Die einfachste Psychotherapie der Welt (eBook)
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01803-7 (ISBN)
PD Dr. Maggie Schauer ist eine der führenden Expertinnen in Deutschland für Traumabehandlung. Sie lehrt als Privatdozentin für Klinische Psychologie an der Universität Konstanz und war jahrzehntelang die Leiterin des Kompetenzzentrums «Psychotraumatologie», das am Zentrum für Psychiatrie Reichenau angesiedelt ist. Schauer ist Gründungsmitglied und ehemalige Präsidentin der NGO vivo international, die traumatischen Stress überwinden und verhindern hilft. Zusammen mit den Kollegen Thomas Elbert und Frank Neuner hat sie die Narrative Expositionstherapie NET entwickelt. Sie forscht und arbeitet vor allem mit mehrfach- und komplex traumatisierten Menschen und ihren Helfern weltweit.
Nataly Bleuel hat als (Wissenschafts-)Journalistin für DIE ZEIT u.a. preisgekrönte Reportagen und Bücher über Gesundheit geschrieben und arbeitet auch auf Grundlage der Narrativen Expositionstherapie in ihrer Heilpraxis für Psychotherapie in Berlin. PD Dr. Maggie Schauer ist eine der führenden Expertinnen in Deutschland für Traumabehandlung. Sie lehrt als Privatdozentin für Klinische Psychologie an der Universität Konstanz und war jahrzehntelang die Leiterin des Kompetenzzentrums «Psychotraumatologie», das am Zentrum für Psychiatrie Reichenau angesiedelt ist. Schauer ist Gründungsmitglied und ehemalige Präsidentin der NGO vivo international, die traumatischen Stress überwinden und verhindern hilft. Zusammen mit den Kollegen Thomas Elbert und Frank Neuner hat sie die Narrative Expositionstherapie NET entwickelt. Sie forscht und arbeitet vor allem mit mehrfach- und komplex traumatisierten Menschen und ihren Helfern weltweit.
Ganz normale Leben: Begegnungen mit Trauma
Täglich suchen unzählige Menschen Hilfe bei Ärzten und Psychotherapeuten, etwa weil sie in alltäglichen Situationen, beim Einkaufen, im Bus oder bei der Arbeit urplötzlich von Angst überwältigt werden. Ihr Herz beginnt zu hämmern und bedrohliche Gefühle dämmern an, manchmal begleitet von inneren Bildern. Die Betroffenen fühlen sich zutiefst hilflos. Das kann Jahre, Jahrzehnte oder sogar ein Leben lang so gehen, und die Umgebung ahnt nicht, wie schrecklich ein solcher Kontrollverlust ist. Die Betroffenen leiden unter einer Traumafolgestörung. Doch ein traumatischer Hintergrund wird bei diesen Menschen oft nicht vermutet.
Das Wort «Trauma» stammt vom altgriechischen Begriff τραῦμα, der «Wunde» bedeutet. Im medizinischen Kontext bezeichnet es die Schädigung eines Körperteils durch äußere Gewalteinwirkung. Psychologisch wird der Begriff Trauma verwendet, um eine seelische Verletzung zu beschreiben, die durch einschneidende und – wie es lange Zeit fälschlicherweise (!) hieß – nur durch außergewöhnlich belastende Ereignisse hervorgerufen wird. «Außergewöhnlich» sind schreckliche Naturkatastrophen, Großschadensereignisse oder extrem seltene, lebensbedrohliche Situationen. Wie das Attentat von Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 in einem riesigen Sattelschlepper über den Weihnachtsmarkt des Berliner Breitscheidplatzes gerast war, ganze Buden als Waffe vor sich herschiebend. Das Letzte, was die hilflose Frau, die dort gegen 20 Uhr erfasst wurde und zu Boden ging, noch sah, bevor sie das Bewusstsein verlor, waren das Gesicht und die Augen des Mannes in der Fahrerkabine. «Ich wollte ihm ins Gesicht sehen, um seine Absicht zu erkennen», erzählte sie mir später. Eine Absicht, die bei dem tunesischen Gewalttäter schon Jahrzehnte zuvor angelegt worden war. Er hatte in seiner Kindheit und Jugend viel Gewalt erfahren und auch selbst mehrfach und immer brutaler ausgeübt, bevor er den Tod von 13 Menschen verursachte.
Die Beine der jungen Mutter heilten langsam, Schmerzen hat sie nur noch selten. Doch ihre damals einjährige Tochter wurde verhaltensauffällig. Plötzlich getrennt von der Mama, die wochenlang in verschiedenen Kliniken lag, weinte das Kleinkind viel, schlief schlecht und zeigte bei genauerer Untersuchung ein gestörtes Bindungsverhalten.
Der Bundespräsident lud alle Überlebenden nach Schloss Bellevue ein, ein Zeichen der Verbundenheit von höchster Stelle. Soziale Unterstützung kann helfen, ein Trauma zu überwinden. Aber es gibt unzählige Nachbeben und Folgereaktionen, es bleiben tiefe Wunden beim Einzelnen und im Land. Dies gilt vor allem für die 56 Menschen, die damals vor der Gedächtniskirche verletzt wurden. Weil das Miterleben schlimmer Erfahrungen genauso traumatisierend sein kann wie eine direkte Verletzung. Noch Jahre und Jahrzehnte später leiden zufällige Zeugen und Hinterbliebene unter den Folgen traumatischer Ereignisse – und tragen diese Erfahrung in ihre Beziehungen mit Familienmitgliedern, Freunden, Arbeitskollegen.
Ein Firmenchef, der am Geburtstag seiner Frau zum Bummeln und Einkaufen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt gewesen war, gestand im Gespräch, dass er seither bei Stress am Fließband schneller wütend werde und auch schon Mitarbeiterinnen entlassen habe.
Sehr häufig entstehen Traumatisierungen aber auch durch verletzende Worte in der Kindheit, durch soziale Demütigung und Ausgrenzung, durch leise, schreckliche Gewalt, die im Dunkelfeld stattfindet, wie sexueller Missbrauch und emotionale Vernachlässigung, und durch die vielen bedrohlichen Momente von Hilflosigkeit und starker Angst. In westlichen Kulturen hat über ein Drittel der Menschen Erlebnisse in mehreren solcher Bereiche. Das ist ganz und gar nicht außerhalb des Gewohnten, und doch können sich Körper und Geist nicht daran gewöhnen. Vielmehr entwickeln sich unsägliche Folgen.
Um uns der Thematik zu nähern, müssen wir dabei stets zwei Aspekte im Auge behalten: Erstens sind wir alle schon mehr oder weniger mit Trauma in Berührung gekommen. Und zweitens sind traumatisierte Menschen in den meisten Fällen eher gefährdet als gefährlich.
Meine Großmutter war eine unerschrockene Frau. Während des Krieges wartete sie mit ihren drei kleinen Kindern jahrelang auf ihren Mann. Die Familie bangte, hoffte und versteckte sich mit einem Leiterwagen voller Einmachgläser in den Hügeln der Umgebung. Selbst einen gezielten Fliegerangriff auf die Lokomotive, die direkt hinter dem Gartenzaun der Familie ihre dampfende Kurve zog, überlebten alle gut. Meine Mutter, damals noch ein kleines Kind, konnte vom Balkon aus den Piloten im Cockpit aus nächster Nähe sehen. Trotz des Schocks blieb sie ein lebhaftes und aufgewecktes Mädchen. Sie war von Geschwistern und anderen Kindern umgeben, die das Kriegsende und die Besatzungszeit eher als Abenteuer erlebten. Sie bemerkte weder Panik noch Hilflosigkeit, denn die Kriegsgräuel kamen ihr danach nicht noch einmal zu nahe. Damals wurden die Kinder so oft es ging zu Verwandten aufs Land geschickt. Dort gab es genug zu essen, Natur, einen geregelten Tagesablauf und viele bodenständige, authentische Menschen, die wie Pflöcke in der Erde waren, an denen man sich festhalten konnte. Auch das beschreiben Lehrbücher als hilfreich für die psychische Gesundheit. Zudem konnte sich meine Mutter immer an den lieben Gott wenden und an die Kühe im Stall, denen sie Geschichten erzählte und vorsang.
Erst beim Tod eines Verwandten, deren liebstes Enkelkind sie war, wurde ihr mit einem Mal sehr unheimlich. Man schob sie mit ihrer Schleife im Haar nach vorne ans Sterbebett, der Sterbende hatte nach ihr verlangt. Aber das Kind verstand nicht, wie ein kleines Mädchen in der letzten Stunde so wichtig sein konnte. Unsere Mutter hat uns diese Geschichte später oft erzählt. Das Miterleben eines natürlichen Todes wird klinisch nicht als potenziell traumatisierend eingestuft; nur gewaltsame Morde oder der Anblick grotesk entstellter Leichen sind als schockierend gekennzeichnet. Doch als meine Mutter das Röcheln und die letzten Worte des Sterbenden hörte, fühlte sie sich überfordert. Mit einem Mal erkannte das Kind, was Tod bedeutet. Und dass es das war, was bei dem Fliegerangriff mir ihr hätte passieren können. Sie behielt das Entsetzen für sich. Und es war damals auch nicht üblich, mit den Kindern über solche Erlebnisse zu sprechen.
Als die Väter dann endlich aus den Gefangenschaften zurückkehrten und in ihren langen Drillichmänteln und mit Bärten auf die Kinder herabsahen, flüsterten die Buben und Mädchen ihren Müttern zu: «Schick den fremden Mann weg, Mutti!» Auch so begann, und beginnt, in vielen Familien der Weg in eine Traumageschichte.
Nach dem Krieg gab es «Choleriker». Das wusste jeder. Als Kind glaubte ich immer, das sei etwas Angeborenes. Erst später begriff ich, dass das keine Persönlichkeitseigenschaft ist, sondern eine schmerzliche Folge von Überwältigung. Und dass es nicht nur die Versehrten betraf, denen ein Arm oder ein Bein fehlte; die zogen sich oft zurück und suchten Erleichterung im Alkohol. Viel explosiver waren die nicht sichtbaren, die seelischen Verletzungen. Männer und Frauen konnten sehr gereizt und laut werden, wenn sie müde waren, wenn der Hunger Erinnerungen auslöste oder Bilder aus dem Krieg in ihnen aufstiegen. Man musste ihre Mimik, ihre Stimmungen schnell lesen, um zu wissen, wann es losging.
Im Erhebungsbogen unserer Konstanzer Traumaambulanz stehen zur Kindheit unter anderem die Fragen: «Gab es eine erwachsene Bezugsperson, die schwer zufriedenzustellen war?», «War einer der im Haushalt lebenden Erwachsenen reizbar und schnell wütend?» oder «Gab es in Ihrer Herkunftsfamilie Geheimnisse, über die geschwiegen wurde?» Diese ständige Angst, wenn etwas in der Luft liegt. Sie lässt unsere Stressachse – also den Austausch zwischen Hirn und Hormonsystem, der unsere körperlichen Funktionen reguliert – nicht zur Ruhe kommen. Alles verändert sich: Stimmung, Gefühle genauso wie Herz-Kreislauf, Verdauung oder selbst das Immunsystem. Wenn die Eltern nicht zur Ruhe kommen, können Kinder, die in ihrem Radius aufwachsen, das Gefühl von Anspannung nicht ablegen. Nicht umsonst wird Trauma genauer als «traumatischer Stress» bezeichnet.
Ein Kleinkind kann sich bereits an bis zu acht Personen binden. In der Psychologie gilt die Regel, dass eine einzige Person – eine real erreichbare, liebevolle Bezugsperson, deren Augenstern man ist – ausreicht, um psychisch gesund aus der Kindheit hervorzugehen.
Viele unserer Patientinnen jedoch berichten, dass sie als Kinder lieber allein waren. Dass sie sich unwohl fühlten, wenn die Erwachsenen im selben Raum waren oder sie ansahen. Entsprechend lauten weitere wichtige Fragen der Anamnese: «Konnten Sie sich wohlfühlen und entspannen, wenn Vater oder Mutter Ihnen körperlich nahe waren? Haben Ihre Eltern Sie liebevoll wahrgenommen?»
Kindheitserfahrungen – noch ganz andere als diese – spielen, wie wir später noch genauer sehen werden, bei Traumatisierung eine zentrale Rolle.
Kürzlich, bei einem Fachkongress, brach zu unser aller Entsetzen ein japanischer Wissenschaftler zusammen und wurde kurzfristig bewusstlos. Als er am Boden lag und ein anwesender Krankenpfleger, der schon in vielen Krisenlagen gearbeitet hatte, sich zusammen mit mir über den Mann beugte, stieg aus dessen Mund unverkennbar der süßliche Geruch...
Erscheint lt. Verlag | 13.8.2024 |
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Co-Autor | Nataly Bleuel |
Zusatzinfo | Mit 15 s/w-Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Alkoholismus • Angststörung • autoaggressionen • Bessel van der Kolk • Flucht • Flüchtlingslager • Folter • Gewalt • Heilung • Kindesmisshandlung • Kriegstrauma • Missbrauch • Missbrauchsopfer • Misshandlung • Narrative Expositionstherapie • net • Neuropsychologie • Panikattacken • Posttraumatischen Belastungsstörung • Psychotraumatologie • PTBS • Seele • Sexueller Missbrauch • Sucht • Trauma • Traumabewältigung • Traumaforschung • Traumatherapie • Traumatisierung • Vergewaltigung |
ISBN-10 | 3-644-01803-0 / 3644018030 |
ISBN-13 | 978-3-644-01803-7 / 9783644018037 |
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