Zwischen zwei Welten (eBook)
160 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-23732-3 (ISBN)
Kapitel 1
»Weißt du, Hannah, jedes Mal, wenn ich in einem Zug sitze, fühle ich mich, als ob ich zwischen zwei Welten schwebe«, begann John. Seine Stimme war weich, fast nachdenklich. »Es ist, als wäre das Hier und Jetzt nur eine Pause zwischen dem Vergangenen und dem, was noch kommen mag. Glaubst du, das ist ein wenig wie das Leben selbst?«
Ich lehnte mich leicht lächelnd an die Fensterscheibe des Zuges. »Das ist ziemlich poetisch, John«, antwortete ich, während ich einen Moment darüber nachdachte. »Aber ja, ich verstehe, was du meinst. Für mich fühlt es sich an wie eine Flucht. Eine Flucht vor meinen Gedanken, meinen Ängsten... eine Chance, vielleicht endlich etwas Klarheit zu finden.«
»Und was erhoffst du dir zu finden, Hannah?«
Ich blickte aus dem Fenster, beobachtete, wie ein Baum nach dem anderen in der Ferne verschwand. »Ich weiß es nicht genau. Vielleicht einen Frieden? Oder Antworten darauf, warum ich immer das Gefühl habe, dass ich mich selbst nicht wirklich erreiche. Warum alles in meinem Kopf so kompliziert sein muss.«
Der Zug durchquerte einen Tunnel, und plötzlich waren wir in völlige Dunkelheit gehüllt. Ich schloss meine Augen, und für einen kurzen, kostbaren Moment stand die Zeit still. Erschöpfung durchdrang mich, ein Gewicht, schwer wie die Last zweier Leben: eines voller äußerlicher Erfolge, das andere innerlich in Trümmern. »Wann habe ich aufgehört, meiner eigenen Stimme zu lauschen? Wann habe ich aufgehört, wirklich ich zu sein?«, fragte ich mich. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Jedes Lächeln, das ich in den letzten Jahren geteilt hatte, schien nichts weiter als eine Maske. Jedes „Mir geht es gut“ lag schwer auf meiner Schulter. Die Erinnerungen an die scheinbare Perfektion meines Lebens fühlte sich jetzt fremd an. War das alles, was ich vom Leben erwartet hatte? War dies die Summe meiner Existenz? Ein Gefühl der Verzweiflung überwältigte mich. Es war, als würde das Leben einfach an mir vorbeiziehen, während ich regungslos im Zug saß. Als wir aus dem Tunnel herausfuhren, brach das Licht durch die Fenster, als wolle es die Dunkelheit vertreiben. Ich öffnete meine Augen und blickte in mein Spiegelbild im Fenster, überlagert von den vorbeiziehenden Bäumen und Feldern.
Plötzlich durchbrach die Stimme des Zugbegleiters die Stille. Sein Tonfall war ruhig und routiniert.
»Sehr geehrte Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir unsere nächste Station. Sollte dies Ihr Ziel sein, möchten wir Sie bitten, sich langsam auf das Aussteigen vorzubereiten. Bitte vergewissern Sie sich, dass Sie alle Ihre persönlichen Gegenstände mitnehmen. Wir danken Ihnen für das Reisen mit uns und wünschen Ihnen einen angenehmen Tag.«
Nachdem die Zugdurchsage verklungen war, richtete ich meinen Blick auf John. Seine Augen wirkten besorgt, und seine Beine wippten unruhig im Takt seiner Nervosität. Wiederholt griff er nach seinem Kaffeebecher, den er fest umklammerte, als suchte er darin Halt. Zögerlich führte er den Becher an die Lippen und trank hastig einige Schlucke. Der Becher zitterte leicht, als er ihn wieder auf das Klapptablett vor sich stellte. Die Anspannung in der Luft war fast greifbar. Ich spürte, dass er kurz davor stand, das heikle Thema anzusprechen.
»Hannah ... bist du wirklich sicher, dass du sie nicht mitnehmen möchtest? Wäre es nicht besser, wenn du ...«
»John, wir haben das bereits durchgesprochen, erinnerst du dich?«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich habe dir meine Gründe erklärt, warum ich mich entschieden habe, sie nicht mitzunehmen. Es ist ein wichtiger Schritt für mich.«
»Es ist nur so, du bist meine beste Freundin, und ich mache mir Sorgen um dich. Ich wünschte, ich könnte dich auf diesem Weg mehr unterstützen.«
»Du bist hier, John. Das bedeutet mehr, als du denkst«, erwiderte ich sanft, während ich ihm einen dankbaren Blick zuwarf. »Du begleitest mich sogar zum nächstgelegenen Bahnhof der Wanderung, und das weiß ich wirklich zu schätzen. Aber es gibt Dinge, die muss ich alleine durchstehen. Diese Reise ... ich muss sie alleine machen. Doch wir werden uns bald wiedersehen, versprochen.«
Wie lange ich tatsächlich fortbleiben werde, weiß ich noch nicht. Was ich jedoch sicher weiß, ist, dass ich eine Auszeit benötige. Eine Auszeit vom Lärm der Stadt, von den Menschen, ihren Stimmen und Verpflichtungen. Ich sehne mich nach der Stille, die nur die Natur bieten kann, nach einem Ort, an dem die Zeit anders fließt. Meine Wanderung führt mich in eine bergige Landschaft. Es ist ein Labyrinth aus verschiedenen Pfaden, die durch dichte Wälder führen. Vielleicht mag es nicht die klügste Entscheidung sein, sich ohne Erfahrung der Natur auszusetzen. Doch etwas in mir weiß, dass ich es schaffen muss. Immerhin habe ich es mein ganzes Leben lang irgendwie geschafft. Ich bin durch jede Dunkelheit, jede Schwierigkeit hindurchgegangen. Warum sollte ich also nicht auch diesmal durchkommen?
Während wir uns der Station näherten, wurde das allmähliche Bremsen des Zuges immer deutlicher. Die Räder quietschten leise gegen die Schienen, ein Klang, der das nahende Ende unserer Fahrt ankündigte.
»Danke, John. Bitte grüße deine Mama von mir«, sagte ich mit einem Lächeln. Langsam erhob ich mich von meinem Sitz und trat auf ihn zu. Dann umarmte ich ihn fest, als könnte ich damit all meine Dankbarkeit in diese eine Geste legen. »Und mach dir keine Sorgen, mir wird nichts passieren. Du kennst mich doch.«
John erwiderte die Umarmung, seine Hand strich mir beruhigend über den Rücken. »Das werde ich, Hannah. Pass gut auf dich auf und komm heil zurück.«
Ich nahm meinen schweren Wanderrucksack und verließ den Zug. Langsam näherte ich mich dem Fenster, hinter dem John saß. Unsere Blicke trafen sich in der Stille. Es war ein stummer Dialog aus Blicken, während der Zug wieder Fahrt aufnahm und langsam aus meinem Blickfeld rollte. Ich atmete tief ein, zog die Riemen meines Rucksacks straffer und setzte meine Schritte fort. Obwohl ein kleines Dorf direkt neben dem Bahnhof lag, verspürte ich keinen Drang, es zu erkunden. Die Vorstellung, jetzt durch belebte Straßen zu gehen oder mich in Gespräche zu verwickeln, war für mich keine Option. Ich wollte einfach nur alleine sein. Ich verließ den Bahnhof und folgte den Schildern, die den Weg zum Wanderpfad wiesen. Mit dem ersten Schritt auf dem Wanderweg fühlte ich, wie die Anspannung langsam aus meinen Schultern wich. Die Luft war frisch und mit jedem tiefen Atemzug schien ich etwas von der Last der Vergangenheit abzuschütteln.
Ich begann, die Schönheit der Natur um mich herum wirklich wahrzunehmen. Es war, als würde jeder Atemzug und jeder Blick in die Ferne mir helfen, mich von den Schatten alter Tage zu lösen. Ich ließ meine Gedanken schweifen. Sie glitten von den kleinen Freuden meines Alltags bis zu den Entscheidungen, die mich hierher geführt hatten. Unter diesen Gedanken waren auch jene über Beziehungen, sowohl die guten als auch die schlechten. Langsam näherte sich meine Erinnerung einer besonders prägenden Zeit: meiner Beziehung zu James. James war wie ein Rätsel, eingehüllt in das Versprechen einer Liebe, die tief und bedingungslos zu sein schien. Als wir uns trafen, zog mich sein Charisma sofort in seinen Bann. Er hatte diese seltene Gabe, jedem Moment eine magische Qualität zu verleihen. Unsere ersten Monate zusammen waren erfüllt von Lachen, tiefen Gesprächen bis spät in die Nacht und dem Gefühl, endlich angekommen zu sein. Doch mit der Zeit begann sich das Blatt zu wenden, so schleichend, dass ich es anfangs kaum bemerkte. James wahre Natur offenbarte sich in kleinen, zunächst unscheinbaren Momenten. Es waren die scharfen Bemerkungen, versteckt hinter einem Lächeln, die leisen Vorwürfe, die er als Scherze tarnte, die langsam aber sicher meine Selbstsicherheit untergruben. Seine Eifersucht, anfangs noch als Zeichen tiefer Liebe erklärt, wurde zur Fessel, die mich von Freunden und letztlich von mir selbst isolierte. Ich erinnere mich an einen Abend, der beispielhaft für den Beginn unseres Endes stand. Wir waren zu einer Party eingeladen, und ich hatte mich in ein neues Kleid gehüllt, in der Hoffnung, James damit eine Freude zu machen. Doch anstatt der erwarteten Komplimente erntete ich Kritik für mein Aussehen und die Wahl meines Kleides. James Worte, scharf wie Messer, trafen mich unvorbereitet und tief.
»Willst du etwa so die Blicke auf dich ziehen? Ist das der Eindruck, den du hinterlassen möchtest?« Seine Stimme war kalt, und in seinen Augen las ich eine Mischung aus Verachtung und Besitzanspruch, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Die folgenden Monate wurden schwerer. Jeder Versuch meinerseits, zu der Liebe zurückzufinden, die wir einst geteilt hatten, wurde von James mit Kälte und Distanz bestraft. Es gab Momente, in denen ich einen Blick auf den Mann erhaschen konnte, in den ich mich verliebt hatte. Doch diese Momente wurden immer seltener und waren wie Lichtblitze in einer immer länger werdenden Nacht. Die toxische Dynamik unserer Beziehung manifestierte sich nicht nur in verbalen Auseinandersetzungen, sondern auch in emotionaler Manipulation. James hatte eine Art, meine Worte und Gefühle so zu verdrehen, dass ich am Ende glaubte, schuld an unserem Unglück zu sein. Er stellte meine Erinnerungen infrage, ließ mich zweifeln an dem, was ich wusste, dass es wahr war. Dieses Gaslighting zerrüttete mein Selbstbild und ließ mich verloren und allein zurück, selbst in Momenten, in denen wir zusammen waren. Der Tiefpunkt unserer Beziehung wurde erreicht, als ich eines Tages allein in unserer gemeinsamen Wohnung saß und mir die Tragweite meiner Situation bewusst wurde. Ich erkannte, dass ich mich...
Erscheint lt. Verlag | 23.5.2024 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Erkenntnistheorie / Wissenschaftstheorie |
Schlagworte | Angst • Augen • Blick • Ende • Essen • finden • Frau • Freude • Gedanken • Geschichte • Gesicht • Glück • Hand • Herz • Jahre • Kopf • Licht • Liebe • Menschen • Moment • Neuen • oft • SOFORT • Tag • Tage • Tür • Wasser • Welt • Wissen • Zeit |
ISBN-10 | 3-384-23732-3 / 3384237323 |
ISBN-13 | 978-3-384-23732-3 / 9783384237323 |
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