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TEXT + KRITIK 244 - Judith Schalansky -

TEXT + KRITIK 244 - Judith Schalansky (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
107 Seiten
edition text + kritik (Verlag)
978-3-96707-977-7 (ISBN)
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Mit ihrem 'Atlas der abgelegenen Inseln', dem Roman 'Der Hals der Giraffe' und dem 'Verzeichnis einiger Verluste' gelangte Judith Schalansky ins Zentrum der literarischen Öffentlichkeit. Materialität, Naturerfahrung und Geschichtlichkeit sind wesentliche Ankerpunkte ihres Schaffens, das sich nicht auf das Schreiben von Texten beschränkt, sondern das Buch als visuelles und haptisches Medium begreift. Die Gestaltungsverfahren der Buchgestalterin interagieren auf das Engste mit Erzählweisen, die kontinuierlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit oszillieren und dabei eigene Erfahrungen integrieren, ohne sich auf das rein Biografische zu beschränken. Das Heft deutet Schalanskys Werk als vielschichtige Vergegenwärtigung von Temporalität, der Mensch und Natur gleichermaßen unterworfen sind. Davon ausgehend entfaltet es sowohl übergreifende auch exemplarische Perspektiven auf ihre wichtigsten künstlerischen Handlungsfelder, dem Schreiben, Gestalten und Herausgeben von Büchern.

Lilla Balint ist Assistant Professor of German in the Department of German an der University of California, Berkeley. Leonhard Herrmann ist Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Allgemeine Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Leipzig.

Lilla Balint ist Assistant Professor of German in the Department of German an der University of California, Berkeley. Leonhard Herrmann ist Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Allgemeine Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Leipzig.

Alexander Honold:
Werden im Vergehen. Naturpoetik als Bildungsgeschichte

Gabriele Dürbeck
Nature Writing als kulturelle Zeugenschaft. Schalanskys Essay "Hafen von Greifswald"

Caroline Schaumann
"Das Darwin stirbt aus!" Judith Schalanskys Werke im Spiegel der Extinction Studies

Ulrike Vedder
Judith Schalanskys Kipppunkte und ihre Ästhetik

Carola Hilmes
"Wo Gefahr ist, darf die Literatur nicht schweigen." Der kultur- und ökokritische Essay "Schwankende Kanarien"

Andreas Platthaus
Fraktur reden. Zum Gestaltungswillen von Judith Schalansky

Barbara Kosta
Sehnsucht nach Weite. Judith Schalanskys "Blau steht dir nicht. Matrosenroman"

Philip Ajouri
Die Poetik des Buchs und der Buchgestaltung

Jackie Smith
Judith Schalansky übersetzen

Lilla Balint / Leonhard Herrmann
Doppelte Autorschaft. Ein Gespräch mit Judith Schalansky

Carlotta Djajadisastra
Forschungsbibliografie Judith Schalansky

Notizen

Gabriele Dürbeck

Nature Writing als kulturelle Zeugenschaft
Schalanskys Essay »Hafen von Greifswald«


Obwohl es eine lange angloamerikanische Tradition des Nature Writing gibt, hat diese Kategorie erst in der Folge der Strömung des New Nature Writing seit Mitte der 2000er Jahre begonnen, sich auch in der deutschsprachigen Literatur, Literaturwissenschaft und Öffentlichkeit durchzusetzen. Einen wesentlichen Anteil daran hat die von Judith Schalansky 2013 begründete und mitherausgegebene bibliophile Reihe »Naturkunden« im Matthes & Seitz Verlag Berlin, die derzeit bereits 100 Bände zählt. Ziel bei der Gründung der Reihe war es, Tierporträts zu veröffentlichen, aber »auch das Genre Nature Writing im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen«.1 Die »Naturkunden« publizieren neben ins Deutsche übersetzten Klassikern des Nature Writing reich illustrierte Bücher über die Natur, über Fauna und Flora, Pilze, Flechten, Moose und Schleim wie auch Steine und Mineralien, die durch die Darstellung ›zum Sprechen gebracht werden‹ sollen. Schalansky versteht die Bücher als »eine Art Archiv«, die nach Möglichkeit »auch in 500 Jahren noch gelesen werden« sollen.2

Ebenfalls von Matthes & Seitz Berlin wurde 2017 in Kooperation mit dem Umweltbundesamt und der Stiftung Kunst und Natur der »Deutsche Preis für Nature Writing« begründet.3 Bei der trefflichen Wahl der ersten Preisträgerin Marion Poschmann war Schalansky Mitglied der Jury. Die Laudatio auf Poschmann von Jürgen Goldstein4 und die Preisrede der Autorin5 haben bereits zentrale Merkmale eines deutschsprachigen Nature Writing formuliert.6 Dass sich die Strömung des Nature Writing im letzten Jahrzehnt auch im deutschsprachigen Raum so fruchtbar entwickelt, ist nicht zuletzt auf die Dringlichkeit zurückzuführen, die der Diskurs über Natur und die Klimakrise in der Gesellschaft erreicht hat. Charakteristisch für das deutschsprachige Nature Writing ist, so viel lässt sich hier vorausschicken, eine genaue, wissensbasierte Beschreibung von Naturphänomenen, es wirft einen neuen Blick auf Natur als bereits kulturell geprägte Umwelt und versteht Literatur als Mittel, im Bewusstsein der planetaren Umweltzerstörung wieder eine ästhetische Verbindung zur Natur herzustellen, eine Sprache der Resonanz zu finden und eine ethisch reflektierte Haltung zu erproben.

Zur Tradition des Nature Writing und seiner Erneuerung durch die Umweltkrise


Ausgehend von Gilbert Whites »Natural History of Selborne« (1789) und Henry David Thoreaus »Walden«(1854) hat sich eine sowohl empiristisch ausgerichtete als auch spirituell-transzendentalistische Tradition des Nature Writing etabliert. Für das amerikanische Nature Writing nennt Thomas Lyons drei Kriterien: »natural history information, personal responses to nature and philosophical interpretation of nature«.7 Inspiriert von ›wilder‹ und erhabener Natur und spektakulären Landschaften war das amerikanische Nature Writing im 19. und frühen 20. Jahrhundert oft von nostalgisch-eskapistischen Fantasien wie auch »nationalistic conventions«8 geprägt, mitunter begleitet von männlich-heroischer Selbstinszenierung. Wegen seiner elitistischen, ethno- und androzentrischen Tendenzen ist sogar provokativ nach dem Tod des Genres gefragt worden.9 Dennoch gewann das Genre nach Rachel Carsons berühmtem Umweltessay »Silent Spring« (1962), der die amerikanische Umweltbewegung mitinitiierte, seit den 1980er Jahren verstärkt an neuer Popularität und begünstigte mit »konvergenten Trends«10 die Entwicklung des US-amerikanischen Ecocriticism. Nach einer Hochphase in den 1990er Jahren wurde das Genre schließlich der breiteren Kategorie der Umweltliteratur (environmental literature) subsumiert.

Vor dem Hintergrund der globalen Klimakrise hat sich um die Jahrtausendwende im britischen Literaturbetrieb die sehr fruchtbare Strömung des New Nature Writing (NNW) beziehungsweise des British Nature Writing herausgebildet, wo es seit Mitte der 2000er Jahre eine »renaissance«11 erlebt. Das NNW wendet sich gegen den immer wieder erhobenen Vorwurf eines nostalgisch-elitären Eskapismus, nimmt Stimmen ethnischer Minderheiten auf, weitet die Erkundung von Natur auf urbane Orte und postindustrielle Brachlandschaften aus und reflektiert ökologische Fragen angesichts planetarer Herausforderungen.12 Laut Robert Macfarlane – selbst ein prominenter Vertreter des British Nature Writing mit Bestsellern wie »Wild Places« (2007), »Landmarks« (2015) oder »Underland. A Deep Time Journey« (2019) – speist sich diese neue Strömung von einer »Sehnsucht nach Wildnis« und wird von der »Umwelt- und Klimakrise energetisiert«.13 Mit einer nicht unumstrittenen Beschwörung des Wilden beziehungsweise von Wildnis,14 die auch in der Großstadtbrache auffindbar sei, hebt es sich von der amerikanischen Traditionslinie ab. Die Erweiterung des Genres zeigt sich zudem in der formalen Bestimmung. So ist das NNW keineswegs auf nicht-fiktionale Literatur begrenzt, sondern ist durch »originality and playfulness with form«15 charakterisiert und experimentiert mit vielfältigen Formen und Genres. Diese richten sich, so Jason Cowley, auf »the discovery of exoticism in the familiar, the extraordinary in the ordinary«.16 Gleichwohl herrschen weiterhin nicht- oder semifiktionale Texte wie Reisebericht, Autobiografie, naturgeschichtliche und populärwissenschaftliche Essays und oft eine Mischung aus diesen Formen vor.17

Deutschsprachiges Nature Writing, Resonanz und ›Protestenergie‹


Besonders die ästhetische Offenheit und ökologische Reflexion des NNW sind anschlussfähig für die vielfältigen Formen des Nature Writing in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, deren Verbindungen zur längeren angloamerikanischen Tradition bislang kaum wahrgenommen wurden. Dennoch kann gezeigt werden, dass es eine viel längere, wenn auch unterbrochene Traditionslinie des Nature Writing seit Goethe und Alexander von Humboldt gibt.18 Mit Bezug zu Humboldt, Handke und W. G. Sebald spricht Simone Schröder vom »Naturessay« als ökologischem Genre: Er ist durch die Trias »Deskription, Introspektion und Reflexion« charakterisiert und verknüpft »wissenschaftliche, subjektiv-emotionale und ethische Inhalte«.19 Zudem lassen sich fruchtbare Beziehungen zwischen Thoreau und weiteren deutschsprachigen Autoren wie Hölderlin, Stifter, Fontane, Lehmann und Jünger finden,20 während sich etwa Schalansky auf die »Bescheidenheit Gilbert Whites« bezieht.21

Dass ein deutschsprachiges Nature Writing erst so spät Fuß zu fassen beginnt, dürfte ganz unterschiedliche Gründe haben. Nature Writing galt lange als non-fiktionales, essayistisches Genre ohne literarische Ansprüche; noch heute werden im deutschen Buchhandel Titel über Natur tendenziell der Kategorie des Sachbuchs zugeordnet.22 Außerdem war Naturbetrachtung im deutschen Sprachraum durch eine naturphilosophische Traditionslinie von Kant, Goethe, Novalis, Schelling und Alexander von Humboldt geprägt,23 die »spezifische geisteswissenschaftlichen Diskursdominanzen«24 befördert hat, aber kaum zum angloamerikanischen Nature Writing in Bezug gesetzt wurde. Zugleich besteht eine eigene deutsche Tradition der aufklärerischen Naturgeschichte(n) auf Grundlage der Naturforscher Linné und Buffon mit Höhepunkten wie der Begründung der Ökologie durch Ernst Haeckel und den populär ausgerichteten naturkundlichen Texten Wilhelm Bölsches25 im späten 19. Jahrhundert bis hin zu den magischen Naturgeschichten eines Ernst Jünger oder Ludwig Klages und den fragmentiert-kritischen Naturgeschichten von W. G. Sebald.26 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Nature Writing auch deshalb suspekt, weil, so Bernhard Malkmus, »der Nationalsozialismus mit seiner Blut- und Boden-Ideologie den sprachlichen Nährboden für ein Schreiben über das Verhältnis zwischen Mensch und Natur kontaminiert hat«.27 Vermutlich gibt es noch weitere Gründe als die spezifische naturphilosophische und naturgeschichtliche Diskurstradition, den historischen Bruch, eine schwierige Bindung an die ›Heimat‹28 und die Favorisierung autonomieästhetischer Literatur, die für die zögerliche Aufnahme des Nature Writing im deutschen Sprachraum verantwortlich sind.

Doch mit einem stärker transnationalen Verständnis von Literatur, einer phänomenologisch,29 literaturgeschichtlich30 und poetologisch31 ausgerichteten Begründung des deutschen Nature Writing sowie einer gezielten Verlagspolitik seitens Matthes & Seitz Berlin und dem gleichnamigen Preis scheint das Genre auch hierzulande anzukommen. Jürgen Goldstein bestimmt Nature Writing als »Haltung« der »Aufmerksamkeit«, als »das achtsame Schreiben über die eigenen Erfahrungen in der Natur« und betont die »sprachgeleitete Schule der Aufmerksamkeit für eine Entdeckung des Sichtbaren, aber Übersehenen«.32 Dies kommt der bereits zitierten Bestimmung des NNW Cowleys nahe, womit der Blick für das Lokale, Alltägliche und Vertraute aufgewertet wird. Poschmann spricht in ihrem Laubwerk-Essay von der Methode des »Deep Mapping« als der genauen Beobachtung besonderer Naturphänomene in einer überschaubaren Zeitspanne, bei der sich an der »Einzelheit […] die Größe der Welt«33 zeige.

Vor diesem Hintergrund lässt sich Schalanskys Auseinandersetzung mit Nature Writing durch ihre Herausgeberschaft der »Naturkunden«-Reihe, ihre eigenen Texte und poetologischen Aussagen näher...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2024
Reihe/Serie TEXT + KRITIK
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Schlagworte atlas der abgelegenen Inseln • Der Hals der Giraffe • Geschichtlichkeit • Materialität • Naturerfahrung • Verzeichnis einiger Verluste
ISBN-10 3-96707-977-5 / 3967079775
ISBN-13 978-3-96707-977-7 / 9783967079777
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