Bürgerliche Ideologie und Musik
Campus (Verlag)
978-3-593-38218-0 (ISBN)
Musikwissenschaft und Musikgeschichtsschreibung entstanden in ihrer bis heute gültigen Form im 18./19. Jahrhundert parallel mit dem sich herausbildenden Bürgertum. Der Autor geht den politischen Untertönen in den Musikgeschichten jener Zeit nach und zeigt, wie das ästhetische Urteil über Musik von zeitgenössischen Ideologien - meist unbewusst - gesteuert wurde. Er arbeitet heraus, in welch großem Maße bürgerliche Ideale wie Fortschritt und Emanzipation, Nationalismus und Moral die Musikrezeption der Zeit bestimmt haben.
Frank Hentschel, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent und Privatdozent am Musikwissenschaftlichen Seminar der FU Berlin.
Inhalt
Vorwort 9
Einleitung 10
TEIL I: URTEILSFUNDAMENT 23
1. Kapitel: Die Grenzen der Vernunft 25
1.1.Diesseits der Vernunft 25
1.1.1.Richtige Musik 26
1.1.2.Wahre Schönheit 29
1.1.3.Wahre Schönheit und richtige Musik 44
1.2.Jenseits der Vernunft 48
1.2.1.Verlust des ästhetischen Fundaments 49
1.2.2.Fortdauer des Urteils 66
1.2.3.Urteil ohne Grundlage74
2. Kapitel: Bildungsbürgerliche Autorisierung des Urteils 84
2.1.Das illegitime Urteil: Publikumsapplaus 88
2.2.Substituierung des Arguments 103
2.3.Der Musikgelehrte als Gebildeter 114
2.4.Aufwertung der Musik zum Bildungsgut 120
2.5.Verankerung der Musik im kulturellen Gedächtnis 140
2.6.Musikhistorische Autorität und Öffentlichkeit 146
TEIL II: TIEFENSTRUKTUREN158
3. Kapitel: Fortschrittsdenken und die Konsequenzen 160
3.1.Das chronozentrische Prinzip 160
3.1.1.Musikgeschichte als einfache Fortschrittsgeschichte 161
3.1.2.Historistische Irritationen von außen 168
3.1.3.Zur Methode: Relativismus und Rationalität 178
3.1.4.Historistische Irritationen von innen 187
3.1.5.Musikgeschichte als komplexe Fortschrittsgeschichte 197
3.1.6.Zur Verortung der Fluchtpunkte 208
3.2.Kulturgeschichte und Ethnozentrismus 217
3.2.1.Entzeitlichung: Chronologie und Geografie 217
3.2.2.Zerrbilder: Wilde und zivilisierte Musik 224
3.2.3.Das chronozentrische Ohr 236
3.2.4.Superioritätsdenken und kulturelle Selbstversicherung 243
3.2.5.Differenzvermutung als heuristisches Ideal 249
4. Kapitel: Musikgeschichte als Emanzipationsprozess 257
4.1.Die unmittelbaren Bedeutungen 258
4.2.Metaphorisierung 277
4.2.1.Übertragung auf die fundamentale Kulturgeschichte 278
4.2.2.Übertragung auf musikalisch-technische Elemente 285
4.2.3.Zur Konstruktion der Emanzipationsgeschichten 301
4.2.4.Unabhängigkeitserklärung der Musik: die Idee der künstlerischen Autonomie 306
4.3.Über Denkmuster 315
TEIL III: LEITMOTIVE332
5. Kapitel: Nationalismus 334
5.1.Nationalcharaktere 337
5.1.1.Ethnozentrismus und Nationalismus 337
5.1.2.Das Deutsche 340
5.1.3.Das Italienische 353
5.1.4.Nationaletiketten 356
5.1.5.Stereotypisierung 359
5.1.6.Nationalcharakter zwischen Kulturtheorie und Biologismus 372
5.2.Die Nation als Geschichtsgröße 383
5.2.1.Staffellaufmodell 384
5.2.2.Die Dialektik von Italien und Deutschland 389
5.2.3.Vollendung und Universalisierung der Musik durch Deutschland 393
5.2.4.Die Nation als Akteur der Musikgeschichte 402
5.3.Nationalstolz 406
5.4.Nation und Aristokratie 413
5.5. Nationalstereotype und Nationalstaat 416
6. Kapitel: Bürgerliche Lebensführung 427
6.1.Vor- und Gegenbilder 429
6.2.Der Zusammenhang von Musik und Moral 439
6.2.1.Das ethische Prinzip der Musik 441
6.2.2.Antike und frühes Christentum als historische Prototypen 444
6.2.3.Volkserziehung 448
6.3.Tugenden und Untugenden 453
6.3.1.Tugenden staatsbürgerlicher Stärke 453
6.3.2.Tugenden bürgerlicher Ordnung und Mäßigung 457
6.3.3.Zur Semantik der moralischen Wertbegriffe 467
6.4.Christliche Religion 473
6.4.1.Bruch und Kontinuität 474
6.4.2.Wahre Kunst 482
Ende 486
Verzeichnis der zitierten Literatur 490
1. Abkürzungen 490
2. Primärliteratur 491
3. Sekundärliteratur 502
Register 523
"Hentschel weist auf beeindruckende Art und Weise nach, welche Rolle die Musikwissenschaft zu einer Zeit, in der sie im Unterschied zu heute keinerlei Legitimationsprobleme kannte, bei der Konstituierung und Erhaltung bürgerlicher bzw. nationaler Identität spielte." (H-SOZ-U-KULT, 25.04.2009)
"Selten schlägt man ein Buch auf, das einem so rasch und klar vor Augen führt, warum es sich lohnt, mehr als 500 Seiten zu lesen." (Musikforschung, 01.03.2010)
Einleitung Das schöne Kunstwort "Dekonstruktion" vereint Zerstörung und Aufbau in sich. Ohne dass die vorliegenden Darstellungen dem Dekonstruktivismus in besonderer Weise verpflichtet wären, entfalten sie einen Prozess, der als Zweischritt einer Dekonstruktion begriffen werden kann. Sie destruieren die Musikgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts, um zugleich zu zeigen, dass diese gerade in der Gestalt, die sie von systematischer Warte aus kritisierbar macht, ihren wesentlichen Ort in Kultur und Gesellschaft ihrer Herkunftszeit besaß. Der systematisch motivierten Zerstörung des historiografischen Fundaments schließt sich daher ein Aufbau an, der streng genommen eine Rekonstruktion ist, nicht so sehr im wörtlichen Sinne eines Wiederaufbaus zwar, aber im Sinne des Versuchs, Zweck und Bedeutung der Musikgeschichten im behandelten Zeitraum zu verstehen und neuerlich nachvollziehbar zu machen. Denn solche Reparaturarbeiten werden durch die anfängliche scheinbare Zerstörungswut notwendig gemacht. Und vielleicht kann man den Prozess, der den nachfolgenden Darstellungen bald diachron, bald synchron und bald implizit, bald explizit zugrunde liegt, sogar als einen Dreischritt auffassen. Denn zumindest hintergründig geht es auch um die Konstruktion eines anderen Ansatzes von Musikgeschichtsschreibung, der diese näher an die allgemeine Historiografie heranrückt, indem er zwar nicht den Sonderstatus musikalischer Kunstwerke als ästhetischer Objekte in Zweifel zieht, wohl aber die Möglichkeit der wissenschaftlichen Durchdringung und daher auch der historiografischen Verwertbarkeit derjenigen Elemente, die diesen Sonderstatus begründen. Gerade die ästhetische Dimension der Musik, insbesondere ihre Unbegrifflichkeit, hat die Geschichtsschreibung dieser Kunst anfällig gemacht für ideologische Vereinnahmungen. Die Musikgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts können dies gut illustrieren. Das Ziel der folgenden Darstellungen besteht darin, die angedeutete Anfälligkeit mit Blick auf ihre Mechanismen und Inhalte zu analysieren, um auf diese Weise zugleich ein kritisches methodisches Bewusstsein für Musikgeschichtsschreibung zu schaffen, das mutatis mutandis auch für andere Formen der Geschichtsschreibung, insbesondere aber Historiografien der Künste gilt. Dabei wird es indes nicht so sehr nur darum gehen, die Mängel bloßzulegen, sondern zugleich auch darum, die ihnen zugrunde liegenden Triebwerke, Verstrickungen und Begründungen sichtbar werden zu lassen, das Problem also gleichzeitig aus einem bestimmten historischen Kontext heraus verständlich zu machen. Indem man sich allerdings jener Zeit zuwendet, wendet man sich auch den Wurzeln der modernen Musikgeschichtsschreibung zu. Die Analysen von Quellen des 19. Jahrhunderts sind daher untergründig immer auch Analysen der modernen Musikhistoriografie.
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2006 |
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Zusatzinfo | 1 |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 142 x 213 mm |
Gewicht | 745 g |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Musik ► Musikgeschichte |
Geisteswissenschaften ► Philosophie | |
Schlagworte | Ästhetisches Urteil • bürgerliche Identität • Bürgerliche Moral • Bürgertum • Deutschland, Musik • HC/Musik/Musikgeschichte • Musikgeschichte • Musikgeschichtsschreibung • Musikpolitik • Nationalismus • Wissenschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-38218-0 / 3593382180 |
ISBN-13 | 978-3-593-38218-0 / 9783593382180 |
Zustand | Neuware |
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