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Natürliche Ziele (eBook)

Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
418 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12257-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Natürliche Ziele -  Robert Spaemann,  Reinhard Löw
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Ein philosophisches Plädoyer für einen ganz anderen Umgang mit der Natur Die neuzeitliche Naturwissenschaft beginnt mit dem Verzicht auf die Frage nach der Zielgerichtetheit natürlicher Prozesse. Naturbeherrschung setzt dann ein, wenn in natürliche Prozesse eingegriffen wird und dies auf Grund der Einsicht in kausalgesetzliche Bedingungszusammenhänge geschieht. Dem neuzeitlichen Typus von Wissenschaft entspricht diese Naturbeherrschung: »Eine Sache kennen, heißt wissen, was man mit ihr machen kann, wenn man sie hat«, schreibt Thomas Hobbes. Aber ist die Natur eine Sache? Kennen wir nicht einen ganz anderen Umgang mit der Natur? Primär ist Natur kein Herrschaftsobjekt, sondern unser Zuhause. Natürliche Lebewesen sind kein Verwertungsmaterial, sondern Mitgeschöpfen - sie selbst sind zeitlebens auf etwas aus. Überhaupt gehört die Sicht, dass die Natur zielgerichtet ist, zur Menschlichkeit des Menschen, und hat eine lange philosophische Geschichte. Die Kenntnis dieser Geschichte ist geeignet, szientistische Vorurteile zu zerstören und der natürlichen Naturbetrachtung ihr Gewissen zurückzugeben.

Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg. Von 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an den Universitäten in Stuttgart, Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde. Robert Spaemann hatte zahlreiche Gastprofessuren inne, erhielt mehrere Ehrendoktorwürden und war 2001 der Träger des Karl-Jaspers-Preises der Stadt und der Universität Heidelberg. Robert Spaemann, einer der führenden konservativen Philosophen im deutschsprachigen Raum, starb am 10. Dezember 2018.

Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg. Von 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an den Universitäten in Stuttgart, Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde. Robert Spaemann hatte zahlreiche Gastprofessuren inne, erhielt mehrere Ehrendoktorwürden und war 2001 der Träger des Karl-Jaspers-Preises der Stadt und der Universität Heidelberg. Robert Spaemann, einer der führenden konservativen Philosophen im deutschsprachigen Raum, starb am 10. Dezember 2018.

Einführung


»Die Betrachtung natürlicher Prozesse unter dem Aspekt ihrer Zielgerichtetheit ist steril, und wie eine gottgeweihte Jungfrau gebiert sie nichts«, hat Francis Bacon geschrieben, einer der Herolde jener »tapferen neuen Welt«, in der gottgeweihte Jungfrauen keinen Platz haben.[1] Die Frage, ob auf Dauer für Menschen darin Platz bleiben werde, wäre Bacon wohl ganz unverständlich gewesen. Nutzenmaximierung durch wissenschaftliche Naturbeherrschung schien ihm ein eindeutiges Ziel und wichtiger als der unbedingte Respekt vor den Wesen, um deren Nutzen allein es gehen kann. Dem Anwalt der Krone waren peinliches Verhör, Folter und Rechtsbeugung im Dienste des entstehenden Absolutismus ebenso legitim wie die Reduktion des Umgangs mit der Natur auf das peinliche Verhör.[2] Die Frage, wozu etwas gut sein muss, um gut zu sein, ist nicht nützlich. Aber wie wollen wir wissen, was nützlich ist, wenn wir diese Frage unbeantwortet lassen?

Dass etwas geschieht, weil es zu etwas gut ist, das ist offensichtlich dann der Fall, wenn wir selbst etwas aus diesem Grunde tun. Es ist die heute noch herrschende Ansicht, es sei nur dann der Fall. Die teleologische Betrachtung anderer Prozesse als menschlicher Handlungen sei aus naturwissenschaftlichen, logischen und sprachanalytischen Gründen unzulässig, weil prinzipiell teleologische in nicht-teleologische Theorien, teleologische in nicht-teleologische Sprechweisen überführbar seien. Dieser Ansicht soll im Folgenden widersprochen werden. Schon prima facie kommen dem, der die einschlägige Literatur liest, Zweifel. Der Zweifel richtet sich erstens auf die niemals diskutierte Beweislastverteilung. Gesetzt den Fall, es sei wahr, dass teleologische Rede sich prinzipiell in nicht-teleologische übersetzen ließe, so würde auch das Umgekehrte gelten. Es gibt jedoch ein stillschweigendes Einverständnis, dass die eine Sprache vor der anderen den Vorrang habe und dass nicht etwa die nicht-teleologische, sondern die teleologische Sprache im Falle ihrer Übersetzbarkeit eliminiert werden oder doch auf den Status einer uneigentlichen Rede herabgesetzt werden müsse. Dabei wird unterstellt, dass der »Teleologe« etwas Sonderbares und Unwahrscheinliches behauptet, wenn er von einer prinzipiellen Ähnlichkeit menschlicher Handlungen mit anderen Arten des Geschehens ausgeht. Wo für diese Ähnlichkeit der Beweis nicht erbracht werden könne, müsse vielmehr die Unähnlichkeit als das »Normale« für bewiesen gelten. Wenn wir bedenken, dass Aristoteles den Anaxagoras als ersten »Nüchternen unter irre Redenden« bezeichnete, weil er gegenüber den ionischen Naturphilosophen finale Deutungen in die Natur eingeführt habe, dann hatte er offenbar einen anderen Begriff von Normalität und von dem, was im Zweifelsfalle der Begründung bedürftig sei und was nicht. Ohne über das »Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite« (Kant) zu sprechen, das heißt hinter diese Paradigmendifferenz zu schauen, ist das Teleologieproblem gar nicht entscheidbar. Es sei denn, es ist durch eine definitorische Immunisierungsstrategie im vorhinein entschieden. Dass dies häufig geschieht, ist der zweite Primafacie-Grund dafür, an der angeblich definitiven Erledigung des Teleologieproblems zu zweifeln. Dass Zwecke »gesetzt« werden, dass solche Setzung nur durch einen bewussten Willen geschehen kann, dass als solcher zwecksetzender Wille nur der menschliche Wille infrage komme, all das wird in der Regel erst einmal als selbstverständlich vorausgesetzt, um dann in umständlichen Verfahren zu zeigen, dass so verstandene Zwecke in der außermenschlichen Natur nicht »vorkommen«.[3] Eine andere Immunisierungsstrategie besteht darin, dass man einen Begriff von Erklärung einführt – zum Beispiel das sogenannte Hempel-Oppenheim-Schema –, der auf eine deterministische Abhängigkeit bestimmter Ereignisse von Antecedensbedingungen abhebt. Natürlich folgt daraus, dass der Begriff einer »teleologischen Erklärung« aus empirischen und logischen Gründen zu verwerfen ist.[4] Aber was ist mit einer so trivialen Einsicht gewonnen?

Aufgabe der Philosophie ist nach einem Worte Hegels »Erkenntnis dessen, was in Wahrheit ist«. Im Unterschied zu Disziplinen, die sich mit spezielleren Interessen der Wirklichkeit nähern, kann Philosophie nicht das Raster von Nominaldefinitionen an die Wirklichkeit herantragen. Sie würde dabei zwar bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen erhalten, aber sie wüsste nicht, ob sie die richtigen Fragen gestellt hat. Was sind richtige Fragen? Was sind richtige Fragen, wenn wir Menschen »kennenlernen« wollen? Wir können viele Aspekte an sie herantragen, Aspekte der Haar- und der Hautfarbe, der Tierkreiszeichen oder des Intelligenzquotienten. Wir können ihre Handlungsweisen statistisch untersuchen, wir können einen Selbstmordversuch in Relation setzen zu statistischen Selbstmordraten in bestimmten Jahreszeiten – sie sind bekanntlich im Sommer höher als im Winter – oder zu dem Land, in dem der Mensch lebt.

»Was in Wahrheit ist«, erfahren wir freilich nur, wenn wir mit dem Menschen selbst sprechen. Was er selbst denkt, meint, fühlt und will, erfahren wir nur, wenn wir, ehe wir über ihn sprechen, mit ihm gesprochen haben. Mit ihm sprechen heißt nicht nur: ihn Fragen beantworten lassen, die wir ihm stellen. Das kann genügen, wo uns ein spezifisches Erkenntnisinteresse leitet, wo wir z. B. die Eignung als Filialleiter oder Pilot testen wollen. Wo es uns darum geht, ihn »als ihn selbst kennenzulernen«, müssen wir unsere Interviewbogen zur Seite tun und uns in Umgang und Gespräch einlassen, in welchem nicht wir allein mehr »Herr des Verfahrens« sind.

Gibt es ein analoges »Kennenlernen der Natur«? Wir können, so scheint es, nicht mit der Natur reden, sondern nur über sie. Und wenn wir schon die Analogie des Sprechens verwenden wollen, so scheint doch eher Kant mit dem Bild des Richters recht zu haben, der die Zeugen im Zeugenstand verhört, oder Goethe, der sagt, dass wir die Natur auf die Folter spannen, um Aussagen zu erpressen, ungeachtet dessen, dass die so Erpresste vielleicht von sich aus ganz anderes mitzuteilen hätte.[5]

Genau dies ist das Problem der Teleologie. Die These, die am Vorabend der neuzeitlichen Wissenschaft steht, besagt, dass solches Reden in bezug auf die Natur nutzlos, empirisch unausweisbar und sinnlos ist.[6] Diese These beendete die fast zwei Jahrtausende währende Vorherrschaft der aristotelischen Ansicht, dass wir die Natur nur erkennen können, wenn wir sie aus sich selbst heraus zu verstehen versuchen. Warum kommt es zu dieser Wende?

Die Philosophie als das Bemühen, die Wirklichkeit zur Sprache zu bringen, muss zunächst an solche Fragen ohne nominal-definitorische Vorentscheidungen herantreten.

Die Frage »Warum?«


Eine der ersten und bleibenden Fragen, mit denen wir uns in der Welt bewegen, ist die Frage nach dem Warum eines Ereignisses. Die Antwort: »um … zu« ist eine von mehreren möglichen Antworten. Wenn man sich diese Antwort prinzipiell versagt, so besteht die Möglichkeit, dass man selbst durch alle anderen Antworten nicht das erfährt, was man eigentlich wissen wollte. Aber warum fragen wir »warum«? Was wollen wir eigentlich wissen, wenn wir so fragen? Die Frage entsteht immer dann, wenn ein normaler Ablauf unterbrochen wird. Ihr Ziel ist die Wiederherstellung des normalen Ganges. Ohne den Begriff der Normalität lässt sich gar nicht verstehen, wann und warum man »warum« fragt. Es kommt ja keinem in den Sinn, in bezug auf Alles und Jedes »warum« zu fragen. Wir fragen genau dann »warum«, wenn etwas geschieht, was wir nicht als normal betrachten, bzw. was wir nicht erwartet haben.

Wenn jemand mittags zum Essen geht, fragen wir nicht: »Warum gehst du essen?«, denn wir unterstellen, dass man mittags hungrig wird und zum Essen geht. Wenn er nicht zum Essen geht, dann fragen wir ihn vielleicht am Abend danach, das heißt wir fragen nicht nur nach nicht-normalen Ereignissen, sondern auch nach Nicht-Ereignissen, die dann zu Ereignissen werden, wenn wir an ihrer Stelle normalerweise ein anderes Ereignis erwartet hätten.

Hinter der Warum-Frage steht der Versuch, Neues in Bekanntes zu integrieren.Freilich könnte man das Neue auch auf sich beruhen lassen. Doch normalerweise tun wir das nicht,[7] sondern versuchen, es so mit dem Gewohnten und Bekannten zu vermitteln, dass es zu einem Bestandteil der uns vertrauten Welt wird.

Somit lassen sich zwei Voraussetzungen für die Warum-Frage angeben:

  1. Ein Zustand der Vertrautheit mit der Welt muss vorausgesetzt werden, für welchen eine Antwort als Antwort erscheinen kann. Wenn jemand von einem fremden Stern auf die Erde käme und ihm alles, was hier geschähe, gänzlich unvertraut wäre, dann hätte die Warum-Frage überhaupt keinen Sinn, weil jede Antwort genauso unverständlich wäre wie das Ereignis, auf das sich die Frage bezog.

  2. Dieser Zustand der Vertrautheit muss gestört sein, denn eine vollständig vertraute Welt würde ebenfalls keine Warum-Frage aufkommen lassen.

Als Basis für jedes intakte Weltverhältnis haben Psychologen das »Urvertrauen« des Kindes bezeichnet.[8] Dieses Vertrauen bildet sich in einem allmählichen Aneignungsprozess. Vertraut sind zunächst Brust und Stimme der Mutter. Dann...

Erscheint lt. Verlag 13.7.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Eingriff in die Natur(prozesse) • Entwicklung der Naturwissenschaft • Ethik • Kausalität und Kausalgesetz • Moderne und neuzeitliche Naturwissenschaft • Natur als anthropologische Heimat vs. Natur als Herrschaftsobjekt • Naturbeherrschung • Ökologie • Ökologisches Naturverständnis • Philosophie • Rehabilitierung der Teleologie
ISBN-10 3-608-12257-5 / 3608122575
ISBN-13 978-3-608-12257-2 / 9783608122572
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