Die Evolution des Denkens (eBook)
384 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60729-2 (ISBN)
Michael Schmidt-Salomon, Dr. phil., geboren 1967, ist freischaffender Philosoph und Schriftsteller sowie Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Er ist häufiger Interviewpartner in Presse, Funk und Fernsehen. Zuletzt erschien sein Titel »Die Evolution des Denkens«.
Michael Schmidt-Salomon, Dr. phil., geboren 1967, ist freischaffender Philosoph und Schriftsteller sowie Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Er ist häufiger Interviewpartner in Presse, Funk und Fernsehen. Bei Piper erschienen von ihm »Jenseits von Gut und Böse«, »Leibniz war kein Butterkeks« (mit Lea Salomon), »Keine Macht den Doofen«, »Hoffnung Mensch«, »Die Grenzen der Toleranz« sowie zuletzt »Entspannt euch!«.
Einleitung
Ein Kopf denkt nie allein
Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Je größer die Menge an Informationen ist, die wir produzieren, desto schwieriger wird es, den Überblick zu behalten. Schon 2012 lag das Volumen des täglichen Datentransfers bei einer Milliarde Gigabyte, was etwa dem 2500-Fachen der Datenmenge aller Bücher entspricht, die jemals geschrieben wurden. Wie wollen wir angesichts dieser Flut an Informationen noch Bedeutsames von weniger Bedeutsamem unterscheiden, Sinn von Unsinn, Fakten von Fakes?
Früher bestand das Problem darin, an Informationen zu gelangen, heute müssen wir damit kämpfen, von ihnen nicht mitgerissen zu werden. Dies erklärt auch, warum einfach gestrickte Weltverschwörungsideologien so attraktiv geworden sind. Denn sie bieten einen großen Vorteil, nämlich Inseln der Sicherheit in einem Meer der Unübersichtlichkeit. Verschwörungsgläubige profitieren von dem schönen »faustischen« Gefühl, »den vollen Durchblick« zu haben und zu den wenigen »Auserwählten« zu gehören, die begreifen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Kein Wunder, dass sie alle Fakten und Argumente ausblenden, die das Kartenhaus ihres Weltbildes zum Einsturz bringen könnten.
Verschwörungsideologien beruhen auf einer unzulässigen Reduktion der Komplexität der Welt – das heißt allerdings nicht, dass die Reduktion von Komplexität an sich schon problematisch wäre, sie ist vielmehr lebensnotwendig: In jeder Sekunde filtert unser Gehirn aus den vielen Millionen Bits an Information, die auf uns einströmen, die Daten heraus, die für unsere Existenz von Bedeutung sind oder es sein könnten. Ohne diesen neuronalen Selektionsmechanismus würden wir völlig orientierungslos durch das Leben irren. Anders formuliert: Die Komplexität des menschlichen Gehirns ist erforderlich, um die Komplexität der Wirklichkeit auf eine handhabbare Größe herunterzurechnen. Erst auf dieser Basis kann unser Denkapparat als effektive »Vorhersagemaschine« dienen und dafür sorgen, dass wir uns in unserem Leben zurechtfinden.
Wir erkennen daran, dass die Selektion von Information ebenso wichtig ist wie die Konstruktion von Information. Doch anhand welcher Maßstäbe entscheiden wir sinnvollerweise, was relevant ist und was nicht? In der Regel stellen wir uns diese Frage nicht. Denn unser Gehirn beurteilt sämtliche Informationen, die es erhält, routinemäßig auf der Grundlage von angeborenen Programmen, die sich in der Evolution als erfolgreich erwiesen haben, sowie anhand der Erfahrungen, die wir in unserem eigenen Leben gemacht haben.
Diese einfache Routine ist hilfreich im Alltag, doch objektive Kriterien für die Relevanz von Informationen können wir von ihr nicht erwarten. Schließlich arbeitet unser Gehirn auf der Basis von subjektiven Erlebnissen, die in höchstem Maße davon abhängig sind, in welche Zeit, in welche Kultur, in welche Familie wir zufällig hineingeboren wurden. Aus diesem Grund halten wir genau das für bedeutsam, von dem wir im Rahmen unserer Sozialisation gelernt haben, dass es bedeutsam sei – was aber nicht heißt, dass es losgelöst von diesen Einflüssen tatsächlich bedeutsam ist.
Damit stellt sich die Frage, wie wir dieser »Subjektivitätsfalle« entgehen können. Wie also unterscheiden wir das, was wirklich relevant ist, von dem, was uns aufgrund unserer Prägungen bloß relevant erscheint? Oft greifen wir in solchen Fällen auf das Mittel der Quantifizierung zurück: Wir versuchen eine objektivere Perspektive zu entwickeln, indem wir unsere subjektiven Erfahrungen mit den Erfahrungen vieler anderer Menschen abgleichen. Doch hilft uns das hier weiter? Ist die Relevanz einer Information tatsächlich abhängig davon, wie viele Menschen sie als relevant erachten? Steht und fällt die Qualität von Texten, Bildern oder Klängen mit der Quantität des Interesses, das sie hervorrufen?
Ganz so einfach ist es wohl nicht, denn ansonsten müssten wir den »Baby Shark Dance« – die südkoreanische Version des Kinderliedes »Kleiner Hai« mit unglaublichen zwölf Milliarden Aufrufen bei YouTube (Stand Anfang 2022) – zum wichtigsten kulturellen Erzeugnis der Menschheit erklären und Cristiano Ronaldo (»den Influencer mit der größten Reichweite der Welt«) zur einflussreichsten Person des Planeten. Selbst seriösere Plattformen als YouTube, Facebook, Instagram & Co. helfen uns auf diesem Gebiet kaum weiter: So gibt es zu Donald Trump 230 Einträge in der internationalen Wikipedia, zur zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie hingegen nur 174 und zu Alfred Wegener, dem Entdecker der Kontinentalverschiebung, nur 73 – doch das macht Trump nicht notwendigerweise zu einer »bedeutenderen Persönlichkeit«.
Die größten Genies aller Zeiten?
Die Methode der Quantifizierung ist äußerst nützlich, um ein klareres Bild der Welt zu erhalten – allerdings gilt dies nur unter der Voraussetzung, dass die Forschungsfragen klug gestellt sind und die Datenlage einigermaßen klar ist. Ist dies nicht der Fall, hilft uns Statistik wenig weiter. Zu welch skurrilen Ergebnissen man kommt, wenn man versucht, die Bedeutung historischer Persönlichkeiten über Umfragen zu ermitteln, zeigten vor 20 Jahren zwei Fernsehsendungen, bei denen ich nicht wusste, ob ich lachen oder weinen sollte:
In der BBC-Sendung 100 Greatest Britons (2002) wählten die Zuschauerinnen und Zuschauer Winston Churchill und Lady Di auf Platz 1 und Platz 3 der »größten Briten aller Zeiten« – noch vor Charles Darwin, William Shakespeare und Isaac Newton (Plätze 4 bis 6). In der nach gleichem Strickmuster produzierten ZDF-Sendung Die größten Deutschen (2003) waren die Ergebnisse nicht weniger erstaunlich: Hier landeten Konrad Adenauer und Martin Luther auf den Plätzen 1 und 2. Karl Marx konnte (dank ostdeutscher Unterstützung) zwar einen respektablen 3. Platz erringen, Albert Einstein jedoch musste sich mit dem 10. Platz begnügen und konnte posthum noch »froh« sein, nicht von dem ehemaligen »Deutschland sucht den Superstar«-Kandidaten Daniel Küblböck (Platz 16 auf der Liste der »größten Deutschen«) übertrumpft zu werden.
Gibt es andere Möglichkeiten, die Personen zu bestimmen, die für die Menschheitsgeschichte besonders relevant waren beziehungsweise die es für uns Heutige noch immer sind? 2016 sorgte eine Liste der vermeintlich »größten Genies aller Zeiten« für internationale Schlagzeilen. Aufgestellt hatte sie der US-amerikanische Ingenieur Libb Thims, der sich dabei auf zwei zentrale Eigenschaften stützte, nämlich den Einfluss der jeweiligen Personen und ihres Werks auf die Welt sowie ihr gemessener beziehungsweise unterstellter Intelligenzquotient (IQ). In dieser »Top 40 der klügsten Köpfe der Geschichte« schaffte es Johann Wolfgang von Goethe auf Platz 1, Albert Einstein auf Platz 2 und Leonardo da Vinci auf Platz 3. Eigentümlicherweise jedoch tauchten in dem Ranking der »40 größten Genies« weder Charles Darwin noch Friedrich Nietzsche noch Karl Marx auf, wohl aber ein amerikanischer Gewichtheber, der als der »klügste Mann der USA« gilt, sowie ein Quizshow-Erfinder, der bei IQ-Tests herausragend abgeschnitten hatte.[1]
Wie nicht anders zu erwarten, führte Thims’ Top 40 zu heftigen Kontroversen. Bemängelt wurde unter anderem, dass die Liste insgesamt zu US-lastig sei und erst auf Platz 25, mit Marie Curie, eine Frau erschien. Fraglich war und ist auch der von Thims unterstellte Zusammenhang zwischen Genialität und Intelligenz. Zwar ist ein gewisses Maß an allgemeiner Intelligenz erforderlich, um auf irgendeinem Gebiet herausragende Leistungen zu erbringen, das heißt aber keineswegs, dass ein eindeutig proportionaler Zusammenhang zwischen IQ und Genialität bestehen würde, wie es der amerikanische Psychologe Lewis M. Terman (1877–1956), der Entwickler des berühmten »Stanford-Binet-Tests«, unterstellt hatte.
Von den über 1500 hochbegabten Kindern, die Terman in seiner Langzeitstudie ab 1928 untersuchte (alle hatten einen IQ über 135), waren viele zwar überdurchschnittlich erfolgreich, jedoch ging keines von ihnen durch herausragende (»geniale«) Leistungen in die Geschichte ein – im Unterschied zu zwei Kindern, die Terman wegen ihres (vermeintlich) zu geringen IQs (also unter 135 Punkten) aus der Studie ausgeschlossen hatte, nämlich die beiden Physik-Nobelpreisträger William...
Erscheint lt. Verlag | 29.2.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | 21. Jahrhundert • Albert Einstein • Alfred Wegener • Anthopozän • carl sagan • Charles Darwin • Denken • Denker • Denkerinnen • Die Grenzen der Toleranz • Entspannt euch! • Epikur • Evolution • Fake News • Friedrich Nietzsche • Geschichte • Hoffnung Mensch • Jenseits von Gut und Böse • Julian Huxley • Karl Popper • Keine Macht den Doofen • Kultur • Leibniz war kein Butterkeks • Marie Curie • Mensch • Menschheit • Moral • Philosphie • Vordenker • Vordenkerinnen • Weltbild • Wir haben die Wahl • Zukunft |
ISBN-10 | 3-492-60729-2 / 3492607292 |
ISBN-13 | 978-3-492-60729-2 / 9783492607292 |
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