Schulter an Schulter (eBook)
352 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043126-3 (ISBN)
Prof. Dr. Christian Frevel lehrt Altes Testament an der Ruhr-Universität Bochum. Prof. Dr. René W. Dausner lehrt Systematische Theologie an der Universität Hildesheim sowie an der Leibniz Universität Hannover.
Prof. Dr. Christian Frevel lehrt Altes Testament an der Ruhr-Universität Bochum. Prof. Dr. René W. Dausner lehrt Systematische Theologie an der Universität Hildesheim sowie an der Leibniz Universität Hannover.
I. Einleitung
I.1 Schulter an Schulter – Eine Einführung
Christian Frevel und René W. Dausner
Die Idee und die Realisation des vorliegenden Studienbuches über die Bedeutung des Judentums für christliche Theologie reichen weit vor die traurige Aktualität zurück, die angesichts eines wachsenden Antisemitismus weltweit, aber nicht zuletzt auch in Deutschland zu beklagen ist. Vor dem Hintergrund eines Theologieverständnisses, das der wissenschaftlichen Erkenntnis verpflichtet ist, die konstitutive Bedeutung des Judentums für christliche Theologie herauszuarbeiten und antijüdische Traditionen zu entlarven, nahmen wir als Herausgeber die Anzeichen eines erstarkenden und zunehmend aggressiv öffentlich sich zeigenden Antisemitismus in den europäischen Gesellschaften wahr; gleichzeitig erschreckte uns das eher erlahmende Interesse der Theologie an Fragen des jüdisch-christlichen Dialogs sowie an einer Sensibilität für antijüdische Vorurteile in der eigenen Disziplin. Durch die Zunahme von antisemitischen Verschwörungsmythen in der Corona-Pandemie und noch einmal gesteigert durch den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat sich die Situation entscheidend verschärft. Ressentiments gegen in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden, unhaltbare Unterstellungen von Verschwörungen und gewaltsame Infragestellungen eines Miteinanders von Jüd:innen und Nicht-Jüd:innen wachsen exponentiell und beunruhigen die demokratische Mehrheitsgesellschaft. Die Alarmsignale sind unüberhörbar und an vielen Stellen wird zu Recht gefordert, dass die Antisemitismusprävention auf breiter Front zunehmen muss.
1. Zur Dringlichkeit der Antisemitismusprävention in der Theologie
Wir brauchen eine neue »Dringlichkeitskonferenz gegen den Antisemitismus« nicht nur aus der Mitte der Gesellschaft heraus, sondern auch aus der Mitte der Theologie heraus. Eine Konferenz unter diesem Titel fand vom 30. Juli bis 5. August 1947 im schweizerischen Seelisberg in der Nähe von Luzern statt. In den zehn einfachen Seelisberger Thesen wurden Grundlagen für eine christlich-jüdische Zusammenarbeit geschaffen, die bis heute Leitlinien darstellen. In den allermeisten Kirchen ist ein entschlossenes Auftreten gegen Antisemitismus inzwischen selbstverständlich und dafür kann man acht Jahrzehnte nach der Schoa dankbar sein. Dennoch darf das nicht – wie John Pawlikowski OSM als Präsident des Internationalen Rates der Christen und Juden 2007 formulierte – »von den eigenen Hausaufgaben ablenken.« Diese bestehen vor allem darin, bestehenden Antijudaismus in den theologischen Traditionen aufzudecken und die systemischen Ursachen theologisch zu bearbeiten. In nahezu jeder Einzeldisziplin der Theologie gibt es Verbindungen zum Judentum und zu jüdischem Denken, seien sie historisch oder systematisch. Ebenso gibt es in nahezu allen Disziplinen Antijudaismen, die mal mehr, mal weniger zutage treten. Es handelt sich um ein Querschnittsthema, dessen Bedeutung mit dem Anwachsen des Antisemitismus wächst.
1.1 Theologischen Antijudaismus benennen und lösungsorientiert bearbeiten
Trotz einer enormen Fülle an theologischer Forschung gibt es in nahezu allen theologischen Disziplinen mit Bezug auf den theologischen Antijudaismus einen Problemüberhang und ein Lösungsdefizit. Antijudaismus wird oft nur als historisches Phänomen erkannt und beschrieben. Dabei wird die tiefe Verankerung in theologischen Denkstrukturen ignoriert und kaum nach Lösungen gesucht, diese durch nicht-antijüdische Theoreme zu ersetzen. So muss z. B. die Annahme eines Offenbarungsfortschritts vom Alten zum Neuen Testament geradezu notwendig zu einer Abwertung der Tora und des Judentums führen. Demgegenüber führt die Annahme, dass sich derselbe Gott im Alten wie im Neuen Testament gleichermaßen selbst offenbart, zu einer Gleichwertigkeit der Testamente und entsprechend auch zu einer Gleichwertigkeit von Judentum und Christentum. Offenbarungstheologisch sind die Konsequenzen aus dieser Überlegung allererst noch zu erarbeiten, um die Eigenart eines christlichen Offenbarungsverständnisses nicht gegen das Judentum zu profilieren, sondern im Angesicht jüdischen Denkens, Glaubens und Handelns zu explizieren. Fest steht dabei, dass dies ohne jedes Moment der Überbietung oder Aufhebung erfolgen muss, wenn es in Verantwortung vor der Geschichte und Treue Gottes stehen will.
Zwar gibt es für nahezu alle Problembereiche inzwischen theologisch gut ausgearbeitete Vorschläge, wie strukturelle Antijudaismen in der Theologie zu überwinden sind, doch sind diese oft nicht in der Breite der theologischen Forschung angekommen. Gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der christlich-jüdische Dialog als Aufgabe und Thema der Theologie ganz entgegen der gesellschaftlichen Herausforderung in den Hintergrund getreten. In der Breite der theologischen Forschung blieben die Bearbeitung der ihren Traditionen und Denksystemen inhärenten theologischen Antijudaismen weitestgehend unbearbeitet. In der Breite der theologischen Forschung wurde dies einem kleinen Kreis von Spezialist:innen überantwortet. Auch diesbezüglich braucht es einen neuen Aufbruch in der christlichen Theologie, das Querschnittsthema theologischer Antijudaismus neu und umfassend anzugehen. Dazu ist nicht nur eine innertheologische transdisziplinäre Vernetzung notwendig, sondern auch der Einbezug der Antisemitismusforschung in den Geistes- und Kulturwissenschaften.
Angesichts der Zeitenwende, die die Kirchen in ihren Beziehungen zum Judentum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen haben und die sie als unverzichtbar für das eigene Selbstverständnis werten, ist es höchste Zeit, dass dieser Paradigmenwechsel auch Konsequenzen für eine Verhältnisbestimmung in der theologischen Wissenschaft und Ausbildung in der Breite zeitigen. Mit Blick auf das 60-jährige Jubiläum des II. Vatikanums muss dringend stärker realisiert werden, was Theologinnen und Theologen in ihrer Selbstverpflichtung bereits 2015 im Rahmen eines internationalen Kongresses in München formuliert haben: »Das Konzil trifft wegweisende Grundaussagen über das Verhältnis von Kirche und Judentum. Die Richtungsweisung und die Ergebnisse des bisherigen christlich-jüdischen Gesprächs bejaht der Kongress uneingeschränkt. Angesichts der Schuldgeschichte in Kirche und Theologie ist dies eine bleibende Verpflichtung. Wir stehen dafür ein, diese Verpflichtung in allen theologischen Disziplinen zu beachten und vertieft zu rezipieren. Wir setzen uns dafür ein, bei der Übersetzung und Interpretation biblischer und liturgischer Texte den jüdischen Kontext zu beachten und alle Formen des Antijudaismus zu vermeiden. In die Gesellschaft hinein erhebt die Theologie die Stimme gegen jede Art von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Im unerlässlichen Dialog zwischen Christentum und Islam tritt sie dafür ein, das einzigartige Verhältnis von Juden und Christen als Grundlage des christlich-muslimischen Dialogs zu beachten.« (Böttigheimer/Dausner, Das Konzil ›eröffnen‹, 26) Christlich-theologische Forschung muss die Antisemitismusprävention zu einer ihrer vordringlichsten Aufgaben machen. Sie muss ihren eigenen Beitrag und ihre eigene Rolle mit Bezug auf die Persistenz antijüdischer theologischer Denkmuster aufklären und dem ein theologisches Programm entgegenstellen, das sich nicht nur theologisch begründet gegen jeden Antisemitismus und Antijudaismus stellt, sondern ihm vorbeugt und ihn nachhaltig verhindert. Eine theologische Begründung dieser grundlegenden These ist eine der vornehmlichen Aufgaben des vorliegenden Buches.
1.2 Defizite in der theologischen Ausbildung
Der unverkennbaren Dringlichkeit steht in der theologischen Ausbildung ein eklatantes Defizit entgegen. Die Wende, die die Kirchen in ihrer Beziehung zum Judentum seit der Schoa vollzogen haben und in offiziellen Stellungnahmen immer neu bekräftigen, ist in der theologischen Ausbildung noch nicht wirklich angekommen. Kenntnisse über das Judentum unter Theologiestudierenden sind ausgesprochen gering, Erfahrungen mit dem lebendigen Judentum in Deutschland hat nur ein sehr kleiner Teil der Studierenden. Ein Austausch mit jüdischen Studierenden oder Begegnungen mit Vertreter:innen des Judentums in Deutschland scheitert meist schon an fehlenden Kontakten der Dozierenden.
Gegenüber dem Anspruch der Dokumente einer geschwisterlichen Annäherung von Jüd:innen und Christ:innen und der darin bekräftigten Lernbereitschaft, ist die Wirklichkeit der theologischen Ausbildung eher beschämend. Völlig zu recht klagt der Gemeinsame Ausschuss Kirche und Judentum der EKD in einem Thesenpapier 2019 »Einerseits wird behauptet, das Thema Judentum sei zwischenzeitlich in der Mitte der Theologie angekommen und somit allen theologischen Disziplinen in einer Weise inhärent, die einen Pflichtenkatalog oder entsprechende Pflichtveranstaltungen in den verschiedenen theologischen Studiengängen überflüssig mache. Andererseits ist es immer noch möglich, dass Studierende sich an keiner Stelle ihres Studiums (einschließlich der Examina) eingehender mit Fragen des christlich-jüdischen Verhältnisses befassen müssen.« Die Lage in den Katholisch-Theologischen Ausbildungsgängen ist nicht besser. Zwar gibt es unter den Pflichtmodulen des theologischen Vollstudiums ein Modul mit dem Titel »Das Christentum in seinem Verhältnis zum Judentum und zu anderen Religionen« und vergleichbare Lernziele werden für alle theologischen Studiengänge so oder ähnlich formuliert. De facto bleibt auch hier der Fokus religionstheologisch und das Judentum am Rande. Vielfach wird es zudem den unbestreitbaren Notwendigkeiten des christlich-islamischen...
Erscheint lt. Verlag | 16.10.2024 |
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Co-Autor | Verena Lenzen, Markus Tiwald, Michael Tilly, Elisabeth Birnbaum, Hanna Liss, Görge Hasselhoff, Paul Petzel, Benedikt Kranemann, Ulrike Offenberg, Klaus Wengst, Marianne Grohmann, Christian M. Rutishauser, Gregor Maria Hoff, Michael Bongardt, Eliah Sakakushev-von Bismarck, Jan Woppowa, Barbara Schmitz, Axel Töllner, Clemens A. F. Leonhard, René Buchholz, Sara Han, Valesca Baert-Knoll, Ilse Müllner, Dirk Ansorge, Steffen Götze, Katharina Heyden, Bernd Schröder, Rainer Kampling, Dani Kranz, Susanne Talabardon, Reinhold Boschki, Christian Wiese, Daniel Krochmalnik, Hans-Ulrich Weidemann |
Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Christian Frevel, Gisela Muschiol, Ulrich Riegel, Dorothea Sattler, Hans-Ulrich Weidemann |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | Christentum • Christlich-jüdischer Dialog • Jüdischer Glaube • Theologiegeschichte • Theologiestudium |
ISBN-10 | 3-17-043126-9 / 3170431269 |
ISBN-13 | 978-3-17-043126-3 / 9783170431263 |
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Größe: 1,4 MB
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