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Das innere Auge (eBook)

Neue Fallgeschichten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01044-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das innere Auge -  Oliver Sacks
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Neue Fallgeschichten vom großen Arzt und Geschichtenerzähler Oliver Sacks «Niemand schildert komplexe Krankheitsbilder und die individuellen Schicksale, die sich dahinter verbergen, anschaulicher als Oliver Sacks.» CICERO

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings - Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings – Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move». Hainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er hat u.a. Werke von Stephen Hawking, Steven Pinker, Jonathan Littell, Georges Simenon und Oliver Sacks übersetzt. 

Kapitel zwei Ins Leben zurückgerufen


Patricia war eine hochintelligente und tatkräftige Frau, die Künstler vertrat, eine Kunstgalerie auf Long Island betrieb und selbst aus Liebhaberei malte. Sie hatte drei Kinder großgezogen und führte auch weiterhin, fast sechzig, ein aktives und sogar, wie ihre Töchter sagten, «glamouröses» Leben, mit Entdeckungsreisen ins Village und häufigen Abendgesellschaften zu Hause – sie kochte gerne und hatte oft zwanzig Gäste zum Abendessen. Auch ihr Mann hatte viele Talente – er war Radiomoderator, ein ausgezeichneter Pianist, der gelegentlich in Nachtclubs spielte, und politisch aktiv. Beide führten ein außerordentlich geselliges Leben.

1989 starb Pats Mann plötzlich an einem Herzinfarkt. Pat selbst war im Jahr zuvor wegen eines Herzklappenfehlers am offenen Herzen operiert worden und musste Gerinnungshemmer nehmen. Das hatte ihr nichts ausgemacht, doch nach dem Tod ihres Mannes erschien sie – so eine ihrer Töchter – «wie betäubt, wurde sehr niedergeschlagen, nahm ab, fiel in der U-Bahn hin, hatte mehrere Autounfälle und stand plötzlich, als hätte sie sich verirrt, vor unserer Haustür in Manhattan». Pat war immer leichten Stimmungsschwankungen unterworfen gewesen («Sie war ein paar Tage lang deprimiert und blieb im Bett, dann sprang sie auf, plötzlich ganz anderer Stimmung, und eilte in die Stadt, um tausend verschiedene Dinge zu erledigen»), doch jetzt lastete eine ständige Melancholie auf ihr.

Als sie im Januar 1991 zwei Tage lang nicht ans Telefon ging, machten sich ihre Töchter große Sorgen und riefen eine Nachbarin an, die sich mit der Polizei Zutritt zu Pats Haus verschaffte und sie bewusstlos im Bett vorfand. Sie habe sich infolge einer schweren Gehirnblutung mindestens zwanzig Stunden lang im Koma befunden, wurde den Töchtern mitgeteilt. In ihrer linken Hirnhälfte, ihrer dominanten Hemisphäre, befinde sich ein riesiges Blutgerinnsel, und es sei nicht damit zu rechnen, dass sie überleben werde.

Als nach einer Woche im Krankenhaus keine Besserung eintrat, wurde Pat operiert – eine letzte Rettungsmaßnahme mit ungewissem Ausgang, wie man den Töchtern mitteilte.

Tatsächlich erschien die Situation nach Entfernung des Gerinnsels zunächst fatal. Pat «starrte vor sich hin … anscheinend ohne etwas zu sehen», sagte eine der Töchter. «Manchmal folgten ihre Augen mir, zumindest wirkte es so. Wir wussten nicht, was vor sich ging, ob sie noch bei uns war.» Neurologen sprechen in diesem Zusammenhang manchmal vom «Wachkoma» (dem persistierenden vegetativen Status oder PVS) – einem zombieartigen Zustand, in dem bestimmte primitive Reflexe zwar noch vorliegen, aber kein zusammenhängendes Bewusstsein oder Selbst mehr vorhanden ist. Solche Zustände können entsetzlich quälend sein, weil man oft das Gefühl hat, der Patient stünde unmittelbar vor dem Aufwachen, diese Zustände tatsächlich aber Monate oder Jahre dauern können. Doch in Pats Fall waren es nur zwei Wochen, und dann eines Tages, so erinnert sich ihre Tochter Lari, «hatte ich eine Diät-Cola in der Hand – die wollte sie. Ich sah, dass sie die Flasche fixierte. Ich fragte: ‹Möchtest du einen Schluck?› Sie nickte. Von da an wurde alles anders.»

Pat war jetzt bei Bewusstsein, erkannte ihre Töchter, wusste um ihren Zustand und ihre Umgebung. Sie hatte ihren Appetit, ihre Wünsche, ihre Persönlichkeit zurück, aber sie war rechtsseitig gelähmt und, schlimmer noch, sie konnte ihre Gedanken und Gefühle nicht mehr in Worte fassen; nur noch durch Blicke und Mimik, Zeigen und Gesten vermochte sie sich verständlich zu machen. Auch ihr Sprachverständnis war erheblich beeinträchtigt. Mit einem Wort, sie war aphasisch.

 

«Aphasie» bedeutet etymologisch «Sprachverlust» – also nicht das Sprechen geht verloren, sondern die Sprache selbst, ihr Ausdruck oder ihr Verständnis, ganz oder teilweise. (Folglich können auch Menschen mit angeborener Taubheit, die sich der Gebärdensprache bedienen, nach einer Hirnverletzung oder einem Schlaganfall unter Aphasie leiden, das heißt, sie können die Gebärdensprache nicht mehr verwenden oder verstehen: eine Gebärden-Aphasie, die der Aphasie sprechender Menschen in jeder Hinsicht entspricht.)

Es gibt viele verschiedene Formen der Aphasie, je nachdem, welche Regionen des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen sind, allerdings wird meist eine grundlegende Unterscheidung zwischen expressiver Aphasie (Broca-Aphasie) und rezeptiver Aphasie (Wernicke-Aphasie) getroffen – liegen beide Formen vor, spricht man von einer «globalen» Aphasie.

Aphasie ist keine Seltenheit; man schätzt, dass auf dreihundert Personen eine kommt, die unter dauerhafter Aphasie infolge einer Hirnschädigung leidet – sei es durch Schlaganfall, Kopfverletzung, Tumor oder degenerative Hirnerkrankung. Viele Menschen erholen sich aber ganz oder teilweise von einer Aphasie. (Es gibt auch vorübergehende Aphasieformen, die nur wenige Minuten dauern, etwa während eines Migräne- oder epileptischen Anfalls.)

Typisch für sehr leichte Formen der expressiven Aphasie ist die Schwierigkeit, Wörter zu finden, oder die Neigung, falsche Wörter ohne Rücksicht auf die Gesamtstruktur der Sätze zu verwenden. Das scheint besonders für Substantive, auch Eigennamen, zu gelten. Bei schwereren Formen der expressiven Aphasie ist der Betroffene nicht mehr in der Lage, grammatikalisch vollständige Sätze zu bilden, und muss sich mit kurzen, verarmten Äußerungen im «Telegrammstil» begnügen; bei sehr schweren Formen ist der Aphasiepatient nahezu stumm, wenn er auch noch zu gelegentlichen Ausbrüchen wie «Mist!» oder «Toll!» fähig bleibt. Manchmal beharrt ein Patient auf einem einzigen Wort oder Satz, den er bei jeder Gelegenheit äußert, was ihn ganz offenkundig frustriert. Ich hatte eine Patientin, die nach ihrem Schlaganfall nur noch «Danke, Mama» sagen konnte, und eine andere, eine Italienerin, deren einzige Äußerung in dem Satz «Tutta la verità, tutta la verità» bestand.

Nach Ansicht von Hughlings Jackson, der in den 1860er und 1870er Jahren als einer der Ersten die Aphasie erforschte, fehlte diesen Patienten die Fähigkeit sowohl zum «propositionalen» wie zum inneren Sprechen, sie können also keine «Aussagen» mehr machen, auch nicht sich selbst gegenüber. Er glaubte daher, bei Aphasie gehe die Fähigkeit zu abstraktem Denken verloren, weshalb er Aphasiker mit Hunden verglich.

In seinem ausgezeichneten Buch Injured Brains of Medical Minds zitiert Narinder Kapur viele autobiographische Berichte über Aphasie-Erkrankungen. Einer stammt von Scott Moss, einem Psychologen, der mit 43 Jahrenn einen Schlaganfall erlitt, aphasisch wurde und seine Erfahrungen später beschrieb, die sich weitgehend mit Hughlings Jacksons These vom Verlust des inneren Sprechens und begrifflichen Denkens deckten:

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich vollständig (global) aphasisch. Was andere zu mir sagten, konnte ich nur dann ungefähr verstehen, wenn langsam gesprochen wurde und es um sehr konkrete Handlungen ging … Die Fähigkeit, zu sprechen, zu lesen und zu schreiben, hatte ich gänzlich verloren. Während der ersten zwei Monate war mir sogar das Vermögen abhandengekommen, Wörter innerlich, das heißt in meinem Denken, zu verwenden … Sogar die Möglichkeit zu träumen war nicht mehr vorhanden. Acht bis neun Wochen lang lebte ich also in einem vollkommenen Vakuum selbsterzeugter Begriffe … Ich konnte mich nur mit der unmittelbaren Gegenwart befassen … Der Teil meiner selbst, der fehlte, war der intellektuelle Aspekt – die unverzichtbare Bedingung meiner Persönlichkeit –, die Elemente, die von entscheidender Bedeutung für die unverwechselbare Individualität sind … Lange Zeit betrachtete ich mich nur als halben Menschen.

Moss, der sowohl unter expressiver wie rezeptiver Aphasie litt, hatte auch die Fähigkeit zu lesen verloren. Wer nur expressive Aphasie hat, kann unter Umständen noch lesen und schreiben (vorausgesetzt, die Schreibhand ist von dem Schlaganfall nicht gelähmt).[4]

Ein anderer Bericht stammt von Jacques Lordat, einem bedeutenden französischen Physiologen des frühen 19. Jahrhunderts, der rund 60 Jahren vor Hughlings Jacksons Studien eine außergewöhnliche Beschreibung seiner eigenen schlaganfallbedingten Aphasie lieferte. Er machte ganz andere Erfahrungen als Moss:

Binnen 24 Stunden waren bis auf wenige Ausnahmen alle Wörter meinem Zugriff entzogen. Jene, welche mir blieben, erwiesen sich als nahezu nutzlos, da ich mich nicht mehr zu entsinnen vermochte, wie sie zur Mitteilung von Ideen anzuordnen seien … Ich sah mich außerstande, die Ideen anderer zu erfassen, denn ebenjene Amnesie, die mich am Sprechen hinderte, raubte mir auch das Vermögen, den Lauten, die ich vernahm, rasch genug ihren Sinn zu entnehmen … Innerlich empfand ich das Gleiche wie immer. Die geistige Isolierung, von der ich hier rede, meine Traurigkeit, meine Beschwernis und das Erscheinungsbild der Dummheit, das sie hervorrief, bewog viele zu der Annahme, meine intellektuellen Fähigkeiten seien geschwächt … Ich befasste mich in meinem Inneren mit meinem Lebenswerk und den geliebten Studien. Denken bereitete mir nicht die geringste Schwierigkeit … Mein Gedächtnis für Tatsachen, Prinzipien, Dogmen, abstrakte Ideen war so gut wie zu Zeiten unbeeinträchtigter Gesundheit … Ich musste erkennen, dass die inneren Prozesse des Geistes ohne Worte auskommen.

So...

Erscheint lt. Verlag 30.1.2024
Übersetzer Hainer Kober
Zusatzinfo Mit 6 s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Alexie • Aphasie • Fallgeschichten • Krankheit • Neurologie • Populärwissenschaftlich • Prosopagnosie • Psychiatrie • Psychologie
ISBN-10 3-644-01044-7 / 3644010447
ISBN-13 978-3-644-01044-4 / 9783644010444
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