Präsentisches Verstehen (eBook)
324 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4671-4 (ISBN)
Volker Schürmann ist Univ.-Professor für Philosophie an der Deutschen Sporthochschule Köln und forscht u. a. zum Sport in der medialen Moderne, zur Philosophischen Anthropologie, Hermeneutik und Praxisphilosophie. Von 2017 bis 2023 war er Präsident der Helmuth Plessner Gesellschaft.
Volker Schürmann ist Univ.-Professor für Philosophie an der Deutschen Sporthochschule Köln und forscht u.a. zum Sport in der medialen Moderne, zur Philosophischen Anthropologie, Hermeneutik und Praxisphilosophie. Er ist Mitherausgeber der »Enzyklopädie Philosophie«.
1. Ein Raster der Hermeneutik
Es geht in diesem Kapitel um eine vorab orientierende Skizze dessen, was Hermeneutik meint, was es nicht meint, warum es eine Hermeneutik sportlicher Bewegungen braucht, und nicht zuletzt, was Sinn und Bedeutung meint und auch nicht meint. Das Buch insgesamt möchte den Unterschied zwischen Verstehen und Erklären bestimmen. Ich beantworte also die Frage von Odo Marquard (1979) nach der Frage, auf die die Hermeneutik eine Antwort sein will, wie folgt: Inwiefern stellt sich die Frage nach einem Verstehen, im Unterschied zu einem Erklären, und was ist Hermeneutik als Antwort auf die Frage nach dem Verstehen?
1.1 Vorgriff
Auch diese Suche braucht eine Vororientierung. Diese liegt hier in der titelwortartigen Auskunft – also einer »rein appellative[n] Nennung[] einer ansonsten schon als praktisch bekannt unterstellten Praxis- oder Handlungsform« (Stekeler-Weithofer 2010b: 271)1 –, Hermeneutik sei die Lehre vom Sinn-Verstehen. Darin liegt eine erste, minimale Operationalisierung des Verstehens: Verstehbar sind Sinngebilde und nicht verstehbar sind Phänomene, die entweder keine Sinngebilde sind oder aber im je konkreten Vollzug ihres Begreifens nicht als Sinngebilde genommen werden – was immer genau ›Sinn‹ hier meinen mag.
Damit ist in jener titelwortartigen Auskunft schon eingeschlossen, dass der Terminus Verstehen doppeldeutig ist. Zum einen wird er jenen (spontanen oder methodisch kontrollierten) Vorgang bezeichnen, den bestimmten Sinn eines bestimmten Sinngebildes zu »verstehen«, also den mit einem Sinngebilde gegebenen Sinn zu verstehen(1), gleichbedeutend: ihn auszulegen oder zu interpretieren – salopp gesprochen: den Sinn wieder für uns aus dem vorliegenden Sinngebilde herauszubekommen. Die Vorbedingung, nicht lediglich Voraussetzung (»Präsupposition«; vgl. Stekeler-Weithofer 2010a) eines solchen Vorgangs des Sinn-Interpretierens ist, dass es sich um ein Sinngebilde handelt – genauso salopp gesprochen: dass tatsächlich Sinn drin steckt, den es dann ggf. verstehend(1) herauszubekommen gilt. Um zu verstehen(1), darf man sich nicht in der Adresse geirrt haben, muss also schon verstanden(2) haben, es überhaupt mit einem Sinngebilde zu tun zu haben. Verstehen(2) ist daher die differenzierende Grundoperation, ein zu begreifendes Phänomen überhaupt als Sinngebilde zu verstehen(2) und nicht etwa als Nicht-Sinngebilde zu nehmen. Diese Doppeldeutigkeit ist der Begriffsgeschichte von Hermeneutik eingepflanzt. Hermes, einem der Namenspatrone der Hermeneutik, wäre es nicht »eingefallen, fremde Rede zu deuten; er teilt mit (oder verbirgt). Denn er ist der Sprecher, nicht der Hörer von Zeichen.« (Borsche 1995: 241)
Ob es an einem Gewitter etwas zu verstehen(1) gibt, ist nicht von vornherein klar; aber immerhin ist die Annahme, auch ein Gewitter könne ein Sinngebilde sein, gelegentlich Anlass von unterschwelliger oder auch offener Polemik: Die Zeiten seien doch nun wohl endgültig vorbei, in denen ein Gewitter noch als Strafe der Götter galt; heute könne man doch wissen, dass ein Gewitter »keinen Sinn habe«. So anachronistisch das Beispiel sein mag: Die grundsätzlich eingehende verstehende(2) Differenzoperation, etwas als Sinngebilde zu nehmen oder aber gerade nicht, ist omnipräsent – etwa bei der Frage, ob es am Tier-Mensch-Vergleich diesseits oder jenseits aller evolutionsbiologischen Befunde noch etwas zu verstehen gebe.
Weil die Hermeneutik als Lehre vom Sinn-Verstehen diese Doppeldeutigkeit der Rede von Verstehen nicht los wird, ist es erreichter Stand ihrer Begriffsgeschichte, zwischen einer erkenntnistheoretisch-methodologischen und einer philosophischen Hermeneutik zu unterscheiden.2
Das Historische Wörterbuch der Philosophie baut die Doppeldeutigkeit bereits explizit, mit Bezug auf Hermes, in seinen titelwortartigen Vorgriff ein: Hermeneutik sei »die Kunst des […] Verkündens, Dolmetschens, Erklärens und Auslegens« (Gadamer 1974: 1061). Hans-Georg Gadamer macht dann die entscheidende, explizit gewordene Binnendifferenzierung der Hermeneutik an Martin Heidegger fest: »Hier war ein Punkt erreicht, an dem sich der instrumentalistische Methodensinn des hermeneutischen Phänomens ins Ontologische kehren mußte. Verstehen ist hier nicht mehr ein Verhalten des menschlichen Denkens unter anderen, sondern die Grundbewegtheit des menschlichen Daseins« (ebd. 1067). Im Lichte dieses begriffsgeschichtlichen Schritts erwies und erweist sich »die psychologische Grundlage« jeder bloß methodologischen Hermeneutik »als problematisch« (ebd.). Oder in die andere Richtung: Jede Verkürzung der Hermeneutik um die ›philosophische‹ Hermeneutik kann jetzt darum wissen, »in subjektivistischer Problemverengung befangen« zu bleiben (ebd. 1068).3
Die Enzyklopädie Philosophie kennt und benennt die Differenzierung in methodologische und philosophische Hermeneutik, macht daraus aber sogleich eine Ausgrenzung der philosophischen Hermeneutik aus dem Bereich, der unter dem Namen Hermeneutik »interessiert«. Hermeneutik sei »eine Theorie des Verstehens und eine Methodenlehre der Auslegung v. a. von gesprochener Rede oder schriftlich fixiertem Text« (Bühler 2010: 988). Verstehen sei dabei »eine der Aktivitäten«, die »symbolverwendende Wesen« charakterisieren (ebd.) – also als methodologische Hermeneutik gerade nicht eine philosophische Charakterisierung symbolverwendender Wesen. »Von dieser traditionellen Bedeutung« – also »seit dem 17. Jahrhundert«, ohne jede Bezugnahme auf den noch traditionelleren Hermes – müsse man die Rede von »Philosophischer Hermeneutik« unterscheiden. Diese Rede sei eine (gleichsam exotische) Spezialverwendung bei Heidegger und Gadamer, die »zunächst nichts mit der erkennenden Beziehung zu anderen Personen und deren Hervorbringungen zu tun« habe und insofern nicht weiter interessiere. Ob bzw. wo es dann doch »relevant sein könnte« für eine methodologische Hermeneutik, entscheidet der Verfasser jenes Artikels (ebd.). Dieselbe Enzyklopädie schlägt im Artikel ›Verstehen‹ in dieselbe Kerbe: »›Verstehen‹ ist ein Schlüsselbegriff der allgemeinen Erkenntnistheorie.« (Scholz 2010: 2905) Im Abschnitt Philosophische Hermeneutik wird wörterbuchmäßig korrekt notiert, dass es so etwas (bei Heidegger und Gadamer) auch gibt – Verstehen »als fundamentales ›Existential‹« (ebd. 2906). Da dort aber betont werde, dass »Verstehen als Erkenntnisform« ein »abgeleitetes Phänomen« gegenüber jenem fundamentalen ›Verstehen‹ sei (ebd.), sei gleichsam klar, dass eine so verstandene Philosophische Hermeneutik nur dem Label, nicht aber der Sache nach zur Hermeneutik gehöre. Dieser Exklusionsgestus manifestiert sich dort nicht in der offenen Bekundung, nicht weiter zu interessieren, sondern wird, wörterbuchmäßig korrekt, in der Auskunft festgehalten, dass die notwendigen Konsequenzen einer solchen philosophischen Hermeneutik »lebhafte Diskussionen und heftige Kritik aus[lösten]« (ebd.). Hermeneutik so entschieden in der Erkenntnistheorie zu verorten, entsorgt aber nicht nur jene »fundamentale«, die sogenannte ontologische Dimension des Verstehens, sondern macht auch auf den feinen Unterschied zwischen methodisch und methodologisch aufmerksam. Verstehen ist nämlich selbst keine Methode, sondern nimmt ggf. Methoden in Gebrauch, die jedoch ihrerseits ganz heterogen sind, also gar keine einheitliche Methode bilden (vgl. ebd. 2905). Auch für eine erkenntnistheoretische Hermeneutik ist also klar, dass der Gebrauch hermeneutischer Methoden nicht »mit der Verstehensleistung selbst verwechselt werden sollte« (ebd.). Gleichwohl ist eine erkenntnistheoretische Hermeneutik im obigen Sinne eine methodologische Hermeneutik, als es ihr ausschließlich darum geht, unterschiedliche Klassen von Objekten zu verstehen(1), also deren Verstehensgehalt (richtig) herauszubekommen. Dabei müsse man jedoch zwei Fälle unterscheiden, nämlich das Verstehen(1a) als »eine bewusste und zielgerichtete Tätigkeit« und das Verstehen(1b) als »unmittelbares Verstehen, das sich empraktisch in einer angemessenen Anschlusshandlung manifestiert« (ebd. 2096 f.). Diese berechtigte Sorge darum, wie das Verstehen funktioniert – wie man es sozusagen anstellt, richtig zu verstehen(1) –, ist und bleibt unbekümmert um Gadamers Frage »Wie ist Verstehen möglich?« (zit. ebd. 2906) bzw. begreift nicht, dass es zwei verschiedene Sorgen sind.
Die Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften differenziert im Artikel ›Erklären/Verstehen‹ (Schreiter 1990a) trotz aller Verweise auf Heidegger und Gadamer gar nicht zwischen einem erkenntnistheoretisch-methodologischen und einem philosophischen Verstehen; der Artikel ›Hermeneutik‹ (Schreiter 1990b) stellt sie als »bürgerliche«...
Erscheint lt. Verlag | 16.9.2024 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Hermeneutik • Phänomenologie • Sportphilosophie |
ISBN-10 | 3-7873-4671-6 / 3787346716 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4671-4 / 9783787346714 |
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