Der gute Vorfahr (eBook)
368 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1018-6 (ISBN)
ROMAN KRZNARIC wuchs in Sydney und Hongkong auf und studierte an den Universitäten von Oxford, London und Essex, wo er in politischer Soziologie promovierte. Er ist ein bekannter TED-Talker und Mitglied des Club of Rome. Seine Bücher wurden in mehr als 25 Sprachen übersetzt.
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Wie wird man ein guter Vorfahr?
Wir sind die Erben von Geschenken aus der Vergangenheit Denken wir einmal daran, welch ungeheures Vermächtnis uns unsere Vorfahren hinterlassen haben: Sie säten in Mesopotamien vor 10.000 Jahren zum ersten Mal Samen aus, rodeten das Land, bauten Wasserstraßen und gründeten die Städte, in denen wir heute wohnen; sie machten wissenschaftliche Entdeckungen, siegten in politischen Konflikten und schufen die großen Kunstwerke, die an uns weitergegeben wurden. Nur selten halten wir inne und denken daran, wie sie unser Leben verändert haben. Ihre Namen sind größtenteils in Vergessenheit geraten, aber einer, an den man sich noch erinnert, ist der Mediziner und Forscher Jonas Salk.
Im Jahr 1955, nach fast zehn Jahren mühseliger Experimente, hatten Salk und sein Team den ersten wirksamen und ungefährlichen Impfstoff gegen Kinderlähmung entwickelt. Es war ein gewaltiger Durchbruch: An der Kinderlähmung, auch Poliomyelitis genannt, starben damals weltweit jedes Jahr mehr als eine halbe Million Menschen. Salk wurde sofort als Wunderheiler gefeiert. Aber Ruhm und Geld interessierten ihn nicht – er stellte für den Impfstoff nie einen Patentantrag. Vielmehr hatte er nur den Ehrgeiz, »der Menschheit eine gewisse Hilfe zu sein« und für zukünftige Generationen ein positives Erbe zu hinterlassen. Dass ihm das gelungen ist, steht außer Zweifel.
In späteren Jahren brachte Salk seine Lebensphilosophie in einer einzigen Frage zum Ausdruck: »Sind wir gute Vorfahren?«1 Wir haben viele Reichtümer aus der Vergangenheit geerbt, und deshalb, so seine Überzeugung, müssen wir sie auch an unsere Nachkommen weitergeben. Dazu – und um globale Krisen wie die Zerstörung der Natur durch die Menschen und die Bedrohung durch einen Atomkrieg zu vermeiden – brauchten wir nach seiner Ansicht einen radikalen Wandel in unserer Sichtweise für die Zeit. Wir müssen uns, so Salk, weitaus stärker auf langfristiges Denken und die Folgen unseres Handelns über unsere eigene Lebenszeit hinaus konzentrieren. Statt im Maßstab von Sekunden, Tagen und Monaten zu denken, sollten wir unseren zeitlichen Horizont erweitern und Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende in den Blick nehmen. Nur dann seien wir in der Lage, kommende Generationen wirklich zu respektieren und ihnen gerecht zu werden.
Salks Frage könnte sich als sein größter Beitrag zur Geschichte erweisen. In aktiverer Form – Wie können wir gute Vorfahren sein? – halte ich sie für die wichtigste Frage unserer Zeit, die auch Hoffnung für die Evolution der menschlichen Zivilisation macht. Die Aufgabe, sie zu beantworten, gab nicht nur die Anregung zu diesem Buch, sondern spukt auch überall auf seinen Seiten herum. Wir stehen vor der Frage, wie zukünftige Generationen uns beurteilen werden und ob das Erbe, das wir ihnen hinterlassen, ihnen nützt oder sie lähmt. Der alte biblische Anspruch, ein guter Samariter zu sein, reicht nicht mehr. Im 21. Jahrhundert ist es Zeit für eine Aktualisierung: Lasst uns gute Vorfahren sein.
Die Zukunft ist kolonisiert
Ein guter Vorfahre zu werden ist eine schwierige Aufgabe. Ob es uns gelingt, hängt vom Ausgang eines Konfliktes ab, der sich derzeit auf der ganzen Welt in den Köpfen der Menschen abspielt: des Konfliktes zwischen den Kräften des kurz- und langfristigen Denkens.
Welche Kraft in unserer historischen Epoche die Vorherrschaft hat, ist klar: Wir leben in einem Zeitalter der pathologischen Kurzfristigkeit. Politiker blicken kaum weiter als zur nächsten Wahl, zur neuesten Meinungsumfrage oder dem aktuellsten Tweet. Unternehmen sind Sklaven des nächsten Quartalsberichts und der ständigen Forderung, den Nutzen für die Aktionäre zu mehren. Märkte boomen und brechen plötzlich zusammen – Spekulationsblasen werden von Algorithmen im Millisekundentempo vorangetrieben. Staaten geraten an internationalen Konferenztischen aneinander und konzentrieren sich auf ihre unmittelbaren Interessen, während der Planet brennt und Arten verschwinden. In unserer Kultur der sofortigen Belohnung nehmen Fast Food, im Sekundentakt abgefeuerte Textnachrichten und »Jetzt-Kaufen«-Knöpfe überhand. »Es ist die große Ironie unserer Zeit«, schreibt die Anthropologin Mary Catherine Bateson, »dass wir immer länger leben und immer kürzer denken.«2 Wir sind gefangen in einem Zeitalter der Tyrannei des Jetzt.
Kurzfristiges Denken ist alles andere als ein neues Phänomen. Die Geschichte ist voller Beispiele dafür, von der erbarmungslosen Zerstörung der alten Wälder im Japan des 17. Jahrhunderts bis zu der außer Kontrolle geratenen Spekulation, die 1929 zum Crash an der Wall Street führte. Es ist auch nicht immer etwas Schlechtes: Genau wie Eltern, die ein verletztes Kind zügig ins Krankenhaus bringen müssen, so muss auch eine Regierung schnell und flexibel auf Krisen wie ein Erdbeben oder eine Epidemie reagieren. Betrachtet man aber die täglichen Nachrichten, so erkennt man in vielen Fällen ein schädliches kurzfristiges Denken.3 Regierungen bevorzugen die schnelle Lösung, mehr Verbrecher hinter Gitter zu bringen, statt sich mit den tiefergehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ursachen des Verbrechens auseinanderzusetzen. Oder sie subventionieren weiterhin die Kohleindustrie, statt den Übergang zu erneuerbaren Energien zu fördern. Oder sie retten nach einem Crash zahlungsunfähige Banken, statt dem Finanzsystem eine neue Struktur zu geben. Oder sie investieren nicht in vorbeugende Gesundheitsfürsorge, Kinderarmut und Sozialwohnungen. Oder, oder, oder … Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Aber die Gefahren des kurzfristigen Denkens gehen weit über solche politischen Bereiche hinaus und haben uns mittlerweile an einen kritischen Punkt gebracht. Das liegt zum einen an dem wachsenden Bewusstsein für sogenannte »existenzielle Risiken«: Damit sind in der Regel Ereignisse mit geringer Wahrscheinlichkeit und starken Auswirkungen gemeint, die durch neue technische Entwicklungen verursacht werden könnten. Ganz oben auf der Liste stehen dabei die Bedrohungen durch künstliche Intelligenz, beispielsweise in Gestalt tödlicher, selbsttätig agierender Waffen, die von ihren menschlichen Herstellern nicht mehr kontrolliert werden. Weitere Möglichkeiten sind unter anderem gentechnisch verursachte Pandemien oder ein Atomkrieg, der in einem Zeitalter wachsender geopolitischer Instabilität von einem Schurkenstaat angezettelt wird. Der Risikoforscher Nick Bostrom macht sich insbesondere große Sorgen über die Auswirkungen der molekularen Nanotechnologie und fürchtet, Terroristen könnten sich selbst vermehrende bakteriengroße Nanobots in die Hand bekommen, die außer Kontrolle geraten und die Atmosphäre vergiften. Angesichts solcher Bedrohungen sind viele Expertinnen für existenzielle Risiken überzeugt, dass die Menschheit mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu sechs dieses Jahrhundert nicht überstehen wird, ohne dass es zu einem katastrophalen Verlust von Menschenleben kommt.4
Genauso ernst zu nehmen ist die Möglichkeit, dass die Zivilisation durch die erbarmungslose Zerstörung der ökologischen Systeme zusammenbricht, von denen unser Wohlergehen – und unser Leben – abhängt. Wenn wir weiterhin gedankenlos fossile Brennstoffe aus der Erde pumpen, Ozeane vergiften und biologische Arten in einem Tempo zerstören, das sich zu einem »sechsten Aussterben« summiert, rückt die Aussicht auf verheerende Auswirkungen immer näher. In unserem ungeheuer vernetzten Zeitalter hat diese Gefahr heute weltweite Ausmaße: Wir haben keinen Planeten B, auf den wir flüchten könnten. Nach Angaben des Umwelthistorikers Jared Diamond stand eine solche ökologische Zerstörung in der Menschheitsgeschichte immer wieder am Anfang des Zusammenbruchs von Zivilisationen. Ihre wichtigste Ursache, so schreibt er, sei ein Übermaß an »kurzfristigen Reaktionen« in Verbindung mit dem Fehlen »couragierter, weitsichtiger Entscheidungen«.5 Wir sind gewarnt.
Solche Herausforderungen konfrontieren uns mit einem unausweichlichen Widerspruch: Die Notwendigkeit langfristigen Denkens ist eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit und erfordert sofortiges Handeln in der Gegenwart. »Wir stehen gerade jetzt vor einer von Menschen gemachten Katastrophe globalen Ausmaßes, vor unserer größten Bedrohung seit Jahrtausenden: dem Klimawandel«, sagte David Attenborough 2018 bei der UN-Klimakonferenz zu den politisch Verantwortlichen der Welt. »Wenn wir nicht handeln, stehen der Zusammenbruch unserer Zivilisation und das Aussterben eines großen Teils der Natur am Horizont.« Und weiter erklärte der Naturforscher: »Was jetzt und in den nächsten Jahren geschieht, wird tiefgreifende Auswirkungen auf die nächsten Jahrtausende haben.«6
Solche Aussagen sollten uns in höchste Alarmbereitschaft versetzen. Aber oftmals vermitteln sie nicht, wer die Folgen unserer vorübergehenden Kurzsichtigkeit tragen wird: nicht nur unsere eigenen Kinder und Enkel, sondern auch die Milliarden Menschen, die in den kommenden Jahrhunderten geboren werden und weitaus zahlreicher sind als alle, die heute leben.
Insbesondere für die Bewohner der wohlhabenden Staaten ist die Zeit gekommen, in der sie eine beunruhigende Wahrheit erkennen müssen: Wir haben die Zukunft kolonisiert. Wir behandeln sie wie ein fernes Land, in dem keine Menschen leben und in dem wir ökologische Zerstörung, technologische Risiken und Atommüll nach Belieben abkippen können, während wir sie gleichzeitig nach Belieben plündern. Im 18. und 19. Jahrhundert, als Australien von Großbritannien kolonisiert wurde, berief man sich auf eine juristische Lehre, die heute unter dem Namen terra...
Erscheint lt. Verlag | 16.4.2024 |
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Übersetzer | Sebastian Vogel |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Good Ancestor |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung | |
Geisteswissenschaften | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Der gute Mensch • Earth Day • Fridays For Future • Generation • Generationen • Geschichte der Nachhaltigkeit • Hoffnung • Klimakleber • Klimaschutz • Klimawandel • Krise • langfristiges denken • letzte Generation • Mindset • Nachhaltigkeit • Nachhaltigkeit in der Vergangenheit • Nachhaltigkes Leben lernen • nachhaltig leben • Tag der Erde • Zukunft |
ISBN-10 | 3-7558-1018-2 / 3755810182 |
ISBN-13 | 978-3-7558-1018-6 / 9783755810186 |
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