Dieter Henrichs Theorie der Subjektivität (eBook)
131 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4603-5 (ISBN)
Holger Gutschmidt wirkt am Institut für Philosophie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag.
Vorwort
Dieter Henrich war einer der bedeutendsten deutschen Philosophen seit dem Zweiten Weltkrieg. Er hat in siebzig Jahren ein umfangreiches Werk von mehreren Dutzend Büchern und Hunderten von Aufsätzen und Abhandlungen geschaffen. Darüber hinaus ist eine ganze Reihe seiner Schüler selbst zu erfolgreichen Akademikern geworden. Bekannt war Henrich schon in den fünfziger und sechziger Jahren durch seine eindringlichen Analysen zur neuzeitlichen Philosophie, insbesondere im Zusammenhang mit der Erforschung von Kants Theorie des Erkenntnissubjekts und der damit verbundenen Metaphysik sowie (später) Hegels Theorie des Begriffs. Solche Forschungen haben ihm auch früh (1960) einen philosophischen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin eingebracht. Von 1965 an hat er dann als Professor in Heidelberg gewirkt, eine Zeit, in der er zentrale systematische Positionen zu einer modernen Subjektivitätstheorie ausarbeitete. Seit 1981 bis zu seiner Emeritierung 1994 ist er schließlich Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München gewesen und hat sich dort vor allem philosophiehistorischen und editorischen Arbeiten gewidmet. In dieser Zeit äußerte er sich auch verstärkt öffentlich zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen wie dem nuklearen Frieden, der deutschen Einheit oder der Situation an den Universitäten in Deutschland.
Einer seiner wissenschaftlichen Schwerpunkte – auch im Blick auf eine umfassende Theorie des Menschen und seines Weltbezuges – ist die bereits genannte systematische Theorie des Subjekts. Sie hat er in ständigem Dialog mit Konzeptionen der sog. »klassischen deutschen Philosophie« entwickelt, d. h. der deutschen Philosophie zwischen dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft und dem Tode Hegels, doch dazu auch früh eigene systematische Studien, die wichtige phänomenologische und sprachanalytische Einsichten aufgriffen, veröffentlicht. Bis in die letzten Jahre hat er in immer neuen Ansätzen und Weiterführungen an dieser Theorie gearbeitet. Von ihr aus haben sich nicht nur Neuinterpretationen der philosophischen Klassiker ergeben, sondern auch Überlegungen zur Ästhetik, zum philosophischen Menschenbild, zur Ethik und zur Lebenspraxis insgesamt. Selbst zum Verständnis bedeutender Dichterphilosophen, vor allem Friedrich Hölderlins, konnte Henrich aus dieser Perspektive einiges beitragen. Henrichs Theorie des Subjekts ist zwar besonders wirkungsmächtig in der Philosophie, wirkt aber auch in der Theologie, der Literaturwissenschaft, der Kulturtheorie und sogar der Psychiatrie.
Die folgende Einführung widmet sich diesem zentralen Aspekt seines philosophischen Werks, seiner Theorie des Selbstbewußtseins und der menschlichen Subjektivität. Ihr Hauptziel ist es, einen Leitfaden für das Verständnis und für die Auseinandersetzung mit dieser Theorie anzubieten. Sinnvoll ist ein solches Ziel deshalb, weil Henrich seine Überlegungen hierzu in verschiedenen Texten recht unterschiedlicher Art entwickelt hat, deren Erscheinen sich darüber hinaus über mehr als sechzig Jahre Veröffentlichungstätigkeit erstreckt. Hinzu kommt eine Besonderheit von Henrichs Arbeiten: Er argumentiert in ihnen fast immer von speziellen Fragen oder konkreten Problemstellungen aus, so daß seine theoretischen Ausgangspunkte in der Regel nur ausschnitthaft, in ihrer Relevanz für das jeweilige Thema, das er diskutiert, vorgetragen werden. Es gibt kein Werk aus Henrichs Feder, das seine Theorie der Subjektivität vollständig ausgearbeitet enthält, und nur wenige, in denen wenigstens die Grundzüge dieser Theorie vorgestellt werden. Auch ändert sich der Blickwinkel, mit dem Henrich auf seine eigene Theorie schaut, je nach Themenstellung, so daß kaum eine Darstellung einer anderen völlig entspricht. Dies betrifft teilweise sogar die von Henrich jeweils gebrauchte Terminologie.
Schließlich ist noch ein weiterer Gesichtspunkt zu beachten. Henrichs Auffassungen zum Fragenkomplex von Selbstbewußtsein und Subjektivität haben sich im Laufe der Jahre erheblich geändert. Das betrifft sowohl die Weise, wie Henrich Selbstbewußtsein analysiert, als auch die Zielrichtung des ganzen Projekts. Nicht allen Lesern von Henrichs Texten dürfte dies vor Augen stehen. Deshalb erschien es dem Verfasser sinnvoll, Henrichs Theorie in ihrer Entwicklung vorzustellen und es dem Leser so zu ermöglichen, die engeren Kontexte der Entstehung seiner Arbeiten zu berücksichtigen. Das bedeutet nicht, daß Henrichs frühere Texte als »veraltet« anzusehen wären. In fast allen seinen Texten zu diesem Themengebiet sind wichtige Einsichten und Argumente herausgearbeitet, die auch in späteren Theoriestufen Bedeutung besitzen oder unabhängig davon Beachtung verdienen. Doch Methodik und leitende Fragestellungen haben sich gewandelt, so daß sich nicht alle Positionen, die Henrich im Laufe der Zeit vertreten hat, miteinander harmonisieren lassen.
Die Theorie des Subjekts ist, wie gesagt, nur ein Aspekt von Henrichs Œuvre, und die vorliegende Arbeit strebt keine Einführung in sein ganzes philosophisches Werk an. Dazu hätte sie auch Henrichs kunst- und moralphilosophischen Arbeiten zu berücksichtigen gehabt, ferner seine hermeneutische Konzeption (insbesondere die Theorie der »Konstellationen«) sowie seine philosophiegeschichtlichen Studien im engeren Sinne (vor allem aus dem sogenannten »Jena-Programm«). Da die Subjektivitätstheorie jedoch den zentralen Aspekt von Henrichs philosophischem Werk darstellt, welcher auch für dessen übrige Teile große Bedeutung besitzt, ist zu hoffen, daß auch diejenigen Leser, die an jenen Themen besonderes Interesse nehmen, die vorliegende Arbeit mit Gewinn lesen werden. – Ebensowenig ist hier eine philosophische Biographie Henrichs angestrebt. Er selbst hat eine solche kurz vor seinem Tod (2021) in Gestalt eines Gesprächsbandes vorgelegt.1 Vielmehr versteht diese Arbeit sich vor allem als ein Werk der Orientierung, das es erlaubt, sich in Henrichs verzweigtem Gedankengebäude zurechtzufinden und es fruchtbar zu rezipieren. Dem dient schließlich auch der Versuch, die Darstellung auf der einen Seite so konzise, auf der anderen Seite so klar und faßlich wie möglich zu halten. Henrichs eigene Diktion ist zuweilen von bemerkenswerter Dichte (insbesondere in den frühen Arbeiten), kann aber auch in eine epische Breite und Unbestimmtheit münden. Da beides hier vermieden werden sollte, konzentriert sich diese Arbeit auf die Theorieentwicklung im engeren Sinn und erwähnt oder diskutiert andere Autoren nur ausnahmsweise. Eine umfassende Einordnung von Henrichs Theorien wie auch eine abschließende Bewertung sind derzeit, da ihr Urheber bis vor kurzem noch, obgleich schon hochbetagt, weiter daran gearbeitet hat, kaum möglich. Sie werden einer späteren Zeit vorbehalten sein.
Die Anregung zu dieser Studie erhielt der Verfasser vor Jahrzehnten, im Dezember 1997, durch einen Besuch Henrichs am Philosophischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen. Henrich nahm dort an einem der mehrtägigen Göttinger Philosophischen Kolloquien teil, die von Studenten organisiert wurden und zu denen sie jeweils bedeutende Gegenwartsphilosophen einluden, um mit ihnen über deren Werk zu diskutieren. 1997 war das Kolloquium Henrichs Arbeiten gewidmet. Es wurde von zwei ehemaligen Schülern Henrichs, Konrad Cramer und Jürgen Stolzenberg, betreut. Der Verfasser, der diesem Kolloquium beiwohnte, nutzte die Gelegenheit, sich in das schon zum damaligen Zeitpunkt umfangreiche Werk Henrichs einzuarbeiten. Doch da Dieter Henrich während der letzten 25 Jahre immer weiter daran gearbeitet und immer neue Texte dazu veröffentlicht hat, wurde das geplante Vorhaben wieder zur Seite gelegt. Erst eine Einladung zu dem im Juli 2020 am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) von Manfred Frank und Jan Kuneš organisierten Autorenkolloquium Dieter Henrichs Theorie(n) des Selbstbewusstseins im interdisziplinären Kontext, zu dem der Verfasser über Henrichs frühe Selbstbewußtseinstheorie vortrug, brachte ihm das Projekt erneut nahe.2 Dabei zeigte sich bei der Vorbereitung seines Beitrages, daß immer noch ein erheblicher Bedarf an einer solchen Einführung besteht. Ihre Ausarbeitung konnte aufgrund des vorhandenen Materials und des begrenzten Zwecks dann rasch erfolgen (v. a. im Sommer 2022). Einige Seiten des auf dem ZiF-Kolloquium vorgetragenen Textes »Die frühe Selbstbewusstseinstheorie Dieter Henrichs. Mit einem Ausblick auf die weitere Entwicklung« wurden dafür in leicht überarbeiteter und erweiterter Form aufgenommen (in den Abschnitten 2.1 und 2.2).3 Das Übrige ist original verfaßt.
Manfred Frank und Jan Kuneš hat der Verfasser an dieser Stelle für die Gelegenheit zum Vortrag noch einmal zu danken, letzterem darüber hinaus auch für die vielen Gespräche, die er und der Verfasser seit Jahren über Dieter Henrichs Werk führen. Ein Dank geht schließlich auch an Stefan Lang und Gerhard Preyer für...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2024 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Heidelberger Schule • Immanuel • Kant • Selbstbewußtseinstheorie • Subjektivität • Theorie der Person |
ISBN-10 | 3-7873-4603-1 / 3787346031 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4603-5 / 9783787346035 |
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