Wie der Vogel wohnt (eBook)
250 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-1004-3 (ISBN)
Vinciane Despret, 1959 im belgischen Anderlecht geboren, ist Professorin für Wissenschaftsphilosophie an den Universitäten Liège und Brüssel. Gemeinsam mit Isabelle Stengers, bei der sie 1997 promovierte, und Bruno Latour verfolgt sie das Ziel, Wissenschaftlern auf ihren Feldern und in ihrer Praxis zu folgen und zu verstehen, wie sie ihre Studienobjekte interessant machen. So untersuchte sie das Verhalten u. a. von Verhaltensforschern in Neuseeland und Israel. Im Jahr 2021 erhielt sie den Moron-Preis der Académie française für ihr Gesamtwerk.
Vinciane Despret, 1959 im belgischen Anderlecht geboren, ist Professorin für Wissenschaftsphilosophie an den Universitäten Liège und Brüssel. Gemeinsam mit Isabelle Stengers, bei der sie 1997 promovierte, und Bruno Latour verfolgt sie das Ziel, Wissenschaftlern auf ihren Feldern und in ihrer Praxis zu folgen und zu verstehen, wie sie ihre Studienobjekte interessant machen. So untersuchte sie das Verhalten u. a. von Verhaltensforschern in Neuseeland und Israel. Im Jahr 2021 erhielt sie den Moron-Preis der Académie française für ihr Gesamtwerk. Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray. 2021 erhielt sie den renommierten Prix Lémanique de la traduction. Baptiste Morizot, 1983 geboren, ist Schriftsteller und lehrt Philosophie an der Universität Aix-Marseille. Zuletzt auf Deutsch (Reclam): Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen.
Kapitel 1
Territorien
Unicum arbustum haud alit Duos erithacos
(Ein Baum beherbergt nicht zwei Rotkehlchen)
Zenodotos von Ephesos (3. Jahrhundert v. Chr.)
Diese Verwandlung beschäftigte, ja, beeindruckte die Wissenschaftler. Wie können Vögel, die im Winter zum Teil ruhig zusammenleben, einträchtig miteinander fliegen, gemeinsam nach Nahrung suchen und sich nur manchmal über offenbar bedeutungslose Kleinigkeiten zanken, plötzlich komplett ihr Verhalten ändern? Sie ziehen sich voneinander zurück, suchen sich einen Ort und singen von ihren exponierten Sitzwarten aus unaufhörlich. Sie scheinen die Anwesenheit ihrer Artgenossen nicht mehr zu ertragen und überlassen sich einem ungezügelten Droh- und Angriffsverhalten, wenn einer von ihnen eine für unsere Augen unsichtbare Linie missachtet, die einer präzisen Grenzziehung zu entsprechen scheint. Ihr merkwürdiges Verhalten wirkt verblüffend, insbesondere ihre Aggressivität, ihre entschlossenen und kampflustigen Reaktionen auf die anderen, vor allem das, was man später als »Luxus« ihrer Gesänge und Posituren bezeichnen sollte – Farben, Tänze, Flugverhalten, Bewegungen: Alles ist spektakulär, alles ist Stoff für eine Theatralisierung. Dazu kommt die nicht minder verblüffende Routine des Nistverhaltens. 1920 beschreibt Henry Eliot Howard die Territorialisierung einer männlichen Rohrammer, die er in der Nähe seines Hauses in der Region Worcestershire beobachtet. Der Vogel nistet in der Sumpflandschaft an einer mit Erlen und Weiden bestandenen Stelle. Theoretisch könnte ihm ein beliebiger Baum zum Überwachen der Umgebung dienen, doch die Rohrammer sucht sich einen ganz bestimmten aus, der zum wichtigsten Punkt des beanspruchten Raums wird, zu ihrem, wie Howard sagt, »Hauptquartier«, dem Sitz, von dem aus sie singend ihre Anwesenheit kundtut, die Bewegungen ihrer Nachbarn verfolgt und nach Nahrung sucht. Mit der Zeit lässt sich eine regelrechte Routine beobachten, die stets von der Reviermitte ausgeht: Der Vogel fliegt von seinem Baum auf, lässt sich in einiger Entfernung auf einem Gebüsch nieder, dann auf einer noch weiter entfernteren Binse, bevor er wieder auf seinen Baum zurückkehrt. Er absolviert alle Strecken mit einer bemerkenswerten Regelmäßigkeit. Diese Wiederholungsbewegungen stecken nach und nach sein Territorium ab.
Natürlich sind auch andere Beschreibungen möglich. Sie ließen nicht lange auf sich warten, denn Howard gab den Anstoß zu einer ganzen Forschungsrichtung, als deren Gründungsvater er angesehen wurde. Sein 1920 erschienenes Buch Territory in Bird Life bietet nicht nur präzise Beschreibungen, sondern darüber hinaus eine kohärente Theorie, mit der sich seine Beobachtungen einordnen lassen: Die Vögel sichern sich ein Territorium, in dem sie sich paaren, ihr Nest bauen, ihre Jungen beschützen und ausreichend Nahrung für ihre Brut finden.
Es sei vorausgeschickt, dass Howard kein Wissenschaftler war, sondern ein begeisterter Naturforscher, der jeden Morgen mehrere Stunden mit der Beobachtung von Vögeln verbrachte, bevor er zur Arbeit aufbrach. Dennoch sollte die Wissenschaft seine Ideen aufgreifen. Nach Howards Verständnis ist das Territorium ein geeignetes Forschungsobjekt: Es erklärt sich aus den »Funktionen«, die es für das Überleben der Art erfüllt. Die Ornithologen sprechen im Übrigen von einer »präterritorialen« Phase, um das Feld der theoretischen Ansätze vor Howard zu markieren. Dabei ist Howard nicht der Erste, der das territoriale Verhalten mit den Erfordernissen der Fortpflanzung verknüpft. Zwei andere Autoren waren ihm darin vorausgegangen: zum einen der deutsche Zoologe Bernard Altum, der bereits 1868 eine ausgefeilte Theorie des Territoriums entwickelt hatte, allerdings in einem Buch, das erst sehr viel später übersetzt werden sollte; zum anderen ein weiterer Vogelliebhaber, der Journalist Charles Moffat, dessen 1903 in einer obskuren irischen Zeitschrift (Irish Naturalists’ Journal) veröffentlichte Forschungen keine Beachtung in der Wissenschaft finden sollten. Howard hingegen wurde von den englischen und amerikanischen Ornithologen als erster Autor anerkannt, der eine detaillierte und einheitliche Theorie auf ein bisher nur von ungewissen Hypothesen beherrschtes Feld anwandte.1 Im Folgenden war er für die rasche Verbreitung einer neuen Methode verantwortlich: die Geschichte individueller Vogelleben. Bemerkenswerterweise handelte es sich hier ausdrücklich um das Leben von Vögeln, denn bis dato hatten viele Ornithologen und Liebhaber die Vögel zu Studienzwecken vor allem getötet oder ihnen zum Aufbau von Sammlungen oder mit Klassifizierungsabsichten ihre Eier weggenommen.
Was die Forschung als »präterritoriale Phase« der Territorialtheorie bezeichnet, meint also die Tatsache, dass die Beobachtungen bislang eher bruchstückhaft waren und einer soliden theoretischen Grundlage entbehrten. Das eingangs zitierte Sprichwort des Zenodotos sollte so zum Beispiel später in der Annahme, dass Rotkehlchen gerne allein seien, wiederaufgenommen werden. Bereits vor ihm hatte Aristoteles in seiner Historia animalium die Beobachtung angestellt, dass Tiere – hier die Adler – den Raum zu ihrer Nahrungsversorgung verteidigten, und außerdem bemerkt, dass an manchen Orten mit spärlicher Nahrung nur ein Paar Raben lebte.
Für andere scheint das Territorium vor allem an die Rivalität der Männchen geknüpft zu sein. Der verteidigte Raum würde dem Männchen entweder die Exklusivität des dort angesiedelten Weibchens sichern oder ihm zumindest einen bevorzugten Platz zum Werben bieten, an dem es singen und balzen kann, um eine mögliche Partnerin anzulocken. So lautet eine von Moffats Hypothesen. In diesem Fall entspräche das Territorium also weniger einem Raum als einem Komplex unterschiedlicher Verhaltensweisen.
Man ahnt bereits, dass der Hypothese des einsamkeitsliebenden Rotkehlchens der Sprung in die Wissenschaft nicht gelingen sollte. Die Annahme hingegen, dass der Vogel sich mit seinem Revier den exklusiven Zugriff auf die lebensnotwendigen Ressourcen sichert, erfreute sich bei vielen Ornithologen lange großer Beliebtheit. Die (besonders von Darwin bevorzugte) These eines Territoriums, das an einen Wettstreit um die Weibchen geknüpft ist, prägte wiederum nachhaltig die präterritoriale Szene. So umstritten sie auch ist, wurde sie nie ganz aufgegeben und tauchte noch häufig in naturwissenschaftlichen Schriften auf – möglicherweise hatten manche ein Faible für das dramatische Potenzial der Rivalität, während sich andere (gelegentlich dieselben) offenbar nicht von der Idee freimachen konnten, dass die Weibchen den Männchen als Ressourcen dienten. Dabei hatte Howard die Hypothese des männlichen Rivalitätsverhaltens heftig angefochten, weil sie einigen seiner Beobachtungen widersprach. Sie habe sich seiner Meinung nach nur so lange halten können, wie man die Konflikte allein den Männchen zuschrieb. Dabei, argumentiert er weiter, kämpften bei manchen Arten durchaus auch Weibchen gegen Weibchen oder Paare gegen Paare, ja bisweilen könne ein Paar sogar ein einzelnes Männchen oder Weibchen angreifen. Und wie sei zu verstehen, dass bei Arten, die ihre Brutplätze anderswo aufsuchen, die Männchen oft vor den Weibchen eintreffen und sofort ein feindliches Verhalten an den Tag legen? Trotz allem bleibt das Revierverhalten eine männliche Angelegenheit: Wenn die Weibchen sich genauso verhalten und sich isolieren würden, käme es nie zu einer Begegnung, schreibt Howard.
Die Vorstellung, dass Vögel sich Lebensorte einrichten und deren Exklusivität schützen, ist also nicht neu, wie Aristoteles, Zenodotos und manche ihrer Nachfolger bezeugten. Der Begriff »Territorium« kommt bei ihnen indes nicht vor. In Bezug auf Vögel sollte er sich erst im 17. Jahrhundert durchsetzen. In dem Überblick, den die amerikanische Ornithologin Margaret Morse Nice 1941 diesem Begriff widmet, siedelt sie ihn erstmals in einem 1678 erschienenen englischsprachigen Buch an, The Ornithology of Francis Willughby von John Ray (1627–1705), dessen Autor sich auf die Forschungen seines Freundes Francis Willughby (1635–1672) bezieht. Im Hinblick auf die Nachtigall zitiert Ray einen anderen Autor, Giovanni Pietro Olina, der 1622 in Rom die vogelkundliche Abhandlung Uccelliera, ovvero, Discorso della natura, e proprietà di diversi uccelli veröffentlichte. Darin schildert er, auf welch unterschiedliche Arten man Vögel fangen und pflegen kann, um eine Vogelzucht zu betreiben: »Wie Olina schreibt, ist es die Eigentümlichkeit dieses Vogels, einen Ort zu vereinnahmen oder in Beschlag zu nehmen, den er als sein Eigentum betrachtet und an dem er außer seiner Partnerin keine andere Nachtigall duldet.« Ray zufolge erwähne Olina außerdem die Tatsache, dass »es für die Nachtigall charakteristisch ist, keinen anderen Gefährten an ihrem Lebensort zu ertragen und...
Erscheint lt. Verlag | 31.10.2024 |
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Nachwort | Baptiste Morizot |
Übersetzer | Nicola Denis |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Anthropozän • Ethologie • Nature writing • Naturwissenschaft • Naturwissenschaftler • Ornithologie • Philosophie • Territorium • Verhaltensforschung • Vögel • Wissenschaftsphilosophie |
ISBN-10 | 3-7518-1004-8 / 3751810048 |
ISBN-13 | 978-3-7518-1004-3 / 9783751810043 |
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