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»Es musste etwas besser werden …« (eBook)

Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos | Der perfekte Einstieg in den Habermas-Kosmos
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
253 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78057-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Es musste etwas besser werden …« - Jürgen Habermas
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In diesem Buch gibt Jürgen Habermas Auskunft - über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Lauf der Jahrzehnte erfuhr. Er erzählt vom Entstehungsprozess seines Werks, von wegweisenden Lektüren und prägenden kollegialen Begegnungen. So entsteht das Bild eines reichen Beziehungsgeflechts, das sich über große Teile der intellektuellen Landkarte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart erstreckt.

Im Rückblick auf zahlreiche Stationen seines Denkwegs spricht Habermas unter anderem über seine generationsspezifische Ausgangssituation, über Schlüsselerlebnisse mit seinen akademischen Lehrern, über zeitgeschichtliche Tendenzen und politische Überzeugungen sowie die eigenen wissenschaftlichen Arbeiten und deren Rezeption. An sein jüngstes Großwerk Auch eine Geschichte der Philosophie anschließend, werden außerdem zentrale Begriffe und argumentative Strategien aus dem Habermas-Kosmos aufgerufen und kritisch verhandelt. Und immer wieder wird deutlich, worum es diesem Philosophen im Grundsatz geht: um »die Begründung des Quäntchens Vernunftvertrauen und der Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft«.



<p>Jürgen Habermas wurde am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren. Von 1949 bis 1954 studierte er in Göttingen, Zürich und Bonn die Fächer Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. Er lehrte unter anderem an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main sowie der University of California in Berkeley und war Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Jürgen Habermas erhielt zahlreiche Ehrendoktorwürden und Preise, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2001) und den Kyoto-Preis (2004).</p>

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Herr Habermas, Sie haben einmal gesagt, man müsse im Leben etwas tun, worein man seine Grundintentionen legen kann. Was sind Ihre Grundintentionen und inwiefern waren sie leitend für Ihre Theorieentwicklung und Ihren beruflichen Werdegang? Konkret gefragt: Was hat Sie bewogen, sich 1949 in Göttingen für ein Studium der Philosophie einzuschreiben?

Meine Generation konnte 1949 auf das Ende des Zweiten Weltkrieges als eine historisch umwälzende Zäsur zurückblicken. Bei Studienbeginn hatten wir vier Jahre lang Zeit gehabt, um uns im Rückblick die Tiefe dieses Einschnittes der NS-Herrschaft bewusstzumachen und uns über das klar zu werden, was hinter der Alltagsnormalität gesteckt hatte, in der wir damals aufgewachsen waren und gelebt hatten. Das fiel uns leichter als vielen der Älteren. Denn ohne eigenes Verdienst waren wir in unserem Alter empfindlich genug, um die Abgründigkeit der scheinhaften Normalität zu spüren, die hinter uns lag. Wir hatten ja keine eigenen Handlungen, keine Unterlassungen zu verantworten – Erinnerungen an Situationen schuldhafter Verstrickung, die sich gegen jene Einsicht hätten sperren können. Das hat Helmut Kohl mit der 10»Gnade der späten Geburt« getroffen. Schon die nur wenig Älteren hatten andere Erfahrungen zu verarbeiten. In dieser Hinsicht habe ich, nebenbei bemerkt, die Jahrgangsdifferenzen zwischen den am Historikerstreit beteiligten Parteien immer für aufschlussreich gehalten. Inmitten eines durch und durch fragwürdig gewordenen nationalen Milieus haben sich dem Orientierungs- und Aufklärungsbedürfnis, dem Wissenwollen der jüngeren Jahrgänge keine psychologischen Hindernisse in den Weg gelegt. Es war eine intuitive Einsicht, die den kritischen Teil unserer Jahrgänge von der zementierten Mentalität rings um uns herum getrennt hat: Die Nazis waren kein Fremdkörper im Gewebe einer »im Kern gesunden« Kultur gewesen – kein Spuk, der glücklicherweise nun vorbei war. Vielmehr hatten sie sich aus jenem dunkelsten Erbe unserer Kultur bedienen können, das selbst große Geister der Nation wie Thomas Mann zu Beginn des Ersten Weltkrieges gegen den »Geist von 1789« mobilisiert hatten. Nur das konnte die Ansteckungskraft der Nazis bis in die Luftschutzkeller hinein erklären. In den Zeitschriften und der Literatur der frühen Nachkriegsjahre bis zur Währungsreform gab es ja noch Impulse, sich über den Zivilisationsbruch, der damals noch nicht so genannt wurde, Rechenschaft abzulegen. Deshalb hat sich mir damals ein Philosophiestudium gewissermaßen von selbst aufgedrängt. Dazu gehörten dann freilich auch ein Familienhintergrund, der das fördern konnte, und ein Vater, der das gerne bezahlen wollte.

Die Wahl des Studienfaches sollte man aber nicht zu hoch hängen, auch wenn man bei der Entscheidung für 11das Philosophiestudium keinen bestimmten Beruf, und damals ganz sicher nicht den des Professors, vor Augen haben konnte, sondern nur die Befriedigung eines Interesses. 1949 studierten fünf Prozent eines Jahrgangs, heute sind es fünfzig. Das Studium ließ einem mehr Freiheiten als heute. Man studierte nicht einfach ein Fach, sondern eher Gegenstände und Themen, über die man im Rahmen der philosophischen Fakultät Näheres erfahren konnte. Und im Laufe eines solchen gewissermaßen selbst zusammengestellten Studiums suchte man sich dann – ohne je eine Zwischenprüfung abgelegt zu haben – die beiden für die Doktorprüfung erforderlichen Nebenfächer aus. Zum Studium der Philosophie war ich schon vor dem Abitur entschlossen.

Wie ist es zu diesem Entschluss gekommen? Uns interessiert, was Sie uns über Ihre damalige Lebenssituation und im Besonderen Ihren Weg zur Philosophie mitteilen können. Gab es da besonders prägende Erlebnisse? Denn als Jugendlicher wollten Sie Mediziner werden, oder?

Der ursprüngliche Wunsch, Arzt zu werden, überhaupt die intensivere Beschäftigung mit der Anatomie des Menschen und der Entschluss des zwölf Jahre alten Jungen zur Ausbildung als »Feldscher« im sogenannten Jungvolk, alles das hing doch wohl eher mit der pubertären Beunruhigung durch die Problematik meiner Gaumenspalte zusammen, deren ich mir plötzlich bewusst geworden war. Bis dahin hatte ich mit meinem Freund Jupp Dörr eine eher geschützte Kindheit und Jugend – trotz einiger bedrü12ckender Erlebnisse auf dem Schulhof – mehr oder weniger naiv ausgelebt. Jene medizinischen Interessen haben sich allerdings nach dem Ende des Krieges ins Theoretische verschoben, auch unter dem Einfluss des Biologieunterrichts. Der Lehrer, der damals mein Interesse geweckt hat, war nach dem Krieg von einer Napola ‌(!) zu unserer Schule zurückgekehrt – er musste also ein Nazi gewesen sein. Aber er führte uns kenntnisreich und durchaus schon mit einem wissenschaftlichen, von offensichtlichen Konnotationen der »Rassenbiologie« inzwischen gereinigten Anspruch in die Genetik und in die Darwin'sche Evolutionstheorie ein. Mein Interesse hat sich dann freilich über die Biologie hinaus ins Anthropologische ausgeweitet. Mir fiel beispielsweise, das war nach der Währungsreform, ein Buch von Schultz-Hencke1 in die Hände, eine Art Lehrbuch der unter den Nazis angepassten Psychoanalyse; und während der letzten zwei Jahre auf dem Gymnasium durfte ich die Psyche abonnieren. Es waren also diese im weiteren Sinne anthropologischen Interessen, die sich in den Jahren vor dem Abitur mit der Lektüre von Kants und Herders Geschichtsphilosophie verbunden haben. Hinzu kam die – übrigens auch durch das Buch eines alten Nazis wie Otto Friedrich Bollnow vermittelte – Existenzphilosophie Sartres, der vor allem mit seinen Theaterstücken unsere ganze Generation in Atem gehalten hat, dann natürlich die marxistische Literatur aus der Kommunistischen Buchhandlung auf der Bahnhofstraße in Gummersbach und – gewissermaßen als Gegengift – der in Kreisen meines Vaters beliebte Ordoliberalismus von Walter Eucken und Wilhelm Röpke.

13Das alles habe ich in ungaren privaten »Aufsätzen« verarbeitet, mit denen ich unseren persönlich eindrucksvollen und von mir verehrten Lateinlehrer Klingholz, einen der wenigen Nichtnazis unter unseren Gummersbacher Lehrern, traktiert habe und dem ich damit gehörig auf die Nerven gegangen bin. Mein Onkel Peter Wingender, ein Studienrat, der auch Philosophie unterrichtete, sorgte mit Kants Prolegomena und anderen »seriösen« Lektüreempfehlungen dafür, dass sich der Wust an Aufregendem nicht im nur Interessanten verlepperte. Wenn man in einer solchen, intellektuell auf einen einstürmenden Welt lebte, bedurfte es, um Philosophie studieren zu wollen, keiner bewussten Entscheidung mehr, keiner »Grundintention«. Natürlich war mir das Riskante einer Existenz, die man mit einem solchen Fach wählte, bewusst. Dieses Gefühl materieller Unsicherheit hat mich lange begleitet. Ich bin mir auch, als ich dann wider Erwarten doch Professor werden konnte, meiner Fähigkeiten und Leistungen, ja meines Berufs keineswegs sicher gewesen. Erst während meiner letzten Frankfurter Zeit in den achtziger und neunziger Jahren stellte sich bei mir allmählich das Gefühl ein, meinen Beruf als Hochschullehrer und Wissenschaftler einigermaßen zu beherrschen.

Aber gab es denn nicht so etwas wie ein »innerliches« Motiv für Ihre Studienwahl? Ein Bedürfnis etwa, mit eigenen Wertorientierungen ins Reine zu kommen?

Das entspricht eher einem platonischen Selbstverständnis von Philosophie, das ich nie geteilt habe. Deshalb ha14be ich mich selbst auch immer im Verdacht gehabt, kein »richtiger« Philosoph zu sein, keiner, wenn Sie mir das Klischee gestatten, der von der Kontemplation der je eigenen Lebenssituation ausgeht und nach tiefen, metaphysisch gültigen Einsichten strebt. Ich habe meine Motive eher im Marxismus und im Pragmatismus wiedererkannt. Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohenden Regressionen aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung »Philosoph und Soziologe« ganz zufrieden.

Nur »Philosoph« wäre Ihnen suspekt?

Das war lange nur ein Gefühl. Nachdem ich aus dem engeren Kreis meiner Kollegen fast als Einziger übrig geblieben bin, denke ich manchmal darüber nach. Gewiss, niemand sonst hat sich so unverhohlen, wenn auch keineswegs...

Erscheint lt. Verlag 9.9.2024
Co-Autor Stefan Müller-Doohm, Roman Yos
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Schlagworte aktuelles Buch • Autobiographie • Bücher Neuererscheinung • Deutschland • Einführung • Frankfurter Schule • Gespräche • Großer Deutsch-Französischer Medienpreis 2018 • John-W.-Kluge-Preis 2015 • Kasseler Bürgerpreis »Das Glas der Vernunft« 2013 • Neuererscheinung • neues Buch • Philosophie • Philosophiegeschichte • Vernunftvertrauen • Westdeutschland BRD bis 1990
ISBN-10 3-518-78057-3 / 3518780573
ISBN-13 978-3-518-78057-2 / 9783518780572
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