Ich sterbe, also bin ich (eBook)
154 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-8187-0555-8 (ISBN)
Martin Schnick, geboren 1966 in Andernach, arbeitet als Werbetexter, Bühnen-Regisseur und Autor. Er hat Philosophie, Germanistik und Romanistik studiert in Bonn und Paris. Aktuell lebt er in Köln.
Martin Schnick, geboren 1966 in Andernach, arbeitet als Werbetexter, Bühnen-Regisseur und Autor. Er hat Philosophie, Germanistik und Romanistik studiert in Bonn und Paris. Aktuell lebt er in Köln.
SOKRATES, DER ZWEIFLER
„Kein Mensch ist weiser als Sokrates!“, verkündete einst das Orakel von Delphi. Von da an hinterfragte der 469 v.u.Z. vor den Toren Athens geborene Philosoph alle Aspekte des Lebens. Im Jahr 399 v. u. Z. wurde er in einem aufsehenerregenden Prozess zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt. Der Nachwelt gilt Sokrates als „Gottvater“ der abendländischen Philosophie.
In Athen des 5. Jahrhunderts v.u.Z. ist Sokrates vor allem eines: eine stadtbekannte Nervensäge. Seine Bühne ist der Marktplatz. Hier befragt er jeden, auf den er trifft: Handwerker, Dichter, Politiker, allesamt Profis ihres Faches. Und er löchert sie so lange, bis diese zugeben müssen, dass sie im Grunde genommen doch nichts wissen. Sokrates ist vierzig Jahre alt, als er sich der Philosophie widmet. Er ist Sohn eines Steinmetzes und einer Hebamme und hat nach dem Tod des Vaters ein kleines Vermögen geerbt, das ihm nun ein karges Auskommen sichert.
Doch was hat Sokrates dazu bewogen, sich der Philosophie zu verschreiben? Schuld trägt das Orakel von Delphi. Dieses verkündete einst, niemand sei weiser als Sokrates. Dieser Orakelspruch muss dem Athener absurd vorgekommen sein. Zwar erschließt sich ein Orakelspruch den Menschen nicht unmittelbar, aber dass das Orakel lügt, hält jeder für ausgeschlossen. Also beginnt Sokrates nachzuforschen, worin denn seine Weisheit besteht. Schnell kommt er zu der Erkenntnis: Es wird mehr behauptet als gewusst. Viele Menschen glauben lediglich gewisse Dinge zu wissen, doch er selbst ist eben darum weiser, weil er das, was er nicht weiß, auch nicht zu wissen glaubt.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, diese sokratische Selbsterkenntnis wird später zum geflügelten Wort. Nimmt man diese naiv anmutende Erkenntnis unter die Lupe, zeigt sich ein Widerspruch. Denn jemand, der weiß, dass er nichts weiß, weiß zumindest schon einmal dieses. Und dieses kleine Quantum an Wissen macht Sokrates zum Weisesten unter den Männern von Athen? Dieses Nichtwissen bildet in jedem Fall die Basis, von der aus Sokrates seine philosophischen Streifzüge startet. Um sich nicht schon vorab von vermeintlichem oder tradiertem Wissen in die Irre leiten zu lassen, macht er als erstes Tabula rasa. Ganz gleich, welche philosophische Fragestellung er mit seinen Gesprächspartnern erörtert, er fängt stets bei null an, mimt den Ahnungslosen und erweitert dann Schritt für Schritt seine Erkenntnis. Allgemeingültige Annahmen und traditionelle Weltbilder kommen auf den Prüfstand. Nicht Mythen oder Halbwissen zählen, sondern Sokrates vertraut allein dem Logos und dem gesunden Menschenverstand. Argumente werden abgewogen, anhand logischer Kriterien geprüft und für wahr oder falsch befunden. Hypothesen werden bestätigt oder verworfen allein mit den Mitteln des Verstandes. Auf diese Weise nähert er sich den Fragen nach dem Guten, Schönen oder Wahren und gewinnt Einsichten, die seinen Schüler Platon später zu seiner Ideenlehre inspirieren werden.
Was sein Äußeres betrifft, so ist Sokrates alles andere als ein Adonis. Er schielt, hat eine breite Knubbelnase und trägt einen an einen Satyr erinnernden wilden Bart. Zudem hat er den Bauchumfang eines Weinfasses. Dennoch scharen sich zahllose Schüler um ihn, einige bekunden sogar unverblümt ihr erotisches Interesse. Im Laufe der Jahrzehnte ist der Philosoph der Erzieher etlicher Athener Sprösslinge. Aber Sokrates und sein Auftreten polarisieren. Für nicht wenige ist er eine Zumutung und sie bezichtigen ihn der Wortdreherei. Sie werfen ihm vor, er mache Großes gering und Geringes groß.
Sokrates selbst hat – und das hat er gemein mit Jesus von Nazareth und Buddha – zeitlebens keine schriftlichen Werke verfasst oder hinterlassen. Dass wir dennoch so viel über diesen Begründer der abendländischen Philosophie wissen, verdanken wir zuallererst seinem Schüler Platon. Jener hat uns in unzähligen Dialogen wie „Phaidros“, „Phaidon“ oder „Symposion“ das sokratische Denken überliefert. Für Sokrates ist der Dialog wesentlich. Erst im Dialog mit seinem Gegenüber gelangt er zu neuen philosophischen Erkenntnissen. Er selbst vergleicht sein Vorgehen mit der „Maieutik“, der Hebammenkunst. Er sieht sich als Geburtshelfer, der Wahrheiten ans Tageslicht fördert.
Im Jahr 399 v.u.Z. ist Sokrates bereits 70 Jahre alt, als er sich unversehens auf der Anklagebank wiederfindet. Aber wieso wird diesem abgehobenen Philosophie-Rentner überhaupt der Prozess gemacht? Der gegen ihn erhobene Vorwurf lautet: Er betreibe „asébeia“ (wörtlich „Frevel gegen die Götter“) und er verderbe die Jugend. Doch was ist dran an diesen Vorwürfen? Betrachten wir zunächst den Anklagepunkt der Asebie. Barry B. Powell weist in seiner „Einführung in die klassische Mythologie“ zu Recht darauf hin: „In der vorchristlichen Welt war Religion nicht dasselbe wie Glaube, und sie vertrat oder verbreitete [...] keinerlei Dogmen. Wir können solche Religionen als eine Ansammlung von Bräuchen, die auf dem Glauben an unsichtbare, übermenschliche Wesen beruht, definieren.“ (Powell, 2009)
Religion zur damaligen Zeit ist vornehmlich eine Kultreligion, die zuerst die Einhaltung von Riten einfordert. Es handelt sich nicht um eine Bekenntnis- oder Glaubensreligion. Aber gegen welche Bräuche hat der Philosoph konkret verstoßen? Die Anklage bleibt diesbezüglich unpräzise und wirft ihm generelle Gottlosigkeit vor. Sokrates selbst hingegen spricht von einem Daimon, einer Art innerer göttlicher Stimme, die ihn leitet und von gewissen Taten abrät. Diese Stimme habe ihm auch davon abgeraten, in die Politik zu gehen. Der Glaube an einen „Daimon“ ist in der hellenistischen Epoche eher positiv besetzt und hat nichts Anrüchiges an sich. Die negative Konnotation des „Dämonischen“ erfährt der Begriff erst Jahrhunderte später im christlichen Abendland. (Flasch, Der Teufel und seine Engel, 2015) Es ist daher erstaunlich, dass Sokrates’ „Daimon“ die Athener derart in Rage versetzt, dass sie seinen Tod fordern.
Die Asebie-Beschuldigung erscheint nachrangig, zumal in ähnlichen Prozessen die Angeklagten mit milden Strafen davongekommen sind. Schwerer wiegt der zweite Vorwurf, wonach er die Jugend verderbe. Es ist gerade einmal vier Jahre her, dass die Terrorherrschaft der 30 die Stadt und ihre Bewohner tyrannisierte. Nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg griffen Oligarchen nach der Macht. Die acht Monate währende Schreckensherrschaft forderte über 1.500 Opfer unter der athenischen Bevölkerung und führte zu einer Massenflucht. Der Schrecken dürfte vielen Athenern noch in den Knochen stecken. Sie haben ganz sicher nicht vergessen, dass zwei der schlimmsten Tyrannen einst von Sokrates erzogen wurden. Einer von beiden war Kritias, ein Onkel Platons. Vielen Athenern ist der elitäre Club um Sokrates ein Dorn im Auge. Sie befürchten, dass dort die nächste Generation von potenziellen Oligarchen herangezüchtet wird. Obgleich Sokrates nicht mit den Oligarchen kooperierte, scheint der Vorwurf „er verderbe die Jugend“ für viele einen Prozess zu rechtfertigen – ein Prozess, der also im Kern politischer Natur ist.
In der antiken Polis obliegt die Rechtsprechung nicht einem einzelnen Richter, sondern ist eine Angelegenheit der Gemeinschaft. Insgesamt 501 Juroren haben das Urteil zu fällen. Hunderte weitere Bürger verfolgen als Schaulustige das Geschehen. Nachdem die drei Ankläger ihre Vorwürfe vorgetragen haben, erhält der Angeklagte das Wort. Drei Stunden lang wendet sich Sokrates an die Juroren und Zuhörer. Seine Devise lautet: Angriff ist die beste Verteidigung. Bereits zu Beginn bezichtigt er die Ankläger, sie seien unverschämte Lügner. Im Verlauf der Apologie kommt es wiederholt zu Tumulten. Mit welcher Verve sich der Philosoph verteidigt und mit welchem rhetorischen Geschick er die Anklagepunkte aufgreift und verwirft, das ist in Platons „Apologie des Sokrates“ nachzulesen. Doch seine Richter zu attackieren, das ist auch schon damals nicht unbedingt die beste Verteidigungsstrategie. Daher verwundert es wenig, dass am Ende das Urteil relativ deutlich ausfällt: 281 Stimmen landen in der Urne mit der Aufschrift „schuldig“, nur 220 sprechen ihn frei. Die Juroren haben sein Schicksal besiegelt. Anschließend wird das Strafmaß bestimmt: Tod durch den Schierlingsbecher. Sokrates wird also zum Selbstmord gezwungen, indem er einen Becher mit dem tödlichen Gift der Schierlingspflanze zu sich nehmen muss. Doch die Todesstrafe wird nicht sofort vollstreckt. Der Grund dafür ist ein Ritus, der dies untersagt. Sokrates‘ Freunde nutzen die dadurch gewonnene Zeit und bestechen die Wächter, um dem Philosophen die Flucht zu ermöglichen. Doch dieser winkt müde ab, denn auch schlechte Gesetze gälte es zu respektieren. Vielleicht hält ihn zudem sein hohes Alter von einer Flucht ab. Sodann naht der Zeitpunkt seiner Hinrichtung. Platon, der an diesem Tag aufgrund einer Erkrankung verhindert ist, berichtet aus zweiter Hand in seinem „Phaidon“ von den Ereignissen am Todestag. Zuerst nimmt Sokrates ein Bad, um den Frauen später eine aufwendige Leichenwäsche zu ersparen. Seine junge Frau Xanthippe nimmt Abschied mit den drei Kindern. Gemeinsam mit den anderen Frauen weint und klagt sie und wird daher weggeschickt. Dann erscheinen die Freunde Phaidon, Kebes und Simmias. Im Phaidon-Dialog dreht sich alles um die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. Sokrates ist am Tag seiner Hinrichtung heiter und zuversichtlich gestimmt, von Todesfurcht keine Spur. Seine tröstende Erkenntnis lautet:
„Tritt also der Tod den Menschen an, so stirbt, wie es scheint, das Sterbliche an ihm, das Unsterbliche aber und Unvergängliche zieht wohlbehalten ab, dem Tode aus dem...
Erscheint lt. Verlag | 28.10.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Biographie • Philosophie • Religion • Sokrates • Theorien vom Tod • Wittgestein |
ISBN-10 | 3-8187-0555-0 / 3818705550 |
ISBN-13 | 978-3-8187-0555-8 / 9783818705558 |
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Größe: 191 KB
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