Wäre da doch jemand, der mich hört! (eBook)
192 Seiten
Gütersloher Verlagshaus
978-3-641-29000-9 (ISBN)
Wo ist Gott, wenn es im Leben so richtig schlecht läuft? Als Seelsorger hat Thomas Weiß oft versucht, mit betroffenen Menschen Antworten auf diese Frage zu finden. Als ihn selbst die Not trifft und eine Krankheit sein Leben bedroht, wird ihm, was er gesagt und sich zurechtgelegt hat, schal. Gott rückt ihm fern. Findet er in seiner Angst noch Gehör bei dem, auf den er bisher vertraut hat? Er zweifelt, aber er will diesen Gott nicht loslassen.
Die Meditationen, Gedichte, kleinen Geschichten und Essays dieses Buches sind Zeugnisse dieses Ringens. Sie zeigen: In der Angst kann gerade der Zweifel an der Nähe Gottes die Art des Glaubens sein, die durch die Not hindurchträgt. Ein Buch, das den schweren Fragen des Lebens nicht ausweicht und gerade darum tröstet und hilft.
Thomas Weiß, geb. 1961, Studium der Evangelischen Theologie in Bielefeld und Heidelberg, danach Arbeit in Gemeinden Süd- und Nordbadens und als Erwachsenenbildner in Freiburg. Mitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik, Leipzig, Stipendiat und Mitglied des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg, Stuttgart. Bis April 2024 leitete er die evangelische Erwachsenenbildung in der Badischen Landeskirche (Landesstelle für Evangelische Erwachsenen- und Familienbildung, Karlsruhe). 2020 wurde er in das PEN-Zentrum Deutschland aufgenommen. Thomas Weiß lebt in Baden-Baden.
Und – fehlt er Ihnen?
Ich finde diese Frage nicht leicht zu beantworten. Natürlich fehlt mir einer, der mir die Welt erklären kann, der am Ende alles zum Guten wendet, auf den ich mich verlassen kann, wenn der Atem knapp wird und mir die Luft ausgeht. Es ließe sich leichter leben so. Wenngleich den Verlegenheiten, die das Leben bereithält – Michael Krüger spricht von der Sehnsucht nach Trost und von der Scham, überhaupt da zu sein –, nicht abgeholfen wird. Ob er da ist oder nicht. Gott federt das ab, macht es erträglicher, aber dass mein Leben unvollkommen, gebrochen, gezeichnet und gefährdet ist, daran ändert sein erhofftes, gefühltes oder postuliertes Dasein nichts. Es lässt sich nur leichter überspielen: Ich finde Worte dafür in alten Gebeten oder neuen Liedern. Mir tun sich Räume der Stille auf, in denen ich mich beruhigen kann. Ich habe einen, den ich anrufen oder anschreien kann, wenn mir nach Klagen und Rechten ist. Das ist nicht wenig. Doch ist es schon alles?
Fehlt er mir, weil ich es gerne erträglicher hätte? Damit meine schmerzliche Sehnsucht einen Ort hat, wohin sie sich wenden kann? Damit ich mir meine Fragen nicht alle selbst beantworten muss? Damit Antworten von einer Autorität kommen, die nicht ständig in Frage steht?
Anderen fehlt er, weiß das Gedicht. Zu denen gehöre ich wohl, auch wenn ich mir der Gründe meiner Mangelerfahrung nicht sicher bin. Es könnte sein, dass er mir fehlt, weil ich einen Gott brauche, weil ich – im Bild gesprochen – ohne die göttliche Krücke2 nicht gehen kann. Weil mir ein Gott sehr recht wäre. Einer, der mir dies und das abnimmt, für das ich zu kraftlos und mutlos – oder zu unmotiviert und faul – bin. Einer, der mich kennt und aushält. Ein Gott, der den Horizont weitet, so dass ich nicht allein auf die Weite meiner Erkenntnis (die nicht sehr weit ist) und die Grenzen meiner Angst (die eng sind) gewiesen bin. Ein Gott, der für eine Zukunft der Menschen und der Welt steht, an die zu glauben mir kaum noch möglich ist. Er braucht keinen besonderen Namen und keine Titel haben, keine besondere Persönlichkeit auch, dieser Gott. Wichtig ist, dass er mir aufhilft, dass er mir nützt. Solch einen Gott kann ich brauchen. Da bin ich gewiss nicht der oder die Einzige.
Max (natürlich hieß er nicht wirklich so) habe ich während meiner dritten Chemotherapie-Woche kennengelernt. Er lag neben mir, an deutlich mehr Messgeräten und Perfusoren angeschlossen als ich – er war schon da, als ich neu in das Dreibettzimmer kam. Oft habe ich nur seine Nasenspitze und seine Stirn gesehen, der schmale, kleine Mann lag meist in den Decken und Kissen verborgen. Aber wir sprachen ab und an miteinander, wie es der Mensch, der einem Leidensgenossen begegnet, eben tut, aus Höflichkeit und einem kleinen bisschen Neugierde – und um vielleicht etwas zu hören, eine Geschichte, eine Erfahrung, ein Detail, das Mut machen könnte. Max war vor seiner Erkrankung Fotograf, ich denke: ein guter, mit künstlerischem Anspruch. Als er erfuhr, dass ich Theologe sei, versicherte er sich, ob ich auch ein »echter« sei, ein Pfarrer nämlich – und richtete sich, als ich bejahte, im Bett etwas auf (was sehr, sehr mühevoll für ihn war und, wie es mir schien, mit Schmerzen verbunden), um mir zu sagen (leise, er sprach immer sehr leise): »Beneidenswert. Wie hilfreich muss das sein, einen Gott zu haben. Das macht’s doch irgendwie leichter, wenn du einen hast, zu dem du beten kannst.« Und nach ein paar Sekunden: »Ich kann nicht an Gott glauben – aber manchmal fehlt mir das.«
Wäre da doch jemand, der mich hört. Max konnte das – wie ich damals auch – nur als Wunsch, als Verlangen formulieren. Da fehlte etwas oder eine/r, der oder die nötig gewesen wäre. Viele, die dieses Buch lesen mögen, teilen diese Erfahrung – in bestimmten Zeiten, in Zeiten des Leids, wie es scheint: immer oder wenigstens oft, wenn es darauf ankommt, glänzt Gott durch Abwesenheit. Der Zweifel an ihm, ob es ihn gibt und wenn, ob er hilfreich sein kann oder will, liegt näher als der Glaube daran, dass er aufmerksam ist und die Hände regt.
Ich hatte für Max keine Antwort. Verstanden habe ich ihn wohl, aber zu diesem Zeitpunkt war Gott mir sehr, sehr fern, ich fühlte zwischen meinen eigenen Schmerzen und Ängsten nichts von ihm – und hätte mich doch gern festgehalten; an ihm oder sonst wem. Ich dachte: Ich brauche ihn, aber wenn ich ihn brauche, ist er nicht da, jedenfalls nicht spürbar. Was soll er mir dann? Vielleicht ist etwas falsch an der Idee, Gott würde gebraucht, Gott sei brauchbar? Nicht zu leugnen ist, dass Gott fehlte: Max ganz grundsätzlich, mir zumindest aktuell. Für die einen ist das eine Not, für die anderen nicht der Rede wert.
Manche … / haben ihn schon vergessen – das ist noch freundlich gesagt. Gewiss gibt es die Gleichgültigen, die sich ihren gemütlichen Gott zurechtgemalt haben und nun leben sie mit ihm, als gäbe es ihn nicht, so wie einer mit dem kleinen, nichtssagenden Gemälde in der Wohnzimmerecke lebt, mit den blassen Buchrücken im Bücherregal, die er täglich sieht, aber gar nicht mehr wahrnimmt vor lauter Gewöhnung. Und es gibt die Gottesverächter/innen3 – seit Friedrich Schleiermacher hervorragende Gesprächspartner und -partnerinnen der theologischen Zunft –, die sich beleidigt fühlen, wenn sie glauben sollen, dass es neben dem Menschen und neben den Menschen noch einen anderen gibt, der denkt und entscheidet und Rat weiß.
Beachtlich und vielleicht am größten aber ist, glaube ich, die Menge der von Gott Enttäuschten. Sie haben sich vertrauensvoll an ihn gewandt – und er hat geschwiegen. Sie haben gefleht, dies und das gelobt, zum Tausch für Hilfe angeboten – er hat nicht reagiert. Sie haben sich mit Gott die Welt erklärt, tiefschürfend und klug, aber sie sind daran gescheitert, dass er die Welt offensichtlich nicht gut genug gemacht hat, sie nicht heilt oder sie ungerührt zugrunde gehen lässt. Gegen alle Verheißungen, auf die sie immer wieder gesetzt haben.
Andere können mit einem Gott, der undemokratisch-königlich regiert, der ein gestreng-autoritärer Vater, ein willkürlicher Herr ist, der ein Opfer – den eigenen Sohn – nötig hat, um besänftigt zu werden, einfach nichts mehr anfangen. Sie haben Gottes Lächeln vergeblich gesucht, seine milde Hand vermisst, den Freund an der Seite nicht erlebt. Solch ein Gott lässt seine empathischen Anteile vermissen, in seiner Menschenebenbildlichkeit – es mag erlaubt sein, die Gottesebenbildlichkeit des Menschen auch in die andere Richtung zu denken – kennt er keine Diversität. Gott fehlt nicht nur, ihm fehlt auch mancherlei, das ihn oder sie mir zum Partner, zur Partnerin meines Lebens machen könnte. Auf Augenhöhe. Aber dazu schwebt oder hockt er viel zu weit oben – in den kirchlich-theologischen Sprachbildern jedenfalls, die für ihn gefunden wurden, wenn vom himmlischen Thron die Rede ist, vom Hirten, vom Allmächtigen.
Sie merken es: Ich rede gar nicht so sehr von Gott selbst als von den Gottesbildern, die Menschen – wir Menschen – uns von ihm gemacht haben und in denen wir täglich leben und sprechen, wenn wir für Gott noch Worte übrighaben, wenn er uns noch der Erwähnung wert ist.
»Von Gott selbst« kann ich gar nicht sprechen. Er ist – wenn er ist – immer weiter, tiefer, größer, kleiner, näher und ferner, als meine Worte ausdrücken können. Sie reichen nicht an ihn heran, sie ergründen ihn nicht, sie füllen ihn nicht aus, sie umschreiben ihn nicht. Menschenworte sind, wie Paulus einmal anmerkt, Stückwerk. Das macht sie nicht wertlos – sie sind das Einzige, was wir haben; und nun zähle ich die Sprache von Musik und Malerei, von Dichtung, Lied und Tanz zu den Menschenworten dazu. Es sind keine armseligen, es sind reiche, bunte, schöpferische Worte und Bilder, die wir benutzen. Aber sie sind eben immer nur dies: Menschenworte und Menschenbilder.
Aus vielen von ihnen, aus altvorderen und althergebrachten, auch aus neuen Versuchen, uns Gott auszumalen, zu erdichten und zu erglauben, hat Gott sich verabschiedet. Viele Gottesbilder sind unnütz geworden, haben sich nicht bewährt, benötigen frische Farben oder eine grundsätzliche Renovation. Von daher stimmt es: auch ohne ihn / haben wir viel zu tun. Wenn mir denn von Gott zu reden noch etwas bedeutet, wenn ich ihn für mich noch gelten lassen möchte.
Dieses Buch stellt sich der Aufgabe, »Wege durch Zeiten des Leids« zu versuchen, und – zu eben diesem Zweck – Gottesbilder schonungslos anzusehen und zu prüfen. Schonungslos vor allem dahingehend, dass ich den eigenen Bildern, die mir aus der kirchlichen Tradition und der eigenen Glaubenserfahrung bedeutsam und wichtig sind, nicht mit Nachsicht begegne, und dass ich Gott streng und erwartungsvoll befrage, der sich hinter manchem Wortgebilde und mancher frommen Formel verbirgt. Wer so fragt, nimmt sich aus Sicht der traditionellen Gottesrede Ungebührliches heraus, die oder der benimmt sich frech. Jenseits der Lust, mir das einmal zuzugestehen, lasse ich mir das als Ermahnung durchaus sagen: Nicht, was mir gut passt und einleuchtet, ist schon ein hilfreich-gültiges Gottesbild; wer immer Gott und die Bilder von ihm kritisiert, darf sich nicht selbst zum Maßstab nehmen – so verlockend das ist.
Zugleich kennt die Bibel selbst eine ihr innewohnende Gottesbild-Kritik4: Generell und unmissverständlich ausgesprochen im zweiten Gebot: »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen …« – und ins Persönliche gewendet in Psalm 27: »Mein Herz hält dir vor dein Wort: ›Ihr sollt mein Antlitz...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | 2024 • eBooks • Frage nach Gott • Gebet • Glaube • Gott • Gottesbeziehung • Gottesferne • Kirche • Leid • Neuerscheinung • Pen-Club • Theodizee • Trauer • Warum? |
ISBN-10 | 3-641-29000-7 / 3641290007 |
ISBN-13 | 978-3-641-29000-9 / 9783641290009 |
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