Der Bürgerkrieg in Lateinamerika (eBook)
193 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45668-3 (ISBN)
Michael Riekenberg ist emeritierter Professor für Vergleichende Geschichtswissenschaft und Geschichte Lateinamerikas an der Universität Leipzig. Er gilt als einer der führenden Gewaltforscher zur Geschichte Lateinamerikas.
Michael Riekenberg ist emeritierter Professor für Vergleichende Geschichtswissenschaft und Geschichte Lateinamerikas an der Universität Leipzig. Er gilt als einer der führenden Gewaltforscher zur Geschichte Lateinamerikas.
Der Irrtum des Regenwalds
Fragen wir nach einem Anfang für die Geschichte, die ich in diesem Buch erzählen will, so haben wir ihn im Regenwald zu suchen. Denn dort, im Regenwald, nahm die moderne Theorie des Bürgerkriegs ihren Ausgang – paradoxerweise, wie man wohl wird hinzufügen müssen. Denn nichts hat der Bürgerkrieg mit dem Regenwald zu tun. Aber schauen wir als Erstes zurück: in das frühe 16. Jahrhundert, als den Geographen und Kartographen in den westeuropäischen Seestädten und Handelszentren zur Gewissheit wurde, dass Christoph Kolumbus entgegen seiner ursprünglichen Absicht nicht nach Indien gefahren war, sondern einen neuen Erdteil entdeckt hatte. Für diesen musste nun ein Name gefunden werden; schließlich werden Dinge uns erst wirklich, wenn wir sie benennen. Und wie es damals in der Bezeichnung der Kontinente üblich war, gab man diesem Namen eine weibliche Fassung. Angelehnt war diese an den Namen des Florentiner Kaufmanns und Seefahrers Amerigo Vespucci, der die Ostküste Südamerikas bereist und in seinem berühmten Reisebericht Mundus Novus von 1502/03 davon Zeugnis abgelegt hatte.
So war fortan von »die America« die Rede, wenn es in den gelehrten Darstellungen der Europäer um die Neue Welt ging. Aber während »die Europa« in der Bildersprache der damaligen Zeit eine liebliche Gestalt war, benannt nach einer sagenhaften phönizischen Prinzessin, war die America in den Allegorien und der graphischen Kunst eine barbarische Figur (vgl. Kohl 2009). Verantwortlich dafür waren die ersten Reiseberichte von der Küste Brasiliens, die seit dem frühen 16. Jahrhundert nach Europa gelangten und die von kriegerischen Amazonen und von der Menschenfresserei der Regenwaldindianer erzählten. In den bekannten Drucken des französischen Kupferstechers Étienne Delaune oder seines flämischen Kollegen Adriaen Collaert, die im späten 16. Jahrhundert entstanden, war die America eine mit Pfeil und Bogen bewaffnete Figur, die oft einen abgeschlagenen Kopf in der Hand hielt. Eine wahre Kreatur der Gewalt war dies, dem Regenwald und den fiebrigen Phantasien seiner europäischen Betrachter entstiegen.
Mit Blick auf den Bürgerkrieg und das, was Menschen in ihren Gedanken und Empfindungen mit ihm verbinden, ist diese Geschichte nicht ohne Belang. Denn niemand Geringeres als der politische Philosoph Thomas Hobbes griff diese Bilderwelt auf und nutzte sie in seiner berühmten Schrift Leviathan (1651) für die Begründung einer Theorie von Staat und Bürgerkrieg. Darin stellte Thomas Hobbes die staatliche Ordnung dem Naturzustand des Menschen gegenüber, von dem er wenig hielt. Im Naturzustand würden die Menschen nur in ewiger Zwietracht leben, schrieb er, und einander wie die Wölfe zerfleischen. Dies sei ein elender Zustand, den Hobbes ausdrücklich mit dem des Bürgerkriegs gleichsetzte. Erst durch die Hervorbringung einer überlegenen, souveränen Macht, die ein Gewaltmonopol erringt, dem Staat eben, sei es möglich, den Naturzustand der Gesellschaft zu überwinden und dadurch zugleich die Drohung eines beständigen Bürgerkriegs vom Menschen abzuwenden.
Dieser Naturzustand, von dem er schrieb, war für Thomas Hobbes keineswegs ein bloßes Gedankenexperiment, am Schreibtisch oder im Spiel der Phantasie ersonnen. Er sah ihn vielmehr empirisch belegt, nämlich im Leben der Indianer in Amerika verwirklicht. Im Jahr 1641 war Thomas Hobbes aus Furcht vor einer drohenden politischen Verfolgung aus England nach Paris geflohen. Dort las er die frühen Reiseberichte und ethnographischen Beschreibungen aus Amerika wie Jean Lérys Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil (1578), die von den Tupi-Indianern in Brasilien handelte. Diese frühen ethnographischen Berichte arbeitete Hobbes in seiner Theorie von Staat und Bürgerkrieg aus (vgl. Helbling 2009). Die »wilden Völker verschiedener Gebiete Amerikas«, schrieb er im Leviathan, würden außerhalb der Familie »keine Regierung« besitzen (zit. bei Münkler 2013: 175). Somit sei ein Krieg aller gegen alle ihr Schicksal. Damit war eine Theorie des Bürgerkriegs begründet, die für die damalige Zeit und angesichts des Umstands, dass Hobbes ja unmittelbar den großen, konfessionellen Bürgerkrieg in England und dessen Schrecken erlebt hatte, in einem erstaunlich hohen Anteil auf der Betrachtung des amazonischen Regenwalds und der dort ansässigen Gemeinschaften und Kulturen beruhte.
Nun ist es angesichts des damaligen Kenntnisstands der Ethnographie (eine Wissenschaft davon gab es ohnehin noch nicht) nicht weiter verwunderlich, dass Thomas Hobbes in seinen Betrachtungen freilich einem Irrtum aufsaß. Denn die Gewaltbeziehungen, in denen die Regenwaldindianer einander begegneten, hatten wenig mit einem Bürgerkrieg zu tun. Ja, tatsächlich stellten sie eher dessen Gegenteil dar. Und schicksalhaft war die Gewalt für die Regenwaldindianer keineswegs, vielmehr war sie Teil wie Ausdruck einer festgefügten symbolischen Ordnung, in der sie lebten und an die sie glaubten. Schauen wir uns dazu den Krieg im Regenwald des Amazonas kurz an. An anderer Stelle, in meinem Buch über eine Ontologie der Gewalt, habe ich ausführlich dazu geschrieben (vgl. Riekenberg 2019), weshalb ich mich hier im Folgenden auf einige wenige Bemerkungen beschränken möchte
Die Ethnographie bezeichnet den Krieg im Regenwald als tribalen oder in ihren älteren Werken auch als primitiven Krieg (vgl. Divale 1973). Geführt wird er von einander verfeindeten Gemeinschaften oder Lokalgruppen, die sich auf dörflicher Ebene oder in Stammesform organisieren (vgl. Helbling 2006). Wir müssen, um diesen Krieg zu verstehen, uns zuerst vergegenwärtigen, dass die Kosmologie (im Sinn des Wissens von der Welt) der Regenwaldindianer eine gänzlich andere ist als die unsere. Denn die amazonischen Kulturen unterscheiden die Welt nicht in das, was wir in unserer technischen Zivilisation als »Natur« und »Kultur« bezeichnen. Stattdessen ist es in ihrem Denken und Empfinden eine große Verwandtschaft, die die Welt durchzieht und alle Wesen eint. Menschen, Tiere, gar Pflanzen, sie alle besitzen ein gemeinsames Inneres, sie sind wesensgleiche Geschöpfe. So bilden in kognitiver wie auch in emotionaler Hinsicht die Symmetrie und die Balance die Prinzipien, in denen die tribale Welt existiert (vgl. Descola 2011: 23 f., 38 f.). Die Wissenschaft bezeichnet dieses Denken und Fühlen der Regenwaldindianer als Animismus, als Glauben an die beseelte Natur.
Es bedarf wohl nicht weiter der Ausführung, dass eine solche Denkweise beziehungsweise ein derartiges Weltverständnis auch das Verständnis von Krieg und Gewalt und in der Folge deren tatsächlichen Austrag verändern. Denn im Denken und Empfinden der Regenwaldindianer darf auch die Gewalttat das große Einverständnis, das der Ordnung der Welt unterliegt, nicht beschädigen. Es geht darum, noch im Töten des Anderen »den dünnen Faden zu bewahren«, der alle Wesen verbindet, schreibt der französische Anthropologe und »Amazoniker«1 Philippe Descola (2011: 122). Der Unterschied zum Bürgerkrieg ist offenkundig. Die Gewalt im Regenwald ist zwar nicht als Tat selbst, jedoch in ihrer symbolischen Bedeutung eine integrative Kraft, während dagegen dem Bürgerkrieg das Zerstörerische anhaftet. Sie verweist auf eine Ordnung der Welt, der sie entstammt und die sie zu erhalten hat. Insoweit aber ist die Gewalttat der Regenwaldindianer weniger ein Akt der Kommunikation zwischen Menschen, wie es im Bürgerkrieg der Fall ist. Im Regenwald kommunizieren die Menschen im Krieg vielmehr mit einem symbolischen System, nicht in erster Linie mit ihrem Feind und Gegenüber.
Romantisieren müssen wir diese uns fremde Gewaltwelt deshalb nicht. Schließlich ist der tribale Krieg durchaus gewaltintensiv, mag er auch dem Prinzip der Symbiose verpflichtet sein. Er kann mit der totalen Vernichtung der einen Gemeinschaft oder Lokalgruppe durch eine andere einhergehen (vgl. Helbling 2006). Dies aber soll an dieser Stelle dahingestellt sein. Hier, für den Gegenstand dieses Buches, interessiert etwas Anderes: die strukturelle Funktion, die der tribale Krieg für den Bestand der amazonischen Gemeinschaften besitzt. Denn symmetrisch geordnet, richtet sich dieser Krieg gegen alle Hierarchie und Hegemonie, so auch gegen den Staat. Mit Blick auf die Balance ihrer Welt, die sie erhalten wollen, ist den Regenwaldindianern der Staat (über den wir ja sprechen müssen, wenn wir vom Bürgerkrieg reden) ein feindliches Wesen. Der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro (2012), auch...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte |
Schlagworte | archipelische Kriege • archipelischer Krieg • Caudillismus • Caudillo • Geschichte • Geschichte des Bürgerkriegs in Lateinamerika • Gewalt • Iberoamerikanische Geschichte • Imperialismus • Kolonialgeschichte • Lateinamerika • Lateinamerikanische Geschichte • Militärgeschichte • Mittelamerika • Nationalstaat • Paramilitarismus • Paramilitärs • Politische Philosophie • Politische Theorie • rackets • Rechtsphilosophie • Revolution • Südamerika • Theorie des Bürgerkriegs |
ISBN-10 | 3-593-45668-0 / 3593456680 |
ISBN-13 | 978-3-593-45668-3 / 9783593456683 |
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