Therapeut werden (eBook)
160 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-12342-5 (ISBN)
Gerd Rudolf, Prof. Dr. med. em., Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Bis 2004 Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg. Mitbegründer der OPD und Sprecher der OPD-Achse »Struktur«. Hauptarbeitsgebiete: Konzeptbildung, empirische Therapieforschung (psychoanalytische Langzeittherapie) und Qualitätssicherung im Bereich der psychodynamischen Psychotherapien. 2004 Auszeichnung mit dem Heigl-Preis für seine Verdienste um die Psychotherapie und Psychosomatik in Deutschland. Bis dato supervisorisch tätig für psychodynamische Psychotherapien.
Gerd Rudolf, Prof. Dr. med. em., Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Bis 2004 Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg. Mitbegründer der OPD und Sprecher der OPD-Achse »Struktur«. Hauptarbeitsgebiete: Konzeptbildung, empirische Therapieforschung (psychoanalytische Langzeittherapie) und Qualitätssicherung im Bereich der psychodynamischen Psychotherapien. 2004 Auszeichnung mit dem Heigl-Preis für seine Verdienste um die Psychotherapie und Psychosomatik in Deutschland. Bis dato supervisorisch tätig für psychodynamische Psychotherapien.
1 Frühe Erfahrungen
Vom Reisen und Schreiben
»Ich würde sehr gern mein Leben in den letzten Jahren mit Selbstbetrachtung beschließen, und wenn ich die letzten sage, so ist es nur, weil man den Faden am besten da aufnimmt, wo man ihn als abgesponnen ansehen kann«, schreibt Wilhelm von Humboldt 1818.
Für das vorliegende Büchlein, das, geschrieben im fortgeschrittenen Alter, nun mein letztes sein soll, habe ich mir vorgenommen, meinen Leserinnen und Lesern persönlicher zu begegnen als in früheren, weitgehend sachbezogenen Schriften.
Menschen machen sich gelegentlich, vor allem, wenn sie älter werden, Gedanken über den aktuellen Stand ihres Lebens. Zwangsläufig gleiten ihre Erinnerungen zurück, Ereignisse aus ihrer Vergangenheit treten in den Vordergrund. Aus der zeitlichen Abfolge werden ursächliche Zusammenhänge abgeleitet. Freilich bleibt ein Rest von Zweifeln, ob das alles wirklich zutrifft oder erst im Nachhinein so ordentlich zurechtgelegt wurde.
Das Nachhinein beginnt heute bei vielen Berufstätigen mit 65 Jahren, da werden sie verabschiedet und entlassen. Manche fühlen sich erleichtert, aber auch als nicht mehr zugehörig. Ich erinnere mich meiner gelegentlichen Versuche, nach erfolgter Berentung an Tagungen oder universitären Konferenzen teilzunehmen, und an das dabei erlebte zunehmende Unbehagen. Dabei hatten wir selbst in jungen Jahren teils ehrfürchtig zugehört, teils überheblich gelächelt, wenn ein deutlich Älterer bei einer solchen Sitzung das Wort ergriff und in gehobenem Deutsch und spürbar engagiert, für oder gegen etwas Stellung bezog. Er sprach gleichsam aus der Position eines Großvaters, den wir mochten und respektierten, der aber zugleich aus einer anderen Zeit und einer früheren Welt stammte, sodass er eigentlich nicht mehr zu denen gehörte, die heute das Sagen haben.
Auch mein Lebensfaden ist inzwischen weitgehend abgesponnen – wie weit, das weiß man, Gott sei Dank, selbst nicht genau. Da meldet sich der Wunsch, am Ende der verfügbaren Zeit und aus der Distanz heraus noch einmal auf die Reise des Lebens zurückzublicken. Der Schreiber hat heute den Eindruck, er könne jetzt vielleicht manches besser verstehen als früher und er könne nun den Mut aufbringen, sich über vieles auch persönlich zu äußern. Von einem Naturwissenschaftler würde man das nicht oder nur begrenzt erwarten, für einen Psycho-Experten, sei er Psychiater, Psychologe oder Psychotherapeut, ist eine solche Reflexion des eigenen Lebens »Selbst-verständlich«, denn anders wäre ein diagnostisches und erst recht ein therapeutisches Verständnis anderer Menschen unvollständig oder gar nicht möglich.
Psychisches lässt sich nicht ohne das Ernstnehmen des subjektiven, persönlichen Erlebens sichtbar machen, das gilt nicht nur für Patienten. Dem steht der verständliche Wunsch entgegen, Persönliches vor den kritischen Blicken anderer zu schützen. So wird dieser Text unterschiedliche thematische Akzente haben: Einen Schwerpunkt bilden die Erinnerungen an die Lebensbedingungen der Kindheit und Jugend, die durch Krieg und Nachkriegszeit das Erwachsenwerden prägten und dem Heranwachsenden sehr spezielle Muster des Erlebens und Verhaltens aufprägten. Sie lassen ein starkes Verlangen erkennen, die Welt zu erfahren und sich so naiv auf sie einzulassen, dass man gelegentlich auch mit Sorge auf ihn blickt.
Reisende haben eine Unruhe im Leib, die sie immer wieder drängt, aufzubrechen und sich auf den Weg zu machen. Schreibende hingegen brauchen Geduld und Sitzfleisch, um das, was sie beschäftigt, zur Sprache zu bringen. Beide Aktivitäten haben etwas Selbstverständliches und ungemein Erfreuliches, das nicht in Alternativen erlebt wird. Da stellt sich die Frage, wie beides von einer Person realisiert werden kann.
Wie kann es jemandem gelingen, nach einer unruhigen Kindheit und einer turbulenten Jugend zur Ruhe zu kommen und eine Produktivität zu entwickeln, mit der er in der gesellschaftlichen und speziell der beruflichen Gemeinschaft seinen Platz findet? Der vorliegende Text ist der Versuch einer rückblickenden Bilanzierung, die so viel Einblick geben soll, wie zum Verständnis dieses Lebens und Schaffens notwendig ist, und zugleich der berichtenden Person und seinen Angehörigen ein gewisses Maß an Schutz gewährt.
Das Reisen und das Arbeiten werden zwei bedeutsame Themen sein. Ich erinnere mich an einen zwanghaften Patienten, der beschlossen hatte, bis zu seinem 60. Geburtstag durchzuarbeiten, sich danach auszahlen zu lassen und fortan die Welt zu bereisen. Ein Jahr vor diesem Zeitpunkt wurde er krank, man diagnostizierte eine Krebserkrankung und begann mit Behandlungsversuchen. Ich sah ihn in tief deprimierter Verfassung. Er starb einige Monate später, ohne etwas von der Welt gesehen zu haben. In der umgekehrten Variante ist jemand womöglich lebenslang unruhig unterwegs und stellt sich vor, sich eines Tages an Menschen und Aufgaben zu binden – was aber wahrscheinlich nie verwirklicht wird.
Wenn wir hier das Reisen und das Schreiben einander gegenüberstellen, haben wir es mit unterschiedlichen Zeitmaßen zu tun. Man kann eine faszinierende Reise in wenigen Tagen realisieren und ist danach voll von Eindrücken, die über lange Zeit lebendig bleiben. Hingegen kann die Fertigstellung einer anspruchsvollen künstlerischen oder wissenschaftlichen Arbeit Jahre in Anspruch nehmen, ohne dass diese Anstrengung als quälende Belastung erlebt wird. Es gehört zu unseren gesellschaftlichen Gepflogenheiten, dass die meisten Menschen längere Arbeitszeiten und kürzere Urlaube haben. Sie erzählen gern von der Ausnahmesituation ihrer Reisen und seltener von ihrem Arbeitsalltag, es sei denn, dass ihre Arbeit narzisstisch besetzt ist, weil dabei künstlerische, technische oder wissenschaftliche Produkte von allgemeinem Interesse entstehen. So werden Erfahrungen des Reisens und solche des Schreibens in den folgenden Ausführungen immer wieder eine wesentliche Rolle spielen.
Wie in meinem vorausgehenden Buch (»Dimensionen psychotherapeutischen Handelns«, 2023) hoffe ich, auch in dem folgenden Text, manches mit meiner Kollegin Anne diskutieren und es damit gleichsam von außen betrachten zu können. Manche LeserInnen haben mich wissen lassen, dass sie sich dadurch besonders angesprochen fühlten.
»Liebe Anne, es freut mich sehr, dass Du Dich bereit erklärt hast, auch in diesem Vorhaben mitzuwirken, und dass ich Deine Anmerkungen in das entstehende Büchlein hineinnehmen darf. Es hatte sich beim letzten Mal so ergeben und gefiel uns im Nachhinein. Es waren insbesondere LeserInnen, die mich in Zuschriften darauf aufmerksam machten, dass Deine Aussagen aus weiblicher Perspektive für sie eine wichtige Ergänzung bedeuteten. Du bist ja inzwischen keine therapeutische Anfängerin mehr, sodass ich als altgewordener Therapeut Deine Unterstützung gern in Anspruch nehme, wenn es gilt, Episoden dieses Buches besser verständlich werden zu lassen, für heute liebe Grüße und vielen Dank, Dein G.«
Anne: »Gerne! Ich bin gespannt darauf!«
Sich selbst verstehen
Wenn es gilt, eine körperliche Erkrankung medizinisch-diagnostisch abzuklären und zu behandeln, ist das auch mit eingeschränkter Beteiligung des Patienten möglich. Die Verantwortung für das diagnostische und therapeutische Geschehen liegt dann weitgehend bei den behandelnden Ärzten. Die Kennzeichnung des Kranken als »Patient« (lat. patiens – der/die Leidende bzw. Geduldige) verweist auf die Rolle derer, die sich einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme gleichsam unterwerfen und deren Behandlung medizinisch oft ohne eigenes Zutun (zum Beispiel in Narkose) durchgeführt werden kann, bevor sie schließlich selbst wieder die Verantwortung für ihre Genesung übernehmen müssen.
Auch die Psychotherapie bemüht sich darum, psychisch belasteten Menschen oder solchen, die eine therapeutische Selbsterfahrung suchen, einen Einblick in die eigene Persönlichkeit und Lebensgeschichte zu ermöglichen und sie in einer eventuell notwendigen Neuorientierung zu unterstützen. Psychotherapie-Patienten sind dabei nicht die passiv Erleidenden, vielmehr sind sie es, die aktiv werden müssen: in sich hineinhören, ihre eigenen Empfindungen, Bedürfnisse, Erinnerungen in Worte fassen, sie ihrer Therapeutin, ihrem Therapeuten mitteilen und sie gemeinsam betrachten, um sie zu verstehen. Es erfordert auf beiden Seiten ein erhebliches Maß an Motiviertheit und Ausdauer, um sich auf ein solches diagnostisches und therapeutisches Verfahren einzulassen und für eine ausreichend lange Zeit dabeizubleiben.
Das, was Patienten in ihrer Therapie berichten, kann ihrer erlebten sozialen Wirklichkeit entstammen, es können aber auch Wunschvorstellungen, Befürchtungen oder Träume sein, d. h. Aspekte ihrer inneren Wirklichkeit und ihres subjektiven Erlebens. Psychotherapie sucht in diesen Berichten die Wirklichkeit des Patienten-Selbst, seine Entwicklungsgeschichte bzw. Sozialgeschichte und vor allem die vielfältigen und häufig auch widersprüchlichen Aspekte seines inneren Erlebens und seiner sozialen Beziehungen. Es geht um das biographisch gewachsene Selbst einer Frau oder eines Mannes und um die dahinterliegenden, immer noch wirksamen Anteile eines jugendlichen oder kindlichen Selbst in der Entwicklungsgeschichte des eigenen Lebens. Von großer therapeutischer Bedeutung ist dabei die zu lernende Unterscheidung zwischen dem gelebten realen Selbst und den Ansprüchen des Selbstideals: wer ich gern wäre und wie ich tatsächlich bin.
Der Blick auf die eigene lebensgeschichtliche Erfahrung und Entwicklung, auf die Wünsche und Sehnsüchte des bisherigen Lebens lässt nach und nach die Grundmuster eines...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2024 |
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Reihe/Serie | Wissen & Leben |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Beruf Psychotherapeut • Kriegskinder • Lebenserinnerungen Gerd Rudolf • Lebensweg Psychotherapeut • Männerbilder • OPD • OPD-2 • Persönlichkeitsstruktur • Psychosomatik • Psychotherapeutische Erfahrung • strukturbezogene Psychotherapie • Supervision • Vater sein • Weisheit • Weisheit Psychotherapeut • Weisheit Psychotherapie • Wie wird man Psychotherapeut |
ISBN-10 | 3-608-12342-3 / 3608123423 |
ISBN-13 | 978-3-608-12342-5 / 9783608123425 |
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