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Das soziale Europa (eBook)

Europäische Sozialpolitik und nationale Wohlfahrtsstaaten, 1883-2020
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
354 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45872-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das soziale Europa -  Hartmut Kaelble
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Heute bestimmen auch die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof über die Sozialpolitik und damit über unsere sozialen Lebenslagen mit. Hartmut Kaelble stellt in diesem Buch deshalb das Entstehen einer eigenständigen Sozialpolitik der Europäischen Union mit ihren vor 1914 zurückgehenden Vorläufern in den Zusammenhang mit der Geschichte der nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa. Er verfolgt deren Glanzzeiten und Krisen, den grundlegenden Wandel des transnationalen Austausches und die Umbrüche in den Typen des Wohlfahrtsstaats, auch im Vergleich mit anderen Kontinenten. Dabei spannt er den Bogen von den Weichenstellungen in den 1880er Jahren über den ersten Aufschwung in den 1920er Jahren und die Krise der Demokratien während der 1930er Jahre bis hin zum außergewöhnlichen Aufbau des modernen nationalen Wohlfahrtsstaats in den 1950er bis 1970er Jahren und den Entscheidungen zwischen Abbau, Aufbau oder Umbau der europäischen Wohlfahrtsstaaten seit den 1980er Jahren.

Hartmut Kaelble ist emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Hartmut Kaelble ist emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

1.Die Anfänge des Wohlfahrtsstaats und der internationalen Sozialpolitik, 1880er Jahre bis 1914


Die Zeit zwischen den 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg gilt als die Gründungsepoche des Wohlfahrtsstaates in Europa. Aber war sie das wirklich? Begann der Wohlfahrtsstaat wirklich in allen Länder Europas oder in vielen Ländern doch erst später? Waren die Unterschiede zwischen den nationalen Sozialpolitiken in dieser Epoche nicht viel zu groß, als dass man von einer gemeinsamen Gründungsepoche sprechen kann? War in dieser Epoche der transnationale Austausch zwischen den Regierungen und Experten tatsächlich schon so eng, dass sie einen europäischen Charakter besaß? Entstand in dieser Gründungsepoche tatsächlich schon eine internationale Sozialpolitik in Europa, die ebenfalls zu einer europäischen Geschichte des Wohlfahrtsstaats gehört? Nur wenn in diesen vier für das Buch zentralen Aspekten der Wohlfahrtsstaat in vielen europäischen Ländern einsetzte, könnte man von einer europäischen Gründungsepoche sprechen.

Alle vier Aspekte werden in diesem Teil durchgegangen. Wir beginnen mit den Anfängen des Wohlfahrtsstaates. Wir folgen dabei dem soeben erwähnten, breiten Verständnis von Wohlfahrtsstaat.

1.1Die gemeinsame Gründungszeit des Wohlfahrtsstaats


Tatsächlich waren die Jahrzehnte vor 1914 eine wichtige Epoche der Reformen und des Wandels nicht nur der staatlichen Sozialversicherungen, sondern auch der Sozialhilfe, der Bildung und der Gesundheit. Wir gehen auf die staatlichen Sozialversicherungen, die in der Regel in das Zentrum gestellt werden, zuerst ausführlich ein, behandeln danach aber auch die anderen, damals umgeänderten Felder des Wohlfahrtsstaats, also Sozialhilfe, Arbeitsschutz und Tarifrecht, Bildung und Gesundheit.

1.1.1Staatliche Sozialversicherungen und Sozialhilfe


In fast allen europäischen Ländern wurden in den etwas über dreißig Jahren zwischen den 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg staatliche Sozialversicherungen eingerichtet. Sie waren damals der dynamischste Bereich des Wohlfahrtsstaats und werden deshalb ausführlich behandelt. Die Einrichtung der drei klassischen staatlichen Sozialversicherungen, der Unfallversicherung, der Krankenversicherung und der Altersversicherung, unter der Kanzlerschaft Bismarcks im Deutschen Reich und wenige Jahre danach ähnliche Reformen in der Habsburger-Monarchie waren wichtige internationale Signale in diese Richtung.

Andere Länder folgten. Um 1914 hatten in Europa fast alle Länder eine staatliche Berufsunfallversicherung eingeführt. Obligatorische Versicherungen wie in Deutschland waren in der Überzahl. Wichtige Länder wie Frankreich, Großbritannien, Belgien, Dänemark, Schweden und die Schweiz besaßen allerdings freiwillige, staatlich nur subventionierte Versicherungen.

Auch die teureren, staatlichen Krankenversicherungen entstanden in den meisten europäischen Ländern. Sie waren freilich nur in einer Minderheit der Länder, nämlich in Deutschland, in Großbritannien, in der Habsburger-Monarchie, in Norwegen und Luxemburg, obligatorisch, in den anderen Ländern freiwillig, zudem staatlich nur subventioniert.

Die ebenfalls teuren, staatlichen Altersversicherungen wurden bis 1914 immerhin in der überwiegenden Zahl der europäischen Länder eingeführt. Obligatorisch waren sie allerdings ebenfalls selten, und zwar nur in Deutschland, Schweden, den Niederlanden und Luxemburg. Sie waren überwiegend freiwillig und staatlich nur unterstützt.

Zu staatlichen Arbeitslosenversicherungen entschlossen sich die Regierungen dagegen vor 1914 nur selten. Lediglich drei Länder, Dänemark, Norwegen und Frankreich, führten sie auf freiwilliger Basis ein, nur ein Land, das Vereinigte Königreich, in obligatorischer Form (vgl. Tabelle 1, S. 314 f). Insgesamt verstärkte sich der Einfluss des Staates nicht nur über die obligatorischen Versicherungen. Auch die freiwilligen, staatlich nur subventionierten Versicherungen mussten in dieser Gründungszeit des Wohlfahrtsstaats mehr staatliche Regelungen akzeptieren.

Dabei standen die europäischen Regierungen vor drei Optionen: Eine erste Option war die obligatorische Sozialversicherung, über die vor allem einkommensschwache Arbeiter durch Zwangsbeiträge gezwungen wurden, sich abzusichern, während die gelernten Arbeiter mit stabileren Einkommen sich oft schon selbst versichert hatten. Mit diesen obligatorischen Sozialversicherungen wurde staatliche Kontrolle durchgesetzt, die allerdings durch formal unabhängige Sozialversicherungen und durch Vertretung und Mitverwaltung der Versicherten in der Sozialversicherungsbürokratie abgemildert werden konnte. Diese Versicherungen wurden in der Regel getrennt nach Sozialgruppen, nach Arbeitern, Landarbeitern und Angestellten eingerichtet, hatten also einen korporatistischen Charakter. Sie wurden meist überwiegend durch Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert, staffelten die Beiträge der Arbeitnehmer nach dem Einkommen und richteten sich auch in ihren Leistungen, besonders bei der Höhe von Renten, nach den Beitragszahlungen. Diese Option erlaubte dem Staat trotzdem, das durch die Beitragszahlungen angesammelte Kapital für andere Zwecke einzusetzen. Diese Option wird heute gerne als Bismarck-Modell bezeichnet und in einen Gegensatz zu dem erst 1943 entwickelten Beveridge-Modell gestellt, auf das wir in Teil 2 und Teil 3 zurückkommen.

Eine zweite Option war die freiwillige, staatlich subventionierte Sozialversicherung, die in der Regel Angehörige des gleichen Berufes oder der gleichen sozialen Gruppe zusammenbrachte. Auch sie besaß damit in der Regel einen korporatistischen Charakter. Allerdings baute sie auf vorhandene, von den Versicherten selbst organisierte Sozialversicherungen auf, subventionierte sie, unterwarf sie staatlichen Regelungen, beließ aber doch mehr Autonomie als die obligatorische Versicherung. Diese Option stützte die einkommensstärkeren Arbeiter oder Angestellten, die sich oft schon selbst organisiert hatten, und erfasste daher in der Regel nur einen kleineren Teil der Bevölkerung als die obligatorische Versicherung. Das bekannteste Beispiel waren die mutuel in Frankreich. Diese Option war eher vereinbar mit den politischen Prinzipien von liberalen Regierungen.

Eine dritte Option schließlich baute auf dem Versorgungsprinzip und nicht wie die beiden anderen Optionen auf dem Versicherungsprinzip auf (Ritter 1989, S. 90 ff.). Sie suchte vor allem die Bedürftigen und Armen eines Landes abzusichern, schuf dafür primär vom Staat finanzierte Hilfsprogramme, die wie die Armenpflege mit einer Bedürftigkeitsprüfung verbunden waren, allerdings ohne Verlust der Bürgerrechte. Diese dritte Option wurde vor 1914 in Großbritannien und in Dänemark gewählt. Sie organisierte nicht Berufsgruppen oder Sozialgruppen wie etwa Arbeiter oder Angestellte, sondern richtete sich an alle Bedürftigen unabhängig vom Beruf. Sie sicherte zwar nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ab, ließ sich aber später im Lauf des 20. Jahrhunderts eher zu einer Versicherung für alle Bürger des Landes erweitern. Sie führte zu viel staatlicher Kontrolle.

Die Gründungszeit des Wohlfahrtsstaats lässt sich allerdings nicht allein an der Gesetzgebung erkennen, deren praktische Auswirkungen sehr unterschiedlich waren. Die Sozialausgaben des Staates sagen sogar mehr aus über den Wert, den der Staat der sozialen Sicherung zumaß. In Relation setzen kann man die Wohlfahrtsstaatsausgaben entweder zu den gesamten staatlichen Ausgaben und sieht dann eher die Schwerpunkte der Regierungspolitik, oder zum Sozialprodukt, um dann eher die Leistung der Wirtschaft und der Einkommensempfänger zu erkennen. Beides soll im Folgenden verfolgt werden. Dabei soll zuerst auf die engeren staatlichen Ausgaben für die soziale Sicherung, also für die vier klassischen Sozialversicherungen ...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Schlagworte Arbeitgeber • Arbeitslosenversicherung • Deutschland • EU • Europa • Europäische Gemeinschaft • Europäische Integration • Europäische Kommission • Europäische Union • Europäische Wirtschaftsgemeinscha • Europa seit den 1880er Jahren • EWG • Geschichte • Geschichte der europäischen Sozialpolitik • Gewerkschaften • ILO • internationale Sozialpolitik • Krankenversicherung • Montanunion • Rentenversicherung • soziale Sicherung in Europa im 19. und 20. Jahrhundert • Sozialgeschichte • Sozialpolitik der Europäischen Union • Sozialstaat • Transnationale Geschichte • Typen des Wohlfahrtstaats • Unfallversicherung • Wirtschaftsgeschichte • Wohlfahrtsstaat
ISBN-10 3-593-45872-1 / 3593458721
ISBN-13 978-3-593-45872-4 / 9783593458724
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