kante zog. Der tosende Wind blähte ihr im Fall das Fell auf, unten strudelte und schäumte der Fluss. Sie strampelte verzweifelt in der kalten, feuchten Luft und konnte sich erst einen Augenblick, bevor sie aufs Wasser aufschlug, von dem Hund frei machen.
Der eisige Fluss nahm ihr den Atem. Blindlings kämpfte sie gegen die Strömung an, ruderte nach oben an die Luft, das Herz voller Panik. Gänsefeders Prophezeiung blitzte auf in ihrem Kopf: Wasser wird dich vernichten.
Ihr dichtes Fell war schwer von Wasser und zog sie hinab. Überall war sie von stürzendem Flusswasser umgeben, und sie wusste nicht mehr, wo oben war. Ihre Lungen kreischten nach Luft, Entsetzen packte sie. Sie würde ertrinken, hier in den schäumenden Wassern der Schlucht.
Nicht aufgeben! Klar und vertraut klang ein Miauen durch das tosende Gewässer.
Eichenherz?
Der Vater ihrer Jungen murmelte ihr ins Ohr: Stell dir vor, du läufst durch den Wald. Lass deine Pfoten die Arbeit machen. Recke dein Kinn hoch. Lass das Wasser dich nach oben tragen.
Seine Stimme schien sie emporzutragen und dämpfte ihre Panik. Ihre Pfoten wühlten stetig durch das Wasser, ihr vor Schmerz verkrampftes Herz beruhigte sich, sie hob das Kinn, bis schließlich der Wind ihr ins Gesicht peitschte. Hustend und würgend schnappte sie nach Luft.
So ist’s gut, flüsterte ihr Eichenherz ins Ohr.
Seine Stimme klang so sanft, so verheißungsvoll. Vielleicht sollte sie sich einfach vom Fluss davontragen lassen in sein weiches Fell.
Blaustern, schwimm! Zum Ufer!, miaute Eichenherz nun scharf. Unsere Jungen warten.
Unsere Jungen! Wie ein Blitzschlag traf sie der Gedanke an die beiden.
Du darfst sie nicht zurücklassen, ohne ihnen Auf Wiedersehen zu sagen.
Frische Energie durchströmte sie und sie begann wieder zu kämpfen. Eine dunkle Gestalt prallte gegen sie, stieß sie wieder unter Wasser, aber sie arbeitete sich erneut an die Oberfläche, spuckte, als Wasser ihr Maul füllte und in ihre Kehle rann. Der strampelnde Körper eines Hundes taumelte an ihr vorbei und wurde flussabwärts getrieben.
Wenn nicht einmal ein Hund diese Strömung bezwingen kann, wie soll ich es dann können?
Baumwipfel verschwammen über ihr, als der strudelnde Fluss sie weiterriss.
Du kannst das!, drängte Eichenherz. Blaustern strampelte, stieß gegen das Wasser, aber ihre erschöpften Beine fühlten sich an wie aufgeweichte Blätter, nutzlos und schwach.
Plötzlich packten Zähne ihr Nackenfell. Würde Eichenherz sie in Sicherheit ziehen? Blaustern blinzelte sich das Wasser aus den Augen und konnte einen kurzen Blick auf orangefarbenes Fell werfen.
Feuerherz!
Der Zweite Anführer des DonnerClans hatte sie gepackt.
»Halte den Kopf hoch!«, knurrte er mit zusammengepressten Kiefern.
Blaustern versuchte ihm zu helfen, aber ihr Fell war schwer, und ihre Pfoten waren zu müde, um gegen das Gewicht des Wassers ankämpfen zu können. Feuerherz’ Zähne zerrten an ihrem Nackenfell, während das Wasser sie nach unten zog.
Dann strich ein zweiter Körper an ihrem vorbei.
Einer der Hunde?
Weitere Zähne bissen in ihr Nackenfell, Pfoten packten ihre Flanken und schoben sie hoch.
Sie fühlte die kräftigen, sanften Bewegungen von Katzen um sich herum. Trug sie der SternenClan in seine Jagdgründe?
Kaum mehr bei Bewusstsein, ließ sie sich durch das Wasser ziehen, bis Kiesel gegen ihre Flanke scheuerten und sie festen Grund unter sich spürte. Pfoten und Zähne hievten sie auf das sandige Ufer und legten sie auf weiches Gras. Ihre Brust fühlte sich an, als wäre sie voller Steine, jeder Atemzug war ein Kampf. Ihre Augen brannten, sie konnte nichts sehen.
»Blaustern!«
Sie erkannte das Miauen von Nebelfuß. Was ist mit Steinfell? Ist er auch hier?
»Wir sind beide hier.« Eine kräftige Pfote drückte gegen ihre Flanke.
Eichenherz hatte recht gehabt. Ihre Jungen hatten auf sie gewartet.
Blaustern öffnete mühsam die Augen. Sie konnte vage Steinfells Gestalt erkennen. Seine breiten Schultern hoben sich dunkel vor dem grünen Hintergrund der Bäume ab. Er ähnelt so sehr seinem Vater! Nebelfuß stand neben ihm, das nasse Fell klebte an ihr.
Blaustern spürte einen Atemhauch an ihrer Wange.
»Feuerherz! Sie lebt!«, rief ihre Tochter.
Feuerherz neigte sich zu ihr hinab. »Blaustern, ich bin’s, Feuerherz. Du hast es geschafft. Du bist in Sicherheit.«
Nur ganz leise konnte Blaustern ihn hören. Sie blickte auf ihre Jungen. »Ihr habt mich gerettet«, murmelte sie.
»Schsch! Nicht sprechen!«, drängte Nebelfuß.
Aber es ist doch noch so viel zu sagen! Blaustern streckte die Schnauze vor. »Ich will euch etwas sagen … Ich möchte euch bitten, mir zu verzeihen, dass ich euch weggeschickt habe.« Sie hustete, und Wasser sprudelte auf ihre Lippen, aber sie zwang sich, weiterzureden. »Eichenherz hat mir versprochen, Grauteich würde euch eine gute Mutter sein.«
»Das war sie«, miaute Steinfell kurz.
Blaustern zuckte zusammen. »Ich verdanke Grauteich so viel.« Sie wünschte, sie hätte mehr Atem, um alles zu erklären. »Eichenherz auch, der euch ein guter Mentor war.« Warum hatte sie keine Möglichkeit gefunden, ihnen das früher zu sagen? »Ich habe euch aufwachsen sehen und weiß, wie viel ihr dem Clan, der euch adoptiert hat, geben werdet. Wenn meine Entscheidung anders ausgefallen wäre, hättet ihr eure ganze Kraft dem DonnerClan geschenkt.« Ein Schauder lief durch ihren Körper und sie rang nach Luft. »Verzeiht mir.«
Sie starrte ihre Jungen an; die Zeit schien stillzustehen, als sie sah, wie Nebelfuß und Steinfell einen unsicheren Blick tauschten. Verzeiht mir.
»Sie hat für ihre Entscheidung viel erleiden müssen«, mischte sich Feuerherz ein. »Bitte verzeiht ihr.«
Sei still! Ihre Verzeihung würde nichts bedeuten, wenn sie dazu gedrängt werden mussten.
Nebelfuß senkte den Kopf, um ihrer Mutter die Wange zu lecken. »Wir vergeben dir, Blaustern.«
»Wir vergeben dir«, wiederholte Steinfell.
Blaustern schloss die Augen, als...