Stoizismus für Eilige (eBook)
174 Seiten
FinanzBuch Verlag
978-3-98609-558-1 (ISBN)
Brad Inwood lehrt antike Philosophie an der Yale University, wohin er 2015 nach vielen Jahren an der University of Toronto wechselte. Er wurde in Ontario an der Brock University und der University of Toronto ausgebildet und profitierte von einem einjährigen Forschungsaufenthalt in Cambridge und einem Postdoc-Stipendium in Stanford sowie von Forschungsstipendien am National Humanities Centre und am Centre for Advanced Study in the Behavioural Sciences. Der Großteil seiner Forschung ist dem Stoizismus gewidmet, aber er hat sich auch mit dem vorsokratischen Empedokles und anderen Bereichen der antiken griechischen und römischen Philosophie beschäftigt.
Brad Inwood lehrt antike Philosophie an der Yale University, wohin er 2015 nach vielen Jahren an der University of Toronto wechselte. Er wurde in Ontario an der Brock University und der University of Toronto ausgebildet und profitierte von einem einjährigen Forschungsaufenthalt in Cambridge und einem Postdoc-Stipendium in Stanford sowie von Forschungsstipendien am National Humanities Centre und am Centre for Advanced Study in the Behavioural Sciences. Der Großteil seiner Forschung ist dem Stoizismus gewidmet, aber er hat sich auch mit dem vorsokratischen Empedokles und anderen Bereichen der antiken griechischen und römischen Philosophie beschäftigt.
Kapitel 2
Die Stoiker aus heutiger Sicht: Epiktet, Mark Aurel und Seneca
Für die Leser unserer Zeit bilden Epiktet und Mark Aurel die Grundlage für das Verständnis des Stoizismus. Aus der Perspektive eines Historikers betrachtet, sind sie jedoch kaum typische Vertreter der Schule. Der Kaiser war kein Berufsphilosoph und vertritt manchmal Ansichten, die im Widerspruch zu dem stehen, was wir aus anderen Quellen über die Stoa wissen. Einige Gelehrte stellen sogar infrage, ob man ihn überhaupt als Stoiker bezeichnen kann; schließlich schreibt er auch Philosophen anderer Schulen zu, sein Denken inspiriert zu haben, und spricht sogar in der dritten Person von den Stoikern (in Bezug auf die Stoiker nutzt er das Pronomen »sie«, nicht »wir«).
Epiktet war zweifellos ein professioneller Stoiker – er leitete eine Schule, in der er über die Werke des Chrysipp dozierte und seine Schüler lehrte, wie man einige der großen Stoiker früherer Generationen interpretiert. Aber sein intellektueller Kontext war weit entfernt von dem der Philosophen, welche die Schule gründeten und ihre Lehren entwickelten; er wirkte Jahrhunderte später und erhielt seine intellektuelle Ausbildung als Sklave und später Freigelassener in Rom, beeinflusst unter anderem von Musonius Rufus. Der römische Kaiserhof war vermutlich kein sonderlich ausgeprägtes philosophisches Umfeld (Epiktets Lehrmeister war einer von Neros hohen Beamten, der Grieche Epaphroditos), und in späteren Jahren wurde Epiktet von einem anderen Kaiser aus Rom vertrieben und gründete seine eigene philosophische Schule in Nikopolis, einer Stadt, die von Italien aus gesehen jenseits der Adria lag, auf dem Weg nach Griechenland und in den Osten. Rom mochte zwar im 1. Jahrhundert n. Chr. zu einem Zentrum philosophischer Aktivitäten geworden sein, auf Nikopolis traf dies jedoch nicht zu.
Es ist schwer vorstellbar, wie sich diese eigenartige berufliche Laufbahn auf seine Philosophie auswirkte, aber sie könnte sich kaum stärker von dem hochgradig philosophischen und professionellen Umfeld im hellenistischen Athen unterscheiden, wo die Gründer und frühen Oberhäupter der Schule in enger Nähe zu den führenden Gelehrten anderer Schulen debattierten, forschten und lehrten. Es ist also kein Wunder, dass sich so viele von Epiktets Reden an fachliche Laien, an Nichtphilosophen richten. Auch nicht, dass er selbst keine Abhandlungen schrieb, weder fachwissenschaftliche noch populäre. Die von ihm heute noch erhaltenen Reden sind vielmehr Aufzeichnungen seiner mündlichen Lehrveranstaltungen, die von einem seiner treuen Schüler, Arrian von Nikomedien in Bithynien, einem römischen Bürger und Politiker (Konsul 132 n. Chr., Senator, Provinzstatthalter) sowie angesehenen Intellektuellen, in griechischer Sprache niedergeschrieben und veröffentlicht wurden.
Dem ersten Anschein nach sind dies also keine Quellen, denen wir uns idealerweise zuwenden sollten, wenn wir den antiken Stoizismus verstehen wollen. Wir Menschen der heutigen Zeit greifen aus zwei Gründen nach ihnen, die beide leicht nachzuvollziehen sind. Erstens sind sie, abgesehen von Seneca (zu dem ich später mehr sagen werde), die frühesten, ja fast die einzigen vollständigen Werke, die wir von den antiken Stoikern besitzen. Selbst wenn wir mit den Werken der Gründer der Stoa, Zenon von Kition und Chrysipp von Soloi, beginnen wollten, könnten wir das gar nicht; sie sind alle verloren gegangen. Zweitens sind sowohl Epiktet als auch Mark Aurel atypisch in ihrer Art zu schreiben und in der Auswahl der Zielgruppe, die sie ansprechen wollten – atypisch in einer Weise, die sie vielleicht zu effektiveren Autoren macht, aber nicht unbedingt zu den besten Vertretern der traditionellen Lehren der Schule. Bei Epiktet ist dies leicht zu erkennen: Die Reden sind eine Aufzeichnung der Vorlesungen, die er vor Laien und angehenden Philosophen hielt und nicht vor Menschen, deren Ziel es gewesen wäre, die Feinheiten von Zenons Kosmologie, Chrysipps Metaphysik oder Poseidonios’ Lehre von der Substanz und Kausalität zu durchdringen. Und Mark Aurel versetzt sich oft in die Lage, in der sich auch viele von uns befinden. Wenn wir auch keine Philosophen sind, so können wir uns doch ebenfalls der Philosophie als Quelle für neue Sichtweisen, Reflexion und Orientierung zuwenden. Sein Buch ist eine Art philosophisches Tagebuch, sehr persönlich und eigensinnig. Mark Aurel hält oft einen gewissen Abstand zur stoischen Philosophie, wie viele von uns auch.
Doch wie kam es eigentlich dazu, dass die Werke von Epiktet und Mark Aurel mehr oder weniger unversehrt erhalten geblieben sind und unser Verständnis des Stoizismus so stark geprägt haben? Diese Geschichte besteht aus zwei Teilen. Der Teil, der uns am meisten darüber verrät, wo wir heute stehen, ist ein Stück moderne Geistesgeschichte, nämlich ein Bericht darüber, wie Epiktet und Mark Aurel (zusammen mit Seneca) in der Renaissance entdeckt – beziehungsweise wiederentdeckt – und ihre Werke in ganz Europa gedruckt, verbreitet, übersetzt und der breiten Masse bekannt gemacht wurden. Es ist eine Geschichte, die mit der heutigen Fülle von Übersetzungen im Taschenbuchformat der Werke beider Autoren, deren Aufnahme in die Auswahl bedeutender Weltliteratur und ihrem immensen globalen Einfluss endet. In dieser Geschichte erscheinen Epiktet und Mark Aurel als beinahe gleichwertig, wie zwei einander sehr ähnliche Lichtgestalten einer antiken Denkschule, die gerade eben so unterschiedlich sind, dass sie unterschiedliche Charaktertypen mit vergleichbarer Energie anziehen. Der erste Teil der Geschichte ist jedoch anders; er zeigt auf, wie die Werke dieser Autoren die Spätantike und das Mittelalter hinreichend sicher und intakt überdauerten, sodass sie später verfügbar waren, um die neuen Denker der Renaissance zu inspirieren und so zu einem einflussreichen Teil der modernen Welt zu werden.
In dieser Hinsicht könnten die Schicksale von Epiktet und Mark Aurel nicht unterschiedlicher sein. Epiktet war bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. zu einer bedeutenden Figur geworden; viele eiferten ihm nach und er beeinflusste die Großen und Mächtigen der römischen Gesellschaft – nicht zuletzt den Kaiser Mark Aurel selbst. In späteren Jahrhunderten übernahmen die Platonisten, die unangefochtenen Sieger im Kampf um das Überleben der heidnischen Philosophie in der Spätantike, sein Gedankengut, sodass sein Einfluss in den kommenden Jahrhunderten gesichert war. Mark Aurel jedoch erlitt ein ganz anderes Schicksal. Sein persönliches Notizbuch – oder philosophisches Tagebuch – scheint jahrhundertelang unbekannt oder unbeachtet geblieben zu sein, sodass es fast nicht überdauert hätte; vielleicht nur, wie Pierre Hadot vermutet, weil seine Familie es sicher aufbewahrte. Schließlich wurde es – mehr oder weniger zufällig – von einem hochrangigen Mitglied der mittelalterlichen orthodoxen Kirche wiederentdeckt, sodass das Überleben des Buches erst vom 10. Jahrhundert n. Chr. an gesichert war. Von da an ist die Geschichte seines Fortbestehens und seines weiteren Einflusses ein wenig einfacher. Ada Palmer zufolge stammt die erste bekannte neuzeitliche Erwähnung des Werks von Mark Aurel aus dem Jahr 1517; doch erst im 17. Jahrhundert nahm Mark Aurels Buch seinen Platz neben den Werken von Epiktet und Seneca ein, wurde zu einem wichtigen Teil der modernen Geistesgeschichte und prägte unsere Vorstellung vom antiken Stoizismus entscheidend. Die erste griechische Ausgabe von Mark Aurel wurde 1559 veröffentlicht, mehr als hundert Jahre nachdem Epiktets Werk in lateinischer Übersetzung erschienen war.
Die Tatsache, dass Epiktet und Mark Aurel einen überproportionalen Einfluss auf das populäre Verständnis des Stoizismus ausgeübt haben, hat viel damit zu tun, dass sie sich stark auf ethische Themen konzentrierten. In der Spätantike und im Mittelalter, und damit auch in der frühen Neuzeit, wurden die Physik und die Metaphysik von den beiden Giganten des antiken Denkens, Platon und Aristoteles, dominiert. Die antiken Werke der Stoiker zur Physik verschwanden im Mittelalter größtenteils, ihr Inhalt überdauerte nur sehr indirekt, indem er in die Synthese des späteren Platonismus einging und von den Kommentatoren der Werke des Aristoteles herangezogen wurde. Als die platonisch-aristotelische Synthese des Mittelalters durch die Wiederbelebung der empirischen Wissenschaft in der frühen Neuzeit entscheidend in die Ecke gedrängt wurde, konnte von den antiken Theorien eher der Atomismus als der Stoizismus (der viel mit der platonischen und aristotelischen Physik gemeinsam hatte, wie wir später sehen werden) als Inspiration für einen alternativen Ansatz dienen. Der Stoizismus spielte also in der Ethik und bis zu einem gewissen Grad auch in der sozialen und politischen Theorie eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des neuzeitlichen Denkens. Ein wichtiger Faktor dabei ist, dass die drei bedeutendsten stoischen Autoren (Seneca, Epiktet und Mark Aurel) in der Zeit tätig waren, die für die frühe christliche Kirche grundlegend war. (Tatsächlich hielt sich die Legende von Senecas Briefwechsel mit dem heiligen Paulus bemerkenswert lange bis in die Neuzeit, bevor sie schließlich von Erasmus als falsch entlarvt wurde.) Aufgrund einiger Merkmale ihres ethischen Denkens diente der Stoizismus den frühen christlichen Denkern in ihren Debatten als Gegenbild, während andere Merkmale, wie die Lehre von den Affekten und der moralischen Schwäche, zu einer – nicht immer anerkannten – Inspiration für asketische Versionen des christlichen Glaubens wurden. Als sich der Schwerpunkt der christlichen Geschichtsschreibung und Kirchenlehre auf griechische Quellen verlagerte, die in der Tat die wichtigsten für die Entwicklung der frühen Kirche waren,...
Erscheint lt. Verlag | 15.9.2024 |
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Übersetzer | Kerstin Brömer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | Antike • Epiktet • Gelassenheit • Glück • glückliches Leben • Innerer Frieden • Marc Aurel • Philosophie • Resilienz • Seneca • Stoa • Stoiker • Stoizismus • stress abbauen • Zufriedenheit |
ISBN-10 | 3-98609-558-6 / 3986095586 |
ISBN-13 | 978-3-98609-558-1 / 9783986095581 |
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