Das Sündenbockkind (eBook)
140 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-4095-2 (ISBN)
Die Autorin Inke Jochims, geboren 1963, lebt als Therapeutin und Coach in Berlin. Ihr umfangreiches Wissen gibt sie heute in Online-Kursen, Büchern und Meditationen weiter. Weitere Informationen zur Autorin, ihren Büchern und Online-Kursen finden Sie unter www.jochims-buecher.de und www.jochims-methode.de. Alle Meditationen von Inke Jochims sind unter www.jochims-meditationen.de zu finden.
DIE ROLLE DES SÜNDENBOCKS
Was ist ein Sündenbock? Der Begriff “Sündenbock” bezeichnet eine Person, der die Verantwortung für die Verfehlungen, Fehler oder Missgeschicke einer anderen Person oder einer Gemeinschaft zugeschrieben wird, unabhängig davon, ob die beschuldigte Person tatsächlich schuldig ist oder ob auch andere Personen (ganz oder teilweise) verantwortlich sind.
Wenn man nach “Sündenbock” oder “Scapegoat” googelt, erhält man etwa 8,5 Millionen Antworten. Die Sündenbock-Dynamik ist eine der häufigsten Dynamiken in dysfunktionalen Familien.
Kranke Familien - das ist das Thema dieses Buches - brauchen einen Sündenbock. Sie brauchen diesen Sündenbock, um als Familie stabil zu bleiben. Sie brauchen den Sündenbock, so wie der Diktator eines Landes immer den inhaftierten Gegner braucht, um Diktator bleiben zu können. Die Drohung, was passieren könnte, wird in den Spuren der Gefolterten für alle Untergebenen sichtbar und bringt den Rest des Landes zum Schweigen.
Der Diktator wird nicht mehr attackiert. Er bleibt Diktator.
In einer menschlichen sozialen Gruppe wie der Familie gibt es Rollen, die Menschen einnehmen. In einer dysfunktionalen sozialen Gruppe - eine dysfunktionale Familie ist eine dysfunktionale soziale Gruppe - wird das stärkste Familienmitglied zur Zielscheibe. Es übernimmt die Rolle des Sündenbocks. Er wird zum Sündenbock, zum inhaftierten „Gegner”.
Nun, was ich mit “am stärksten” meine, ist, dass jede soziale Gruppe Muster der Dysfunktionalität erzeugt. Und das stärkste Mitglied ist dasjenige, das sich diesen Mustern der Dysfunktionalität widersetzt. Es ist derjenige, der sich nicht oder nicht in dem gewünschten Maße in diese Muster hineinziehen lässt.
Dieses stärkste Mitglied der Gruppe wird als das vermeintliche Problem der Gruppe oder der Familie definiert. Nachdem es als Ursache der Probleme der sozialen Gruppe beschrieben wurde, wird es zur Zielscheibe.
Das gesamte emotionale und mentale Unbehagen, das die Gruppe als Ganzes erlebt, wird auf diese Person umgeleitet und projiziert. Die Gruppe erwartet von dieser Person, dass sie ihre Ablehnung und Toxizität klaglos erträgt, damit die anderen Gruppenmitglieder an ihrer Narration festhalten können und sich nicht selbst mit ihren unangenehmen Gefühlen auseinandersetzen müssen.
Darüber hinaus sichert die Ächtung des Sündenbocks die Stabilität des Systems und sorgt dafür, dass eventuell notwendige Reformen oder Veränderungen nicht durchgeführt werden.
In diesem Buch werde ich die Dynamik der Sündenbockrolle darstellen. Warum und wie wird ein Mitglied einer kranken Familie ausgewählt, eine so destruktive Rolle zu spielen, dass diese Familienmitglieder für ihr Leben geschädigt werden und sehr oft in einer der folgenden vier Institutionen enden: Das offene Grab, die Entzugsklinik, die Psychiatrie oder das Gefängnis?
Und wieso spielt der Sündenbock mit? Auch nach seinem Ausscheiden aus dem System?
Nicht alle Sündenböcke spielen lebenslänglich mit und enden dann in einer der vier genannten Institutionen. Es gibt auch ehemalige Sündenböcke, die in keiner der vier Institutionen landen. Und dann werden sie oft große Wahrheitssucher, Wissenschaftler, Literaten, weltberühmte Therapeuten (wie Terry Real, der sich selbst als Sündenbockkind sieht) oder leider auch Menschen, die unschuldig in ein Straflager gesteckt werden, weil sie die Korruption eines Staates angeprangert haben.
Denn der Sündenbock einer Familie, einer Organisation, einer Gemeinschaft, eines Staates hat sehr oft eine besondere Fähigkeit: Er oder sie sieht die Dysfunktionalität des Systems. Er ist süchtig nach der Wahrheit, weil sie ihn retten würde. Und deshalb wird er zur Gefahr.
Der Kern der Sündenbockdynamik ist folgender: Der Sündenbock ist von Kindheit an derjenige, der die Wahrheit eines kranken Systems erkennt und möglicherweise ausspricht. Das Sündenbockkind lebt außerhalb der Realitätsblase einer kranken Familie oder eines kranken Elternteils und muss deshalb um jeden Preis kontrolliert und zum Schweigen gebracht werden.
Abbildung 1: Die Rolle des Sündenbocks und der fehlende Kontakt zur Realität
Warum ein Sündenbock?
Die Funktion des Sündenbocks ist es, eine gefährdete Beziehung zusammenzuhalten.
Einen Sündenbock gibt es in Beziehungen, die nicht mehr funktionieren, in denen es ernsthafte Probleme gibt. Ohne den Sündenbock würde die Beziehung möglicherweise zerbrechen. Der Sündenbock hat die Funktion, die Beziehung zusammenzuhalten - ob man will oder nicht.
Dies gilt für Ehen, in denen ein Kind die Rolle des Sündenbocks übernehmen muss, um eine auseinanderdriftende Ehe zusammenzuhalten. Es gilt auch für Paarbeziehungen. Ebenso wie für politische Beziehungen. Der Kern der Sündenbock-Dynamik ist: Es gibt eine Beziehung, zwischen zwei Eheleuten, einem Paar, Freunden, Bekannten, Gemeinschaften, Ländern, und diese Beziehung ist in Gefahr. Aus inneren Gründen.
In dieser Situation wird ein gemeinsamer “Feind” gewählt, der die Funktion hat, die Beziehung zusammenzuhalten, ohne dass die Partner der ursprünglichen Beziehung sich mit sich selbst und den faktischen Problemen innerhalb ihrer Beziehung auseinandersetzen müssen.
Angst vor dem Verlust einer Beziehung
Der Mensch ist eine beziehungsabhängige Spezies, wir brauchen Beziehungen, um zu überleben.
In einer Beziehung sind Überlebensinstinkt und Selbstwertgefühl oft eng miteinander verbunden. Ein Beispiel macht dies deutlich: Würde ein Baby allein im Freien liegen, wäre es völlig hilflos, da sein Überleben und seine Bedürfnisse vollständig von anderen abhängen.
Auch im Erwachsenenalter, wenn Menschen unabhängiger werden und besser für sich selbst sorgen können, bleibt eine gewisse Abhängigkeit von anderen bestehen.
Bindung ist kein Luxus, sondern eine biologische Notwendigkeit.
Der Überlebensinstinkt ist daher eng mit dem Bindungssystem verknüpft. Wenn das Selbstwertgefühl und der Überlebensinstinkt eng mit einer Beziehung verbunden sind, entsteht eine tiefe Bindung an diese andere Person.
Gerade weil Beziehungen so wichtig sind, neigen die meisten Menschen dazu, ihren Selbstwert über Beziehungen zu definieren.
Wir fühlen uns als Individuum gut, wenn wir uns in einer Beziehung gut fühlen. Dies kann bis hin zur Co-Abhängigkeit gehen, bei der der Selbstwert ausschließlich über das Wohlwollen des anderen definiert wird, man also völlig von dessen Wohlwollen abhängig ist.
Um die richtige Balance zu beschreiben, wird in der Psychologie zunehmend das Konzept der “Interdependenz” verwendet. Dieses Konzept besagt, dass wir einerseits uns selbst als Individuum brauchen und nicht völlig von anderen abhängig sein dürfen, andererseits aber anerkennen müssen, dass ein gesundes Leben von gesunden Beziehungen abhängt, und zwar ein Leben lang. Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen der Konzentration auf uns selbst und der Konzentration auf andere finden.
Ein Beispiel dafür ist das Fremdgehen. Wenn jemand betrogen wird, entsteht oft ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der Person, die betrogen hat.
Das Ego ist eng mit dem Selbstbild und dem Gefühl des sicheren Überlebens verbunden. Das Ego ist also in Beziehungen voll involviert. Der Nachteil dieser Verbindung des Egos mit dem Überlebensinstinkt ist, dass jedes Problem in der Beziehung als große Bedrohung für das Ego wahrgenommen wird.
Beziehungsprobleme können daher immense Ängste und Stress auslösen. Die Suche nach einem Sündenbock hilft, die Angst zu lindern und den Stress zu bewältigen. Der Sündenbock hat eine Schutzfunktion für die ursprünglichen Beziehungspartner, die sich möglicherweise nicht der Angst stellen können, die ausgelöst würde, wenn man sich mit den tatsächlichen Beziehungsproblemen in der Beziehung auseinandersetzen müsste.
Wenn in einer Beziehung ein Problem auftritt, ist dies eine wichtige Gelegenheit für das Ego, sich zu entwickeln und bewusster zu werden. Es ist auch eine Chance für persönliches Wachstum, mehr Klarheit über die eigenen Wünsche zu gewinnen und möglicherweise eine stärkere und erfüllendem Beziehung aufzubauen, sei es mit der aktuellen Person oder mit jemand anderem.
Oft wird dies jedoch nicht so empfunden, insbesondere wenn Ängste und Unsicherheiten aus der Kindheit in die Partnerschaft mitgebracht werden.
In der Realität wird ein Beziehungsproblem selten als Chance gesehen, zu wachsen oder eine engere Bindung aufzubauen.
Würden solche Probleme tatsächlich als Wachstumschancen wahrgenommen, hätte dies erhebliche Auswirkungen auf den Umgang mit ihnen. Man würde offener und konstruktiver mit Beziehungsproblemen...
Erscheint lt. Verlag | 22.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
ISBN-10 | 3-7693-4095-7 / 3769340957 |
ISBN-13 | 978-3-7693-4095-2 / 9783769340952 |
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